Justiz in Ruanda 2004

Karen Ullmann und Ulrike Donat Auf Einladung von Dieter Magsam - Hamburger Strafverteidiger, RAV-Mitglied und zurzeit "Chef de la Mission" des gtz-Projektes "Unterstützung beim Wiederaufbau der jurististischen Institutionen" in Kigali - reisten die Autorinnen im Juni 2004 für 2 ½ Wochen nach Ruanda. Sie besuchten Gedenkstätten des Völkermordes, Gacaca-Verfahren, lokale Hilfsorganisationen und führten Interviews mit Mitarbeiter/innen der gtz und anderer internationaler Organisationen. Themen dieser Gespräche waren die politische, juristische und gesellschaftliche Aufarbeitung des Völkermordes, die Rolle der Justiz, Stand und Möglichkeiten der Gacaca-Verfahren ebenso wie die aktuellen Fragen des Zugangs der Bevölkerung zu Recht und Justiz und der gegenwärtige Stand des Justizaufbaus unter besonderer Berücksichtigung der Stellung der Frauen.1 10 Jahre nach dem Genozid 1994 steht die Justiz in Ruanda vor schier unlösbaren Aufgaben. Ein Land mit ca. 8 Millionen Einwohnern, die Hälfte davon unter 15 Jahren, muss mit ca. 500.000 Tätern des Völkermordes fertig werden. Viele dieser Täter halten sich gegenwärtig im Ausland auf: allein im Kongo gibt es immer noch ca. 25.000 bewaffnete Völkermord-Milizionäre. Hochrechnungen aus der Auswertung der Gacaca-Pilotphase ergeben, dass ca. 50.000 Täter der ersten Kategorie (Planer und Anstifter der Massenmorde, besonders grausame Mörder und Massenvergewaltiger) von der staatlichen Ge-richtsbarkeit abgeurteilt werden müssen. Hier erwartet sie die Todesstrafe, die in Ruanda seit 1998 jedoch in Vorbereitung einer Amnestie nicht mehr vollstreckt wird. In dem Land mangelt es an allen erforderlichen Ressourcen. 90 % der Richter des Landes fielen dem Genozid zum Opfer oder sind geflohen, es gibt nur 120 Mitglieder der Anwaltskammer (alle mit Sitz in Kigali) und lediglich 206 Staatsanwälte. Es fehlten ausgebildetes Büropersonal, technische Ausstattung, Transportkapazitäten usw. Vor dem internationalen Gerichtshof in Arusha/Tansania, der die Internationale Gemeinschaft ca. 800 Millionen Dollar kostet, waren bzw. sind lediglich 56 führende TäterInnen angeklagt. Im vergangenen Jahr wurden ca. 30.000 mutmaßliche Täter vorläufig freigelassen, da sie bereits länger in Haft waren, als der voraussichtlich bei Strafmilderungen zu erwartenden Strafe entspricht. Weitere für den Frühsommer 2004 vorgesehene Massenentlassungen wurden verschoben, nachdem in der Provinz Gikongoro Anfang dieses Jahres 10 Personen wegen Mordes an Belastungszeugen verurteilt worden waren. Diese Prozesse hatten erhebliche Unruhe unter den Überlebenden ausgelöst. Die Freigelassenen ebenso wie die Familien der Täter leben nunmehr Seite an Seite mit den Überlebenden und Hinterbliebenen des Genozids und müssen sich fast täglich begegnen.

1. Der Völkermord

Es kann hier nicht die ganze Geschichte des Völkermordes wiedergegeben werden. Es sollen nur einige Eckdaten referiert werden, damit das Ausmaß der Verbrechen deutlich wird, die in Ruanda stattgefunden haben.

Vom 07.04.1994 bis 13.07.1994 wurden in Ruanda zwischen 800.000 und einer Million Menschen ermordet. Auslöser der "Säuberungsaktionen" war der Abschuss der Präsidentenmaschine mit dem amtierenden Präsidenten Habiyarimana (ein Hutu), der von den Friedensverhandlungen mit der Tutsi-Rebellenarmee aus Arusha/ Tansania zurückkehrte, und der der radikalen "Hutu-Power" zu liberal erschien. Der anwesenden UNO-Friedenstruppe UNAMIR wurde von den höchsten UNO-Gremien die Entwaffnung der Milizen und das bewaffnete Eingreifen untersagt, Belgien zog seine Truppen zurück.

Die Morde waren geplant: lange vorher hatten die Regierung und regierungsnahe Milizen Listen von Tutsi und oppositionellen Hutu erstellt, die Gruppen in Schulen und Kirchen getrennt und diskriminierende Propaganda verbreitet. Über das staatliche Radio "Radio Television Milles Collines" wurde über Monate hinweg zur "Beendigung der Arbeit" (in Ruanda gab es seit seiner Unabhängigkeit 1961 immer wieder Massaker an Tutsi) aufgerufen. Waffenlager wurden angelegt. In den Monaten des Völkermordes wurde über das Radio mitgeteilt, wo die "Arbeit" noch nicht beendet war, wo die "Massengräber noch nicht voll" waren und die Hutu-Bevölkerung wurde aufgerufen, keinen Tutsi leben zu lassen.

Die ersten Opfer waren Anfang April liberale und oppositionelle Hutu in Kigali. Danach breitete sich der Völkermord in das ganze Land aus. Täter waren die Armee (FAR - Forces Armees Ruandaises) und die Interahamwe. Diese war die Jugendorganisation der alleinigen Partei Ruandas, in dem jede/r Bürger/in von Geburt bis zum Tod qua Gesetz Mitglied war. Die Armee mordete mit Gewehren, die Interahamwe mit Macheten, Speeren und Knüppeln. Bewaffnet wurden diese Gruppen u. a. mit Hilfe von Frankreich.

Gemordet wurde vor allen an Straßensperren, in Schulen und in Kirchen. Die Menschen flohen meist in Schulen und Kirchen, da sie glaubten, dort in Sicherheit zu sein. Dies war jedoch ein Trugschluss: die (Hutu-)Priester der katholischen Kirche halfen allzu oft bei der Liquidierung der Tutsi aus ihrer Gemeinde. Häufig geschahen die Morde auf bestialische Weise: viele Menschen wurden über Tage hinweg verstümmelt, Frauen und Mädchen brutal und mehrfach vergewaltigt, in einigen Fällen gepfählt, oft gezielt HIV-infiziert. Kinder und Kleinstkinder wurden nicht verschont. Außerdem wurden Menschen in Massengräbern gesteinigt oder verletzt in Latrinen ertränkt. Gemordet wurde einerseits nach den zuvor gefertigten Listen, andererseits nach physischen Merkmalen: Tutsi sind meist größer, schlanker und heller als Hutu und haben schmalere Nasen. So wurde auch einigen Hutu ihr tutsiähliches Aussehen zum Verhängnis. Wer überlebte, war versteckt. Zeugen gibt es wenige, weil häufig Nachbarn gezwungen wurden, ihre Nachbarn, ja sogar Ehemänner ihre Ehefrauen zu töten. Mit dem Vorrücken der FPR (Front Patriotique Ruandais, Rebellen-Armee der ruandischen Tutsi-Flüchtlinge aus Uganda) nach Ruanda zogen sich die Völkermörder (unter dem Schutz der von Frankreich eingerichteten "Schutzzone") ins Ausland, meist in den Kongo, zurück. Viele zwangen die zivile Hutu-Bevölkerung, mit ihnen zu fliehen, um die Versorgung durch internationale Organisationen in den Flüchtlingslagern zu sichern. Nach 100 Tagen Völkermord siegte die FPR. Das Land war von Leichen und Massengräbern übersäht. Ca. 2 Mio. Hutu waren geflohen.

Einige der Massen-Hinrichtungsstätten sind als Erinnerungsstätten erhalten. Nach dem Völkermord gab es ca. 400.000 Waisen. Auch jetzt, 10 Jahre nach dem Völker-mord, kümmern sich häufig noch Minderjährige um die Versorgung ihrer jüngeren Geschwister und anderer Kinder.

2. Die Gacacaverfahren

Die Masse an Tätern, mit denen das Land fertig werden muss, macht eine traditionell justizförmige Suche nach Gerechtigkeit unmöglich. Dieser Umstand hat zur Einführung der sogenannten Gacaca-Verfahren geführt. In Anlehnung an die vorkoloniale Tradition hat die Regierung daher im Herbst 2001 die Einführung sog. "Gacaca"-Volksgerichte beschlossen. Die Bevölkerung der Hügel wählt in der "Zelle" und im "Sektor" aus der eigenen Mitte die Richter, idealtypisch die angesehenen, honorigen Mitglieder der Gemeinschaft. Ursprünglich sollte es 19 Richter pro Spruchkörper geben, bei 4 Täterkategorien und 4 Ebenen der Gerichtsbarkeit. Diese Richter/innen wurden im Schnellverfahren ausgebildet. Sie bekamen anfangs kein Geld, sondern lediglich, genau wie die Opfer des Völkermordes, freie Gesundheitsversorgung und freie Schulbildung für die Kinder. Nach Abschluss der Pilotphase im Juni 2004 wurde eine Neufassung der Prozessregeln erforderlich. Mit der gerade während unseres Aufenthaltes am 20.Juni 2004 beschlossenen Gacaca-Reform und dem Start der landesweiten Gacaca-Gerichtsbarkeit am 24.06.2004 gelten nunmehr folgende Regeln: - 9 Richter/innen pro Spruchkörper, davon müssen 5 lesen und schreiben können(!); die bereits im Jahre 2003 gewählten Richter/innen bestimmen aus ihrer Mitte die Besetzung der Spruchkörper; - statt der ursprünglich auf den Ebenen Zelle, Sektor und Provinz vorgesehenen Spruchkörper gibt es nur noch die Ebenen Zelle und Sektor als erste Instanz und auf der Ebene Sektor/Provinz die Berufungsgerichte - die Täterkategorien wurden von 4 auf 3 reduziert, weil sich gezeigt hatte, dass den Laienrichterinnen eine Abgrenzung zwischen Totschlag und Körperverletzung mit Todesfolge in der Praxis große Schwierigkeiten bereitet hat: - Täter erster Kategorie (Anstifter, Planer, besonders grausame Mörder und Massenvergewaltiger) unterstehen der staatlichen Gerichtsbarkeit und werden von der Staatsanwaltschaft bei den ordentlichen Gerichten angeklagt; ihnen droht die Todesstrafe; - Täter der zweiten Kategorie sind die "normalen" Tötungsdelikte, diese werden auf Sektorebene mit Berufungsmöglichkeit auf Provinzebene von den Gacaca-Gerichten abgeurteilt; Strafrahmen 12 bis 25 Jahre, bei Geständnis und Reue Reduktionsmöglichkeit auf 6 - 12 Jahre, davon teilweise auf Bewährung mit gemeinnütziger Arbeit - zu der dritten Kategorie gehören alle Eigentumsdelikte (Haus zerstört, Kuh geschlachtet, Diebstähle und Plünderungen), zuständig ist das Gacaca-Gericht auf Zell-Ebene mit Berufungsmöglichkeit auf Sektor-Ebene Die Richter/innen erhalten mittlerweile eine geringe Aufwandsentschädigung. In einer ersten Phase der Gacaca soll festgestellt werden, was in dieser Zelle überhaupt passiert ist. In einer zweiten Phase werden die Täter den drei Kategorien zugeordnet. Diese beiden Phasen sind in den Pilot-Gacaca-Verfahren (10 % aller Gacacas) abgeschlossen. In der dritten Phase fällen die Richter/innen das Urteil. Die Pilot-Gacaca pausieren, bis auch die restlichen Gacaca die Phasen eins und zwei abgeschlossen haben. So soll vermieden werden, dass ein Täter schon verurteilt wird, obwohl Taten aus anderen Distrikten noch nicht bekannt sind.
Die Gacaca-Gerichte können entgegen der normalen Gerichtsbarkeit keine Todesurteile verhängen, sehr wohl aber Strafen bis zu lebenslänglich. Für alle Täter gilt: Wer gesteht, um Verzeihung bittet und andere Täter benennt, erhält Strafreduzierung um die Hälfte (12 bis 25 Jahre Haft für Täter statt lebenslang, 6 bis 12 Jahre statt 12 bis 25 Jahre, von der verbleibenden Strafe soll wiederum die Hälfte zur Bewährung ausgesetzt werden gegen Ableistung gemeinnütziger Arbeit). Vor diesem Hintergrund erfolgte die Freilassungswelle im vergangenen Jahr. Letzter Termin für die Abgabe eines Geständ-nisses war der 30. März 2004. Dieser Termin wurde immer wieder hinausgeschoben, da man die Gefängnisse leeren wollte. Entlassen wurden geständige Täter, die ihre Strafe vermutlich bereits abgesessen haben, aber auch ältere und jugendliche Inhaftierte sowie einige, deren Unschuld mittlerweile erwiesen war. Als Jugendlicher gilt, wer zur Tatzeit unter 14 Jahre alt war. Am 23. Juni 2004 sollten nach Abschluss der Pilotphase die Gacaca im ganzen Land starten. Das Problem war jedoch, dass nach Abschluss der Pilotphase die Gesetze noch einmal verändert wurden. Um die Anwendung dieser Gesetze sicher zu stellen, hätte gewährleistet sein müssen, dass diese auch bekannt sind. Zugunsten einer Schulung der Richter/innen hätte der landesweite Start der Gacaca zurückgestellt werden müssen. Dies war jedoch politisch nicht gewollt: die Gacaca-Verfahren sollten vorangetrieben werden. Nun sind die Verfahren formell eröffnet, aber doch ausgesetzt worden, um zunächst die Richter/innen zu schulen. Bis vor kurzem befanden sich über 100.000 mutmaßliche Täter des Genozids in den Gefängnissen des Landes, die nur für 1/4 bis 1/6 der Gefangenenzahlen ausgelegt sind. Zunächst hatte das Rote Kreuz die Versorgung im Gefängnis übernommen mit der Folge, dass die Versorgungslage im Gefängnis besser war als außerhalb. Die Kritik führe dazu, dass die Familien der Täter die Versorgung übernehmen mußten und - zumeist die Frauen - lange Fußmärsche in Kauf nahmen, um ihr ohnehin spärliches Essen mit den Gefangenen zu teilen. Dies und die erwarteten Strafmilderungen für Geständige führten zu der geschilderten Freilassungswelle.

3. Probleme der Gacaca-Gerichtsbarkeit

Vor unserer Reise erschien uns die Gacaca-Gerichtsbarkeit als volksnahes Gericht mit Bürgerbeteiligung ungeheuer sympathisch, auch wegen der gleichzeitig verfolgten Ziele von Gerechtigkeit und Versöhnung. Dieser romantische, auch von westlichen Medien geschürte Blick hält der Realität nicht stand: Nur ein Teil der Richter und der Bevölkerung kann Lesen und Schreiben. Differenzierte Vorstellungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens (Unschuldsvermutung, Beweisregeln, Aussageverweigerungsrechte, Recht auf Verteidigung und Vertretung der Nebenklage etc.) werden angesichts der Rahmenbedingungen kaum umgesetzt werden können. Es besteht Aussagepflicht für Täter, überlebende Opfer und Zeugen, die auch strafbewehrt ist. Zum Teil wurde begonnen, Ordnungsstrafen für Aussageverweigerung oder Strafen für Falschaussagen von Zeugen zu verhängen, obwohl bis heute nicht ein einziger Gacaca-Prozess gegen Völkermordtäter abgeschlossen ist (anders 20 Verfahren in Arusha und etwa 7000 Verfahren vor den ordentlichen Gerichten)! Es wurden ad-hoc-Urteile wegen Falschaussagen gefällt, obwohl der zugrundeliegende Sachverhalt und damit die Richtigkeit der Aussage noch gar nicht festgestellt war. Erst jetzt hat man sich darauf verständigt, die Vollstreckung verhängter Strafen auszusetzen bis zum rechtskräftigen Abschluß des Verfahrens.

Unter den Überlebenden herrscht Skepsis: Mit der Freilassungswelle im vergangenen Jahr stieg die Angst der Opfer und Hinterbliebenen vor Repressalien der Täter und ihrer Familien.
Hinterbliebene müssen damit leben, dass der Mörder ihrer Angehörigen ihnen täglich begegnet. Die meisten Vergewaltigungsopfer verschweigen ihr Leid, weil sie Diskriminierung wegen HIV-Infektionen, Ausgrenzung oder Zerstörung ihres sozialen Zusammenhanges befürchten. Ruanda unterscheidet sich hier nicht von dem Rest der Welt: eine unverheiratete Frau, die preisgibt vergewaltigt worden zu sein, wird keinen Mann mehr finden. Eine verheiratete Frau wird Probleme mit ihrem Mann bekommen. Die traditionelle Rolle der Frau ist streng patriarchalisch geprägt, erst die neue Verfas-sung von 2003 regelt die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Die Freigelassenen leben nunmehr Seite an Seite mit den Überlebenden und Hin-terbliebenen des Genozids und erwarten ihren Prozess. Die Witwen, Waisen und Überlebenden müssen ihnen täglich begegnen, sind teilweise für das ökonomische und soziale Überleben auf sie angewiesen. Viele überlegen sich daher genau, ob und wie sie ihrer Aussagepflicht bei den Gacaca-Verfahren wirklich nachkommen wollen.

Auch die Wahl der Richter/innen wirft Probleme auf: Es gab Situationen, in denen ein geständiger Täter auf die Frage des Richters "und gab es da nicht noch mehr?" antwortete: "den Rest erzähle ich erst, wenn Du auch auspackst...". Gewählt wurden die Richter/innen von der Bevölkerungsmehrheit, diese besteht aus den Familien der mutmaßlichen Täter. Menschenrechtsorganisationen schätzten den Anteil der Mittäter unter der gewählten Richterschaft anfangs auf ca. 50 %. Allerdings wurden solche Richter, deren Beteiligung am Völkermord publik wurde, ihrer Aufgabe enthoben. Die Richter sind gleichzeitig Ermittlungsrichter und Strafrichter, es gibt keine Anklagebehörde, keine Verteidigung und keine Vertretung der Opfer. Aufgrund fehlender Aussageverweigerungsrechte und angesichts der Vorgeschichte muss sowohl die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter/innen wie die Aussagefreiheit und der Wahrheitsgehalt der Aussagen bezweifelt werden. Auch Entschädigungszahlungen können die Gacaca-Gerichte nicht bewirken.

Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Beteiligung und das Interesse der Bevölkerung an Gacaca erheblich nachgelassen hat. "Erfolge" in Form von Verurteilungen gibt es noch nicht: die Pilotphase hat erst das Verfahren und seine Probleme vorgeführt, die Urteilsphase hat noch nicht begonnen. Landesweit soll zunächst die erste Stufe (objektive Schadensfeststellung und Zurechnung der Schäden zu einzelnen Tätern im Sinne einer gehobenen Wahrscheinlichkeit) abgeschlossen werden. Dann soll auf dieser Basis landesweit - ggf. mit verbundenen Verfahren bei Mehrfach- und Vielfachtätern - die Urteilsfindung erfolgen.

Ein Konzept für die Ableistung gemeinnütziger Arbeiten fehlt. Der Landesbeauftragte für deren Organisation ist Anfang des Jahres zurückgetreten. Er erzählte uns, dass er alle Distrikte angeschrieben und um Vorschläge für die Ableistung der Arbeit gebeten habe. Nur zwei hätten geantwortet. Ob dies an einer fehlenden bürokratischen Struktur oder am fehlenden Interesse liegt, steht dahin. Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie gemeinnützige Arbeit als Strafersatz in einem schwer traumatisierten Land, in dem nur eine Minderheit in regulären Arbeitsverhältnissen arbeitet, so organisiert werden kann, dass der allgemeine Arbeitsmarkt nicht zusammenbricht.

Trotz der beschriebenen Probleme trägt die Gacaca-Gerichtsbarkeit und die mit ihr verbundene politische Diskussion zur Verarbeitung des Genozids bei: Die Geständnis-Kampagnen im vergangenen Jahr haben wesentlich zur Aufklärung beigetragen. Durch sie war es möglich, Massengräber zu finden und genaue Todesumstände aufzuklären - im Sinne einer "Wahrheitskommission" wie in Südafrika. So konnten Familien ihre Angehörigen würdig bestatten. Tatsächlich scheint auch eine nennenswerte Anzahl von Tätern ernsthaft zu bereuen und Versöhnung zu suchen. Maßgeblichen Anteil hieran hatte eine kirchliche Kampagne in den Gefängnissen.

Überwältigend war für uns auch die Reaktion der Überlebenden an Erinnerungs-stätten des Völkermordes. Voller Selbstverständlichkeit erklärten sie uns, dass die Täter der Massenmorde (an Orten mit 20.000 bis 50.000 teilweise grausam verstümmelten Toten, in Schulen, Kirchen und anderen "traditionellen" Zufluchtsstätten!) weiter direkt in der Nachbarschaft leben. Man habe ihnen aber verziehen und man wolle, dass die eigenen Kinder und die Kinder der Täterfamilien in Zukunft friedlich miteinander leben können. Vor dem ehemaligen Kirchengelände, jetzt Gedenkstätte, spielen die Kinder.

Plakate im ganzen Land verkünden: "Gacaca - Die Wahrheit heilt" und "Gacaca - wir müssen darüber reden". An den Gedenkstätten hängen Transparente mit der Aufschrift: "Wenn du mich (an)erkennst und ich dich (an)erkenne, dann wirst Du mich nicht töten".

Eine Alternative zu Gacaca gibt es nicht. Die staatlichen Gerichte wären mit einer Abarbeitung aller Taten überfordert, der Aufwand, sie für diese Aufgabe finanziell und personell adäquat auszustatten, enorm. Da die Straflosigkeit für früher verübte Massaker in der Geschichte Ruandas als eine Mitursache für den Genozid angesehen wird, scheint es auch nicht denkbar, die große Masse der Taten ungesühnt zu lassen. Selbst mit dem reduziert rechtsstaatlichen Verfahren der Gacaca wird die Aburteilung noch viele Jahre in Anspruch nehmen.

Parallel zu den Prozessen müssen die Wiedereingliederung der auf Bewährung entlassenen (mutmaßlichen) TäterInnen und der Aufbau einer echten Zivilgesellschaft erfolgen. Bei aller Kritik ist dies ein wirklich spannender gesellschaftlicher Prozess.

4. Situation der Justiz

Auch die klassische Gerichtsbarkeit steht vor fast unüberwindlichen Problemen: Ohne ausländische Finanzhilfe und personelle Unterstützung wäre der Aufbau der Justiz nicht zu bewältigen. So tummeln sich denn auch in Ruanda eine Vielzahl von ausländischen staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen aus der BRD, Belgien, England, Holland und USA. NGO's wie "Advocats sans frontières", "Penal-Reform international", "Danish Centre for Human Rights" und andere Hilfsorganisationen unterstützen verschiedene Justizprojekte. Staatsanwaltschaft
Die Generalstaatsanwalt des Landes muss bei kaum vorhandenen Ressourcen neben dem "Alltagsgeschäft" 87.000 Völkermordakten mit etwa 500.000 mutmaßlichen TäterInnen den Gacaca-Gerichten zur Verfügung stellen (davon mehrere personelle Überschneidungen). Der "zentrale Rechner" der obersten Ermittlungsbehörde des Landes besteht aus mehreren zusammengekoppelten Festplatten - der Computerexperte ist allerdings ein As. 30.000 Geständnisse wurden gerade mit Hilfe der gtz Deutschland - unter Leitung des Kollegen Dieter Magsam aus Hamburg - zentral nach Leitkriterien erfasst, gescannt und versandfertig zur Übergabe an die Gacaca-Gerichte der ersten Instanz verpackt. Dorthin gelangen sie allerdings nur, wenn die gtz auch den Transport unter Einschluss der Benzinkosten übernimmt... Die mutmaßlich 50.000 TäterInnen der Kategorie 1 werden von den Gacacas der Staatsanwaltschaft übergeben, die diese Fälle anklagereif ermitteln muss.

Daneben muss die Generalstaatsanwaltschaft den Aufbau der Staatsanwaltschaft im gesamten Land in 106 Bezirken organisieren. Der leitende Generalstaatsanwalt des Landes, Gahima (früher Politbüro-Vorsitzender der FPR) wurde kürzlich wegen Korruptionsvorwürfen abgesetzt. Gerade jetzt im Juni wurde das gesamte Personal ausgetauscht, alle StA- und Verwaltungsstellen neu besetzt, weil Qualifikationskriterien statt "Vetternwirtschaft" ausschlaggebend sein sollten. Diese grundsätzlich sinnvolle Reform ist mit persönlichen Härten für die teilweise langjährig Beschäftigten verbunden, die die Qualifikationskriterien nicht erfüllen, weil Weiterbildung mit normalen ruandischen Gehältern unerschwinglich ist.

Schließlich muss die Generalstaatsanwaltschaft auch die Prozesse vor dem Internationalen Gerichtshof in Arusha, Auslieferungsverfahren gegen Täter in Frankreich, im Vatikan und diverse afrikanische Staaten betreuen usw.

Auch die Polizeibehörden müssen erst an rechtsstaatliche Verfahrensweisen herangeführt werden: Üblich ist bei kleineren Delikten (Diebstahl, Leistungserschleichung etc.) jenseits der gesetzlichen Regelung die sofortige Vollstreckung einer Prügelstrafe.... Verdächtige Täter werden - ohne zusätzliche Haftgründe - ohne Verfahren inhaftiert und festgehalten, ohne Unterschied auch Jugendliche. Uns wurde ein Fall bekannt, in dem eine bei der "Tat" 15-jährige nach einer Abtreibung (vermutlich nach Vergewaltigung) ohne Verfahren bereits seit zwei Jahren in Haft sitzt. Landesweit sind ca. 600 Jugendliche (unter 16) im normalen Verzug in Haft, praktisch alle ohne Verurteilung.

Das gtz-Projekt unterstützt neben dem Aufbau der Datenbank für gacaca den (Wieder-)Aufbau der Justiz im Bereich der Staatsanwaltschaft durch "capacity building" und Beratung beim Aufbau der Verwaltung, Etatplanung, Organisationsaufbau und Justizreformen, teilweise durch Finanzierung konkreter Projekte. Außerdem muss der Kontakt zu anderen Organisationen gehalten werden, die im Justizbereich finanzielle Hilfe leisten. Zurzeit wird versucht, den Finanzbedarf der Staatsanwaltschaft für die nächsten Jahre zu ermitteln und eine Basket-Finanzierung auf die Beine zu stellen: Es soll nicht mehr jedes Land einen bestimmten Teil der Justiz unterstützen, sondern einen Beitrag zur Gesamtfinanzierung leisten. So könnte auch festgelegt werden, welchen Anteil der Finanzierung der ruandische Staat übernimmt. Dadurch wird vermieden, dass durch die Hilfsgelder für den Justizapparat Gelder aus dem Staatshaushalt, die eigentlich für die Finanzierung der Justiz vorgesehen waren, abgezogen werden, damit die Zuwendungen wirklich dem Ziel der Unterstützung der Justiz dienen und nicht lediglich den Staatshaushalt entlasten. Die Arbeit wurde ausgedehnt von der institutionellen Zusammenarbeit hin zu einer Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, um über eine "Institutsreform" hinaus zu einer lebendigen Justizreform zu gelangen mit dem Ziel, die justizförmige Konfliktregelung im Vertrauen der Bevölkerung zu verankern. Rechtsanwälte Die Situation der Anwälte ist nicht viel besser: Noch 2003 gab es landesweit nur 90 zugelassene Anwälte. Deren Zahl beträgt mittlerweile 110 und wird - nach Bearbeitung der vorhandenen Zulassungsanträge - in Kürze auf 140 angewachsen sein. Die Anwaltshonorare sind für die "normale" Bevölkerung angesichts der geringen Löhne, dem hohen Anteil an Subsistenzwirtschaft und damit einhergehend der geringen Beschäftigungszahlen unerschwinglich. Die Anwälte sitzen überwiegend in Kigali. In der Anwaltskammer wird über Zweitniederlassungen in der Provinz nachgedacht. Während der Kolonialzeit (bis 1961) gab es einen Gerichtshof in Butare, vor dem Anwälte aus Belgisch-Kongo sowie Ruanda und Burundi auftreten konnten, praktisch aber fast ausschließlich belgische Anwälte auftraten. Nach der Unabhängigkeit galt dieses Recht fort. Es gab lediglich einige länderübergreifend tätige afrikanische Rechtsanwälte. Der Zugang der Bevölkerung zur Justiz war nicht gewährleistet. Mit der Justizreform wurde ein Armenrecht installiert. Die Anwaltskammer ist verpflichtet, Bedürftigen mit einem Armutszeugnis der Provinzbehörden unentgeltlich Rechtsberatung und ggf. Vertretung zu gewähren. Bisher wurde allerdings der vorgesehene staatliche Etat nicht bereitgestellt, kürzlich wurden Zahlungen immerhin zugesagt. Einmal wöchentlich organisiert die Anwaltskammer einen Bereitschaftsdienst in Kigali für Bedürftige und bestimmt anschließend, ob und wer den Fall vertreten muss. Es ist geplant, diesen Service durch eine "Justizkarawane" auf die Provinzen auszudehnen. Das Problem ist auch hier, dass sich die meisten Menschen eine Fahrt nach Kigali nicht leisten können. Die Beschaffung des Armutszeugnisses ist nicht immer einfach: teilweise berechnen die Behörden für dessen Ausstellung - gesetzlich nicht vorgesehene - Gebühren. Eine Zeitlang wurde die Anwaltskammer von ausländischen Strafverteidiger/innen bei der Vertretung der inhaftierten Völkermord-Beschuldigten unterstützt. Ruanda hat diese Form der Vertretung verboten, da die Gerichte hiermit überfordert waren. Seit Ende des Projektes in 2001 liegen die angefangenen Akten unbearbeitet bei der Anwaltskammer. Daneben gibt es landesweit eine Vielzahl in erster Instanz bei den Gerichten zugelassener "parajuristes" (Halbjuristen), die Beratung und Vertretung übernehmen. Die meisten der zugehörigen Projekte sind von ausländischer Finanzierung und Hilfe abhängig. Nahezu das gesamte Recht wurde bzw. wird im Hinblick auf die neue Verfassung von 2003 reformiert. Richter/innen, Behörden, AnwältInnen haben häufig noch nicht einmal die geltenden Gesetzestexte schriftlich verfügbar, geschweige denn die nach unserer Auffassung für einen geordneten Bürobetrieb erforderlichen Sachmittel.

5. Zugang zum Recht - legal aid-Projekte

Während unseres Aufenthaltes hatten wir Gelegenheit, an einer Konferenz der legal-aid-Projekte zum Aufbau eines ständigen Forums teilzunehmen, sowie einige Beratungsprojekte zu besuchen.
Das zentrale Komitee der Genozid-Opferverbände "IBUKA" übernimmt auf regionaler Ebene neben der sozialen Hilfe und der psycho-sozialen Hilfe (Traumabewältigung), Erinnerungs- und Dokumentationsaufgaben sowie Seminaren zur Ausbildung einer "Friedenskultur" auch die juristische Betreuung der Opfer bei Zeugenaussagen und Nebenklagen. Ein Regierungsfond - sog. FARG - aus 5 % des Nationalbudgets plus 100 Ruandischen Francs (15 €-Cent) pro Einwohner ist für die freie medizinische Behandlung und Schulbildung der Überlebenden und Hinterbliebenen vorgesehen. Eine ange-messene Opferentschädigung scheitert an der Armut des Landes, während andererseits demobilisierte Soldaten der Milizen und der Völkermordarmee sowie Rückkehrer aus früheren Flüchtlingswellen Rückkehrhilfe bekommen haben. Diese Organisation ist eine der wenigen Kritiker des staatlich verordneten Versöhnungskurses: Ihre Mitarbeiter/innen sind der Auffassung, Versöhnung sei bei dieser Form der Verbrechen nicht möglich und eine Zumutung für die Opfer. Anstatt sich um Versöhnung zu kümmern, solle mehr Geld und Energie dafür verwandt werden, die Opfer zu entschädigen.

Die Frauenvereinigung HAGURUKA befasst sich mit der Verbreitung und Verteidigung der Rechte von Frauen und Kindern. Neben der Unterhaltung von Beratungsstellen (mit ausgesprochen dürftiger Ausstattung, aber engagierten Beraterinnen), der Begleitung der Frauen und Kinder zu Institutionen und Gerichten bereut Haguruka vor allem die Rechtsentwicklung und die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrages. Die 2003 verabschiedete Verfassung sieht die umfassende Gleichberechtigung von Mann und Frau vor, während nach der traditionellen ruandischen Kultur Frauen und Kinder keinen Zugang zu Besitz haben und der Mann der umfassende Chef der Familie ist. Haguruka betreut engagiert die Umsetzung der Gleichberechtigung in nationales Recht, z.B. in das neue Familienrecht, gibt Rechtsführer und Übersetzungen internationaler Dokumente in Kinyaruanda (der Nationalsprache) heraus und veröffentlicht ein regelmäßiges Bulletin über Frauen- und Kinderrechte. Mit dem Familienministerium wurde kürzlich eine Zusammenstellung der diskriminierenden Rechtsvorschriften herausgegeben.

AVEGA - AGAHOZO - der Zusammenschluss der Witwen und Waisen des Genozids - unterhält ebenfalls Beratungsstellen im ganzen Land. Vorrangig ging es zunächst um Subsistenzfragen. Das wirtschaftliche Überleben der Hinterbliebenen - in den allermeisten Fällen selbst schwer traumatisiert - stand im Vordergrund. AVEGA hat ein System der Kleinkredite und der Vermarktung von Handwerksprodukten entwickelt. Auch hier ist die Traumabewältigung eine schier unlösbare Beratungsaufgabe. Schwertraumatisierte müssen den gleichen Nachbarn, die Tatbeteiligte waren, im Alltag immer wieder begegnen. Nach den Massenentlassungen kam es durch Wiederbegegnungen zu Re-Traumatisierungen und auch zu Bedrohungen der Überlebenden. Die Situation von Tätern und Opfern ist extrem ungleich: Täter können sich im Gefängnis auf den Prozess vorbereiten und einige hatten Gelegenheit zu anwaltlicher Beratung, während Witwen und Waisen meist alleine mehrere Kinder betreuen müssen und neben dem Kampf um das Überleben keine Kräfte für die rechtliche Durchsetzung ihrer Interessen verfügbar haben. Dass “Advocat sans Frontières” nicht nur Täter, sondern auch Nebenkläger/innen vertritt, hat AVEGA erst kürzlich erfahren. Die Überlebenden benötigen neben Anerkennung des Unrechtes und ihrer Leiden praktische Unterstützung (z.B. hat AVEGA eine Hausbaukampagne initiiert und das Erbrecht auch unverheirateter - teilweise durch for-mal fehlerhafte Eheschließungen! - Lebenspartnerinnen mit gemeinsamen Kindern durchgesetzt). Auch wenn die praktische Lebenshilfe im Vordergrund steht, war die differenzierte Haltung zu Fragen von Gerechtigkeit und Versöhnung beeindruckend: Versöhnung könne nicht verordnet werden, sei aber neben Gerechtigkeit, Anerkennung und Entschädigung unumgänglich. Toleranz zwischen den Ruandern - TäterInnen wie Opfer sei unumgänglich, denn "Sippenhaft" müsse in so einem kleinen Land unbedingt vermieden werden. Auch wenn die Tante mit gemordet habe, könne der Cousin nichts dafür, man sei weiter Teil einer Familie, und nur weil der Nachbar für 25 Jahre im Gefängnis sitze, bleibe doch seine Frau die Nachbarin, mit der man auskommen müsse und auf deren Nachbarschaft man angewiesen sei. Speziell gemeinsame wirtschaftliche Pro-jekte haben an manchen Orten die Versöhnungsbereitschaft in diesem Sinne herbeigeführt (näheres siehe www.AVEGA. org.rw).

Besonders beeindruckt hat uns das Projekt "clinique juridique" am rechtswissenschaftlichen Institut der Universität in Butare. Nach einem Modellprojekt der "legal aid clinic" in Ottawa haben die Professorinnen ein Rechtsberatungsprojekt entwickelt: Jura-Studenten und Studentinnen im 3. Ausbildungsjahr übernehmen die Beratung der mittellosen Bevölkerung. An einem festen Tag in der Woche schildern die Ratsuchenden ihr Problem, die Studenten nehmen das Problem auf, entwickeln - zunächst intern - eine Lösung, stellen diese im zugehörigen Kurs zur Diskussion. Mit allen und unter Anleitung einer Professorin wird der Fall erörtert und "gelöst". Eine Woche später teilen die Studierenden dann dem/der Ratsuchenden das Ergebnis mit. Ist ein Gang vor Gericht erforderlich, wird den Ratsuchenden mitgeteilt, was sie vortragen müssen. Gegebenenfalls werden Schriftsätze vorbereitet. Ist eine Klage oder anwaltliche Vertretung erforderlich, wird der Fall mit einem Rechtsgutachten der Anwaltskammer übermittelt. Auf diese Weise werden die Studierenden volksnah ausgebildet und sammeln Beratungserfahrung, gleichzeitig werden Rechtsberatungslücken geschlossen. Auch bei den zu bearbeitenden Problemen handelt es sich fast nie um originäre Völkermordverfahren, sondern um Alltagsprobleme, die - vor allen Dingen im Familien- und Erbrecht - häufig ihren Ursprung in den Völkermordereignissen haben.

Deutlich wurde bei diesem Projekt weiter die Unkenntnis der Bevölkerung und der lokalen Behörden über die gesetzlichen Rechte und Pflichten. Deshalb haben die Studierenden außerdem Informationsbroschüren und -seminare entwickelt, Vorträge vor Polizei- und Verwaltungsbehörden sowie der Sekundarstufe der Schulen über Bürgerrechte, Frauenrechte, Kinderrechte usw. gehalten und insgesamt eine ausgesprochen positiv zupackende, bevölkerungsnahe Einstellung zum Recht entwickelt. Allerdings wurde bei Konflikten im nahen Umfeld (Familie, Nachbarschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit) auch deutlich, dass nicht immer die Durchsetzung des Rechts im Vordergrund steht, sondern dass - etwa über Mediation - individuelle Lösungsmodelle vorzuziehen sind, die die Interessen aller Beteiligten und das Aufeinanderangewiesensein in einer Subsistenzwirtschaft berücksichtigen. Da an Mediationsverfahren ein großes Interesse bestand, werden wir uns um die Vermittlung von Ausbildungsmöglichkeiten bemühen.

Aktuell ist ein Projekt geplant, um die Bevölkerung systematisch über das neue Recht aufzuklären, indem leicht verständliche Broschüren erstellt werden. Hierfür wird Geld gebraucht - Spendenkonto siehe unten.

6. Zusammenfassung und Ausblick

Angesichts der Grausamkeiten, die in Ruanda stattgefunden haben, erscheint uns beiden eine gesellschaftliche Versöhnung zurzeit nicht möglich. Wie auch einige der Opferorganisationen sind wir der Auffassung, dass Versöhnung ein individueller, höchstpersönlicher Vorgang ist, der nicht verordnet werden kann. Auch das Wort "Gerechtigkeit" wird angesichts der Taten zur Farce. Der staatliche Versöhnungskurs "von oben", angestoßen durch die Gacaca-Verfahren, hat eine gesellschaftliche Auseinandersetzung ein-geleitet, die uns gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte sinnvoll erscheint: diese Auseinandersetzung erleichtert es sicher den nachfolgenden Generationen, mit der Geschichte ihres Landes zu leben. Außerdem ist die Benennung des Unrechtes als Unrecht und die Beendigung der Straflosigkeit eine unumgängliche Voraussetzung für den Aufbau einer Zivilgesellschaft, in der höchstpersönliche Rechte ernst genommen werden. Unverzichtbar ist auch, dass die Gerechtigkeit für die Bevölkerung erfahrbar wird und nicht einer kleinen intellektuellen Schicht vorbehalten bleibt. Auch hierzu leisten die Gacaca-Verfahren - trotz der oben geäußerten Kritik - einen wertvolleren Beitrag, als es möglicherweise das Kriegsverbrechertribunal in Arusha leisten kann. Ohne den staatli-chen Willen zur Vergangenheitsbewältigung wäre all dies nicht möglich. Deutlich wurde uns allerdings auch, dass die Frage der Gerechtigkeit von der Entschädigungsfrage nicht zu trennen ist: neben der fehlenden Bestrafung wird es vor allen Dingen als ungerecht empfunden, wenn die Täter(familien) materiell besser gestellt sind als die Opfer. Es ist erstaunlich, dass sich die internationale Gemeinschaft die justizielle Gerechtigkeit in Ruanda einiges kosten lässt, die Frage der Entschädigungen jedoch meist außen vor bleibt. Da es in Ruanda eine tragende Zivilgesellschaft "von unten" noch nicht gibt, besteht die Gefahr, dass der staatlich verordnete Kurs alle Ansätze von Zivilgesellschaft erstickt. Hierfür seien zwei Beispiele genannt: zurzeit sind die Gacaca-Verfahren in der Krise, da das Interesse der Bevölkerung nachlässt. Dies liegt aber unter anderem daran, dass diese Verfahren nur die Taten des Völkermordes von Hutu an Tutsi beurteilen sollen, nicht aber das von der anderen Seite begangene Unrecht und nicht das an oppositionellen Hutz begangene Unrecht. Anders als die FAR und Interhamwe haben zwar die Soldaten der FPR bei ihrem Vormarsch nicht organisiert gemordet, vergewaltigt und gebrandschatzt, aber auch von dieser Seite sollen Verbrechen begangen worden sein, insbesondere bei der Auflösung der Flüchtlingslager nach dem Völkermord. Hierüber wird jedoch nicht gesprochen. Dadurch verlieren die Gacaca den Anspruch, die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen und gefährden ihre Verankerung in der Bevölkerung. Kritisch finden wir auch folgendes Beispiel: die politische Arbeit auf der Grundlage einer Unterscheidung zwischen Tutsi und Hutu ist unter Strafe verboten und wird als Sektierertum bestraft. Zurzeit wird dieses Gesetz dazu genutzt, in- und ausländische Organisationen, die eigene - nicht regierungskonforme - Analysen der gegenwärtigen Konfliktsituation erstellen (etwa, was die Besetzung führender politischer Positionen betrifft), zu kriminalisieren. Sie werden von staatlicher Seite für das Scheitern der Gacaca ver-antwortlich gemacht. Begründet werden diese Anschuldigungen selten. Sie führen allerdings dazu, die Verunsicherung zu vergrößern. Breite öffentliche Diskussionen werden so unterbunden. Die Presse- und Meinungsfreiheit besteht zwar auf dem Papier. Sie wird jedoch nicht in Anspruch genommen, wenn Kriminalisierung befürchtet werden muss. Hierin liegt eine entscheidende Aufgabe in Ruanda im Prozess der Aufarbeitung des Völkermordes: die Grenze zwischen verbotenem Revisionismus und rassischer Diskriminierung und der in einer Zivilgesellschaft notwendigen Äußerung von Meinungen - auch wenn sie von der staatlichen Linie abweichen - so zu ziehen, dass das Wiederaufflammen des Hasses unterbunden wird, eine freie Gesellschaft aber nicht schon im Keim erstickt wird. Spendenkonto: RAV eV.
Stichwort "Ruanda - Clinique Juridique"
RAV Menschrechtskonto
K.-Nr.:126 314
BLZ: 250 501 80

Fussnoten

1 Bei Interesse an den Interviews mit den ruandischen Gesprächspartnern auf Englisch oder Französisch oder Kontakt mit Dieter Magsam persönlich, bitte wenden an RAinnen Ulrike Donat, Karen Ullmann, Holstenstr. 194 C, 22765 Hamburg, Fax (040) 39 10 61 83