Justiz in Ruanda 2004
1. Der Völkermord
Vom 07.04.1994 bis 13.07.1994 wurden in Ruanda zwischen 800.000 und einer Million Menschen ermordet. Auslöser der "Säuberungsaktionen" war der Abschuss der Präsidentenmaschine mit dem amtierenden Präsidenten Habiyarimana (ein Hutu), der von den Friedensverhandlungen mit der Tutsi-Rebellenarmee aus Arusha/ Tansania zurückkehrte, und der der radikalen "Hutu-Power" zu liberal erschien. Der anwesenden UNO-Friedenstruppe UNAMIR wurde von den höchsten UNO-Gremien die Entwaffnung der Milizen und das bewaffnete Eingreifen untersagt, Belgien zog seine Truppen zurück.
Die Morde waren geplant: lange vorher hatten die Regierung und regierungsnahe Milizen Listen von Tutsi und oppositionellen Hutu erstellt, die Gruppen in Schulen und Kirchen getrennt und diskriminierende Propaganda verbreitet. Über das staatliche Radio "Radio Television Milles Collines" wurde über Monate hinweg zur "Beendigung der Arbeit" (in Ruanda gab es seit seiner Unabhängigkeit 1961 immer wieder Massaker an Tutsi) aufgerufen. Waffenlager wurden angelegt. In den Monaten des Völkermordes wurde über das Radio mitgeteilt, wo die "Arbeit" noch nicht beendet war, wo die "Massengräber noch nicht voll" waren und die Hutu-Bevölkerung wurde aufgerufen, keinen Tutsi leben zu lassen.
Die ersten Opfer waren Anfang April liberale und oppositionelle Hutu in Kigali. Danach breitete sich der Völkermord in das ganze Land aus. Täter waren die Armee (FAR - Forces Armees Ruandaises) und die Interahamwe. Diese war die Jugendorganisation der alleinigen Partei Ruandas, in dem jede/r Bürger/in von Geburt bis zum Tod qua Gesetz Mitglied war. Die Armee mordete mit Gewehren, die Interahamwe mit Macheten, Speeren und Knüppeln. Bewaffnet wurden diese Gruppen u. a. mit Hilfe von Frankreich.
Gemordet wurde vor allen an Straßensperren, in Schulen und in Kirchen. Die Menschen flohen meist in Schulen und Kirchen, da sie glaubten, dort in Sicherheit zu sein. Dies war jedoch ein Trugschluss: die (Hutu-)Priester der katholischen Kirche halfen allzu oft bei der Liquidierung der Tutsi aus ihrer Gemeinde. Häufig geschahen die Morde auf bestialische Weise: viele Menschen wurden über Tage hinweg verstümmelt, Frauen und Mädchen brutal und mehrfach vergewaltigt, in einigen Fällen gepfählt, oft gezielt HIV-infiziert. Kinder und Kleinstkinder wurden nicht verschont. Außerdem wurden Menschen in Massengräbern gesteinigt oder verletzt in Latrinen ertränkt. Gemordet wurde einerseits nach den zuvor gefertigten Listen, andererseits nach physischen Merkmalen: Tutsi sind meist größer, schlanker und heller als Hutu und haben schmalere Nasen. So wurde auch einigen Hutu ihr tutsiähliches Aussehen zum Verhängnis. Wer überlebte, war versteckt. Zeugen gibt es wenige, weil häufig Nachbarn gezwungen wurden, ihre Nachbarn, ja sogar Ehemänner ihre Ehefrauen zu töten. Mit dem Vorrücken der FPR (Front Patriotique Ruandais, Rebellen-Armee der ruandischen Tutsi-Flüchtlinge aus Uganda) nach Ruanda zogen sich die Völkermörder (unter dem Schutz der von Frankreich eingerichteten "Schutzzone") ins Ausland, meist in den Kongo, zurück. Viele zwangen die zivile Hutu-Bevölkerung, mit ihnen zu fliehen, um die Versorgung durch internationale Organisationen in den Flüchtlingslagern zu sichern. Nach 100 Tagen Völkermord siegte die FPR. Das Land war von Leichen und Massengräbern übersäht. Ca. 2 Mio. Hutu waren geflohen.
Einige der Massen-Hinrichtungsstätten sind als Erinnerungsstätten erhalten. Nach dem Völkermord gab es ca. 400.000 Waisen. Auch jetzt, 10 Jahre nach dem Völker-mord, kümmern sich häufig noch Minderjährige um die Versorgung ihrer jüngeren Geschwister und anderer Kinder.
2. Die Gacacaverfahren
Die Gacaca-Gerichte können entgegen der normalen Gerichtsbarkeit keine Todesurteile verhängen, sehr wohl aber Strafen bis zu lebenslänglich. Für alle Täter gilt: Wer gesteht, um Verzeihung bittet und andere Täter benennt, erhält Strafreduzierung um die Hälfte (12 bis 25 Jahre Haft für Täter statt lebenslang, 6 bis 12 Jahre statt 12 bis 25 Jahre, von der verbleibenden Strafe soll wiederum die Hälfte zur Bewährung ausgesetzt werden gegen Ableistung gemeinnütziger Arbeit). Vor diesem Hintergrund erfolgte die Freilassungswelle im vergangenen Jahr. Letzter Termin für die Abgabe eines Geständ-nisses war der 30. März 2004. Dieser Termin wurde immer wieder hinausgeschoben, da man die Gefängnisse leeren wollte. Entlassen wurden geständige Täter, die ihre Strafe vermutlich bereits abgesessen haben, aber auch ältere und jugendliche Inhaftierte sowie einige, deren Unschuld mittlerweile erwiesen war. Als Jugendlicher gilt, wer zur Tatzeit unter 14 Jahre alt war. Am 23. Juni 2004 sollten nach Abschluss der Pilotphase die Gacaca im ganzen Land starten. Das Problem war jedoch, dass nach Abschluss der Pilotphase die Gesetze noch einmal verändert wurden. Um die Anwendung dieser Gesetze sicher zu stellen, hätte gewährleistet sein müssen, dass diese auch bekannt sind. Zugunsten einer Schulung der Richter/innen hätte der landesweite Start der Gacaca zurückgestellt werden müssen. Dies war jedoch politisch nicht gewollt: die Gacaca-Verfahren sollten vorangetrieben werden. Nun sind die Verfahren formell eröffnet, aber doch ausgesetzt worden, um zunächst die Richter/innen zu schulen. Bis vor kurzem befanden sich über 100.000 mutmaßliche Täter des Genozids in den Gefängnissen des Landes, die nur für 1/4 bis 1/6 der Gefangenenzahlen ausgelegt sind. Zunächst hatte das Rote Kreuz die Versorgung im Gefängnis übernommen mit der Folge, dass die Versorgungslage im Gefängnis besser war als außerhalb. Die Kritik führe dazu, dass die Familien der Täter die Versorgung übernehmen mußten und - zumeist die Frauen - lange Fußmärsche in Kauf nahmen, um ihr ohnehin spärliches Essen mit den Gefangenen zu teilen. Dies und die erwarteten Strafmilderungen für Geständige führten zu der geschilderten Freilassungswelle.
3. Probleme der Gacaca-Gerichtsbarkeit
Unter den Überlebenden herrscht Skepsis: Mit der Freilassungswelle im vergangenen Jahr stieg die Angst der Opfer und Hinterbliebenen vor Repressalien der Täter und ihrer Familien.
Hinterbliebene müssen damit leben, dass der Mörder ihrer Angehörigen ihnen täglich begegnet. Die meisten Vergewaltigungsopfer verschweigen ihr Leid, weil sie Diskriminierung wegen HIV-Infektionen, Ausgrenzung oder Zerstörung ihres sozialen Zusammenhanges befürchten. Ruanda unterscheidet sich hier nicht von dem Rest der Welt: eine unverheiratete Frau, die preisgibt vergewaltigt worden zu sein, wird keinen Mann mehr finden. Eine verheiratete Frau wird Probleme mit ihrem Mann bekommen. Die traditionelle Rolle der Frau ist streng patriarchalisch geprägt, erst die neue Verfas-sung von 2003 regelt die Gleichberechtigung von Mann und Frau.
Die Freigelassenen leben nunmehr Seite an Seite mit den Überlebenden und Hin-terbliebenen des Genozids und erwarten ihren Prozess. Die Witwen, Waisen und Überlebenden müssen ihnen täglich begegnen, sind teilweise für das ökonomische und soziale Überleben auf sie angewiesen. Viele überlegen sich daher genau, ob und wie sie ihrer Aussagepflicht bei den Gacaca-Verfahren wirklich nachkommen wollen.
Auch die Wahl der Richter/innen wirft Probleme auf: Es gab Situationen, in denen ein geständiger Täter auf die Frage des Richters "und gab es da nicht noch mehr?" antwortete: "den Rest erzähle ich erst, wenn Du auch auspackst...". Gewählt wurden die Richter/innen von der Bevölkerungsmehrheit, diese besteht aus den Familien der mutmaßlichen Täter. Menschenrechtsorganisationen schätzten den Anteil der Mittäter unter der gewählten Richterschaft anfangs auf ca. 50 %. Allerdings wurden solche Richter, deren Beteiligung am Völkermord publik wurde, ihrer Aufgabe enthoben. Die Richter sind gleichzeitig Ermittlungsrichter und Strafrichter, es gibt keine Anklagebehörde, keine Verteidigung und keine Vertretung der Opfer. Aufgrund fehlender Aussageverweigerungsrechte und angesichts der Vorgeschichte muss sowohl die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Richter/innen wie die Aussagefreiheit und der Wahrheitsgehalt der Aussagen bezweifelt werden. Auch Entschädigungszahlungen können die Gacaca-Gerichte nicht bewirken.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn die Beteiligung und das Interesse der Bevölkerung an Gacaca erheblich nachgelassen hat. "Erfolge" in Form von Verurteilungen gibt es noch nicht: die Pilotphase hat erst das Verfahren und seine Probleme vorgeführt, die Urteilsphase hat noch nicht begonnen. Landesweit soll zunächst die erste Stufe (objektive Schadensfeststellung und Zurechnung der Schäden zu einzelnen Tätern im Sinne einer gehobenen Wahrscheinlichkeit) abgeschlossen werden. Dann soll auf dieser Basis landesweit - ggf. mit verbundenen Verfahren bei Mehrfach- und Vielfachtätern - die Urteilsfindung erfolgen.
Ein Konzept für die Ableistung gemeinnütziger Arbeiten fehlt. Der Landesbeauftragte für deren Organisation ist Anfang des Jahres zurückgetreten. Er erzählte uns, dass er alle Distrikte angeschrieben und um Vorschläge für die Ableistung der Arbeit gebeten habe. Nur zwei hätten geantwortet. Ob dies an einer fehlenden bürokratischen Struktur oder am fehlenden Interesse liegt, steht dahin. Es drängt sich jedoch die Frage auf, wie gemeinnützige Arbeit als Strafersatz in einem schwer traumatisierten Land, in dem nur eine Minderheit in regulären Arbeitsverhältnissen arbeitet, so organisiert werden kann, dass der allgemeine Arbeitsmarkt nicht zusammenbricht.
Trotz der beschriebenen Probleme trägt die Gacaca-Gerichtsbarkeit und die mit ihr verbundene politische Diskussion zur Verarbeitung des Genozids bei: Die Geständnis-Kampagnen im vergangenen Jahr haben wesentlich zur Aufklärung beigetragen. Durch sie war es möglich, Massengräber zu finden und genaue Todesumstände aufzuklären - im Sinne einer "Wahrheitskommission" wie in Südafrika. So konnten Familien ihre Angehörigen würdig bestatten. Tatsächlich scheint auch eine nennenswerte Anzahl von Tätern ernsthaft zu bereuen und Versöhnung zu suchen. Maßgeblichen Anteil hieran hatte eine kirchliche Kampagne in den Gefängnissen.
Überwältigend war für uns auch die Reaktion der Überlebenden an Erinnerungs-stätten des Völkermordes. Voller Selbstverständlichkeit erklärten sie uns, dass die Täter der Massenmorde (an Orten mit 20.000 bis 50.000 teilweise grausam verstümmelten Toten, in Schulen, Kirchen und anderen "traditionellen" Zufluchtsstätten!) weiter direkt in der Nachbarschaft leben. Man habe ihnen aber verziehen und man wolle, dass die eigenen Kinder und die Kinder der Täterfamilien in Zukunft friedlich miteinander leben können. Vor dem ehemaligen Kirchengelände, jetzt Gedenkstätte, spielen die Kinder.
Plakate im ganzen Land verkünden: "Gacaca - Die Wahrheit heilt" und "Gacaca - wir müssen darüber reden". An den Gedenkstätten hängen Transparente mit der Aufschrift: "Wenn du mich (an)erkennst und ich dich (an)erkenne, dann wirst Du mich nicht töten".
Eine Alternative zu Gacaca gibt es nicht. Die staatlichen Gerichte wären mit einer Abarbeitung aller Taten überfordert, der Aufwand, sie für diese Aufgabe finanziell und personell adäquat auszustatten, enorm. Da die Straflosigkeit für früher verübte Massaker in der Geschichte Ruandas als eine Mitursache für den Genozid angesehen wird, scheint es auch nicht denkbar, die große Masse der Taten ungesühnt zu lassen. Selbst mit dem reduziert rechtsstaatlichen Verfahren der Gacaca wird die Aburteilung noch viele Jahre in Anspruch nehmen.
Parallel zu den Prozessen müssen die Wiedereingliederung der auf Bewährung entlassenen (mutmaßlichen) TäterInnen und der Aufbau einer echten Zivilgesellschaft erfolgen. Bei aller Kritik ist dies ein wirklich spannender gesellschaftlicher Prozess.
4. Situation der Justiz
Die Generalstaatsanwalt des Landes muss bei kaum vorhandenen Ressourcen neben dem "Alltagsgeschäft" 87.000 Völkermordakten mit etwa 500.000 mutmaßlichen TäterInnen den Gacaca-Gerichten zur Verfügung stellen (davon mehrere personelle Überschneidungen). Der "zentrale Rechner" der obersten Ermittlungsbehörde des Landes besteht aus mehreren zusammengekoppelten Festplatten - der Computerexperte ist allerdings ein As. 30.000 Geständnisse wurden gerade mit Hilfe der gtz Deutschland - unter Leitung des Kollegen Dieter Magsam aus Hamburg - zentral nach Leitkriterien erfasst, gescannt und versandfertig zur Übergabe an die Gacaca-Gerichte der ersten Instanz verpackt. Dorthin gelangen sie allerdings nur, wenn die gtz auch den Transport unter Einschluss der Benzinkosten übernimmt... Die mutmaßlich 50.000 TäterInnen der Kategorie 1 werden von den Gacacas der Staatsanwaltschaft übergeben, die diese Fälle anklagereif ermitteln muss.
Daneben muss die Generalstaatsanwaltschaft den Aufbau der Staatsanwaltschaft im gesamten Land in 106 Bezirken organisieren. Der leitende Generalstaatsanwalt des Landes, Gahima (früher Politbüro-Vorsitzender der FPR) wurde kürzlich wegen Korruptionsvorwürfen abgesetzt. Gerade jetzt im Juni wurde das gesamte Personal ausgetauscht, alle StA- und Verwaltungsstellen neu besetzt, weil Qualifikationskriterien statt "Vetternwirtschaft" ausschlaggebend sein sollten. Diese grundsätzlich sinnvolle Reform ist mit persönlichen Härten für die teilweise langjährig Beschäftigten verbunden, die die Qualifikationskriterien nicht erfüllen, weil Weiterbildung mit normalen ruandischen Gehältern unerschwinglich ist.
Schließlich muss die Generalstaatsanwaltschaft auch die Prozesse vor dem Internationalen Gerichtshof in Arusha, Auslieferungsverfahren gegen Täter in Frankreich, im Vatikan und diverse afrikanische Staaten betreuen usw.
Auch die Polizeibehörden müssen erst an rechtsstaatliche Verfahrensweisen herangeführt werden: Üblich ist bei kleineren Delikten (Diebstahl, Leistungserschleichung etc.) jenseits der gesetzlichen Regelung die sofortige Vollstreckung einer Prügelstrafe.... Verdächtige Täter werden - ohne zusätzliche Haftgründe - ohne Verfahren inhaftiert und festgehalten, ohne Unterschied auch Jugendliche. Uns wurde ein Fall bekannt, in dem eine bei der "Tat" 15-jährige nach einer Abtreibung (vermutlich nach Vergewaltigung) ohne Verfahren bereits seit zwei Jahren in Haft sitzt. Landesweit sind ca. 600 Jugendliche (unter 16) im normalen Verzug in Haft, praktisch alle ohne Verurteilung.
Das gtz-Projekt unterstützt neben dem Aufbau der Datenbank für gacaca den (Wieder-)Aufbau der Justiz im Bereich der Staatsanwaltschaft durch "capacity building" und Beratung beim Aufbau der Verwaltung, Etatplanung, Organisationsaufbau und Justizreformen, teilweise durch Finanzierung konkreter Projekte. Außerdem muss der Kontakt zu anderen Organisationen gehalten werden, die im Justizbereich finanzielle Hilfe leisten. Zurzeit wird versucht, den Finanzbedarf der Staatsanwaltschaft für die nächsten Jahre zu ermitteln und eine Basket-Finanzierung auf die Beine zu stellen: Es soll nicht mehr jedes Land einen bestimmten Teil der Justiz unterstützen, sondern einen Beitrag zur Gesamtfinanzierung leisten. So könnte auch festgelegt werden, welchen Anteil der Finanzierung der ruandische Staat übernimmt. Dadurch wird vermieden, dass durch die Hilfsgelder für den Justizapparat Gelder aus dem Staatshaushalt, die eigentlich für die Finanzierung der Justiz vorgesehen waren, abgezogen werden, damit die Zuwendungen wirklich dem Ziel der Unterstützung der Justiz dienen und nicht lediglich den Staatshaushalt entlasten. Die Arbeit wurde ausgedehnt von der institutionellen Zusammenarbeit hin zu einer Zusammenarbeit mit allen Beteiligten, um über eine "Institutsreform" hinaus zu einer lebendigen Justizreform zu gelangen mit dem Ziel, die justizförmige Konfliktregelung im Vertrauen der Bevölkerung zu verankern. Rechtsanwälte Die Situation der Anwälte ist nicht viel besser: Noch 2003 gab es landesweit nur 90 zugelassene Anwälte. Deren Zahl beträgt mittlerweile 110 und wird - nach Bearbeitung der vorhandenen Zulassungsanträge - in Kürze auf 140 angewachsen sein. Die Anwaltshonorare sind für die "normale" Bevölkerung angesichts der geringen Löhne, dem hohen Anteil an Subsistenzwirtschaft und damit einhergehend der geringen Beschäftigungszahlen unerschwinglich. Die Anwälte sitzen überwiegend in Kigali. In der Anwaltskammer wird über Zweitniederlassungen in der Provinz nachgedacht. Während der Kolonialzeit (bis 1961) gab es einen Gerichtshof in Butare, vor dem Anwälte aus Belgisch-Kongo sowie Ruanda und Burundi auftreten konnten, praktisch aber fast ausschließlich belgische Anwälte auftraten. Nach der Unabhängigkeit galt dieses Recht fort. Es gab lediglich einige länderübergreifend tätige afrikanische Rechtsanwälte. Der Zugang der Bevölkerung zur Justiz war nicht gewährleistet. Mit der Justizreform wurde ein Armenrecht installiert. Die Anwaltskammer ist verpflichtet, Bedürftigen mit einem Armutszeugnis der Provinzbehörden unentgeltlich Rechtsberatung und ggf. Vertretung zu gewähren. Bisher wurde allerdings der vorgesehene staatliche Etat nicht bereitgestellt, kürzlich wurden Zahlungen immerhin zugesagt. Einmal wöchentlich organisiert die Anwaltskammer einen Bereitschaftsdienst in Kigali für Bedürftige und bestimmt anschließend, ob und wer den Fall vertreten muss. Es ist geplant, diesen Service durch eine "Justizkarawane" auf die Provinzen auszudehnen. Das Problem ist auch hier, dass sich die meisten Menschen eine Fahrt nach Kigali nicht leisten können. Die Beschaffung des Armutszeugnisses ist nicht immer einfach: teilweise berechnen die Behörden für dessen Ausstellung - gesetzlich nicht vorgesehene - Gebühren. Eine Zeitlang wurde die Anwaltskammer von ausländischen Strafverteidiger/innen bei der Vertretung der inhaftierten Völkermord-Beschuldigten unterstützt. Ruanda hat diese Form der Vertretung verboten, da die Gerichte hiermit überfordert waren. Seit Ende des Projektes in 2001 liegen die angefangenen Akten unbearbeitet bei der Anwaltskammer. Daneben gibt es landesweit eine Vielzahl in erster Instanz bei den Gerichten zugelassener "parajuristes" (Halbjuristen), die Beratung und Vertretung übernehmen. Die meisten der zugehörigen Projekte sind von ausländischer Finanzierung und Hilfe abhängig. Nahezu das gesamte Recht wurde bzw. wird im Hinblick auf die neue Verfassung von 2003 reformiert. Richter/innen, Behörden, AnwältInnen haben häufig noch nicht einmal die geltenden Gesetzestexte schriftlich verfügbar, geschweige denn die nach unserer Auffassung für einen geordneten Bürobetrieb erforderlichen Sachmittel.
5. Zugang zum Recht - legal aid-Projekte
Das zentrale Komitee der Genozid-Opferverbände "IBUKA" übernimmt auf regionaler Ebene neben der sozialen Hilfe und der psycho-sozialen Hilfe (Traumabewältigung), Erinnerungs- und Dokumentationsaufgaben sowie Seminaren zur Ausbildung einer "Friedenskultur" auch die juristische Betreuung der Opfer bei Zeugenaussagen und Nebenklagen. Ein Regierungsfond - sog. FARG - aus 5 % des Nationalbudgets plus 100 Ruandischen Francs (15 €-Cent) pro Einwohner ist für die freie medizinische Behandlung und Schulbildung der Überlebenden und Hinterbliebenen vorgesehen. Eine ange-messene Opferentschädigung scheitert an der Armut des Landes, während andererseits demobilisierte Soldaten der Milizen und der Völkermordarmee sowie Rückkehrer aus früheren Flüchtlingswellen Rückkehrhilfe bekommen haben. Diese Organisation ist eine der wenigen Kritiker des staatlich verordneten Versöhnungskurses: Ihre Mitarbeiter/innen sind der Auffassung, Versöhnung sei bei dieser Form der Verbrechen nicht möglich und eine Zumutung für die Opfer. Anstatt sich um Versöhnung zu kümmern, solle mehr Geld und Energie dafür verwandt werden, die Opfer zu entschädigen.
Die Frauenvereinigung HAGURUKA befasst sich mit der Verbreitung und Verteidigung der Rechte von Frauen und Kindern. Neben der Unterhaltung von Beratungsstellen (mit ausgesprochen dürftiger Ausstattung, aber engagierten Beraterinnen), der Begleitung der Frauen und Kinder zu Institutionen und Gerichten bereut Haguruka vor allem die Rechtsentwicklung und die Umsetzung des verfassungsrechtlichen Gleichstellungsauftrages. Die 2003 verabschiedete Verfassung sieht die umfassende Gleichberechtigung von Mann und Frau vor, während nach der traditionellen ruandischen Kultur Frauen und Kinder keinen Zugang zu Besitz haben und der Mann der umfassende Chef der Familie ist. Haguruka betreut engagiert die Umsetzung der Gleichberechtigung in nationales Recht, z.B. in das neue Familienrecht, gibt Rechtsführer und Übersetzungen internationaler Dokumente in Kinyaruanda (der Nationalsprache) heraus und veröffentlicht ein regelmäßiges Bulletin über Frauen- und Kinderrechte. Mit dem Familienministerium wurde kürzlich eine Zusammenstellung der diskriminierenden Rechtsvorschriften herausgegeben.
AVEGA - AGAHOZO - der Zusammenschluss der Witwen und Waisen des Genozids - unterhält ebenfalls Beratungsstellen im ganzen Land. Vorrangig ging es zunächst um Subsistenzfragen. Das wirtschaftliche Überleben der Hinterbliebenen - in den allermeisten Fällen selbst schwer traumatisiert - stand im Vordergrund. AVEGA hat ein System der Kleinkredite und der Vermarktung von Handwerksprodukten entwickelt. Auch hier ist die Traumabewältigung eine schier unlösbare Beratungsaufgabe. Schwertraumatisierte müssen den gleichen Nachbarn, die Tatbeteiligte waren, im Alltag immer wieder begegnen. Nach den Massenentlassungen kam es durch Wiederbegegnungen zu Re-Traumatisierungen und auch zu Bedrohungen der Überlebenden. Die Situation von Tätern und Opfern ist extrem ungleich: Täter können sich im Gefängnis auf den Prozess vorbereiten und einige hatten Gelegenheit zu anwaltlicher Beratung, während Witwen und Waisen meist alleine mehrere Kinder betreuen müssen und neben dem Kampf um das Überleben keine Kräfte für die rechtliche Durchsetzung ihrer Interessen verfügbar haben. Dass “Advocat sans Frontières” nicht nur Täter, sondern auch Nebenkläger/innen vertritt, hat AVEGA erst kürzlich erfahren. Die Überlebenden benötigen neben Anerkennung des Unrechtes und ihrer Leiden praktische Unterstützung (z.B. hat AVEGA eine Hausbaukampagne initiiert und das Erbrecht auch unverheirateter - teilweise durch for-mal fehlerhafte Eheschließungen! - Lebenspartnerinnen mit gemeinsamen Kindern durchgesetzt). Auch wenn die praktische Lebenshilfe im Vordergrund steht, war die differenzierte Haltung zu Fragen von Gerechtigkeit und Versöhnung beeindruckend: Versöhnung könne nicht verordnet werden, sei aber neben Gerechtigkeit, Anerkennung und Entschädigung unumgänglich. Toleranz zwischen den Ruandern - TäterInnen wie Opfer sei unumgänglich, denn "Sippenhaft" müsse in so einem kleinen Land unbedingt vermieden werden. Auch wenn die Tante mit gemordet habe, könne der Cousin nichts dafür, man sei weiter Teil einer Familie, und nur weil der Nachbar für 25 Jahre im Gefängnis sitze, bleibe doch seine Frau die Nachbarin, mit der man auskommen müsse und auf deren Nachbarschaft man angewiesen sei. Speziell gemeinsame wirtschaftliche Pro-jekte haben an manchen Orten die Versöhnungsbereitschaft in diesem Sinne herbeigeführt (näheres siehe www.AVEGA. org.rw).
Besonders beeindruckt hat uns das Projekt "clinique juridique" am rechtswissenschaftlichen Institut der Universität in Butare. Nach einem Modellprojekt der "legal aid clinic" in Ottawa haben die Professorinnen ein Rechtsberatungsprojekt entwickelt: Jura-Studenten und Studentinnen im 3. Ausbildungsjahr übernehmen die Beratung der mittellosen Bevölkerung. An einem festen Tag in der Woche schildern die Ratsuchenden ihr Problem, die Studenten nehmen das Problem auf, entwickeln - zunächst intern - eine Lösung, stellen diese im zugehörigen Kurs zur Diskussion. Mit allen und unter Anleitung einer Professorin wird der Fall erörtert und "gelöst". Eine Woche später teilen die Studierenden dann dem/der Ratsuchenden das Ergebnis mit. Ist ein Gang vor Gericht erforderlich, wird den Ratsuchenden mitgeteilt, was sie vortragen müssen. Gegebenenfalls werden Schriftsätze vorbereitet. Ist eine Klage oder anwaltliche Vertretung erforderlich, wird der Fall mit einem Rechtsgutachten der Anwaltskammer übermittelt. Auf diese Weise werden die Studierenden volksnah ausgebildet und sammeln Beratungserfahrung, gleichzeitig werden Rechtsberatungslücken geschlossen. Auch bei den zu bearbeitenden Problemen handelt es sich fast nie um originäre Völkermordverfahren, sondern um Alltagsprobleme, die - vor allen Dingen im Familien- und Erbrecht - häufig ihren Ursprung in den Völkermordereignissen haben.
Deutlich wurde bei diesem Projekt weiter die Unkenntnis der Bevölkerung und der lokalen Behörden über die gesetzlichen Rechte und Pflichten. Deshalb haben die Studierenden außerdem Informationsbroschüren und -seminare entwickelt, Vorträge vor Polizei- und Verwaltungsbehörden sowie der Sekundarstufe der Schulen über Bürgerrechte, Frauenrechte, Kinderrechte usw. gehalten und insgesamt eine ausgesprochen positiv zupackende, bevölkerungsnahe Einstellung zum Recht entwickelt. Allerdings wurde bei Konflikten im nahen Umfeld (Familie, Nachbarschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit) auch deutlich, dass nicht immer die Durchsetzung des Rechts im Vordergrund steht, sondern dass - etwa über Mediation - individuelle Lösungsmodelle vorzuziehen sind, die die Interessen aller Beteiligten und das Aufeinanderangewiesensein in einer Subsistenzwirtschaft berücksichtigen. Da an Mediationsverfahren ein großes Interesse bestand, werden wir uns um die Vermittlung von Ausbildungsmöglichkeiten bemühen.
Aktuell ist ein Projekt geplant, um die Bevölkerung systematisch über das neue Recht aufzuklären, indem leicht verständliche Broschüren erstellt werden. Hierfür wird Geld gebraucht - Spendenkonto siehe unten.
6. Zusammenfassung und Ausblick
Stichwort "Ruanda - Clinique Juridique"
RAV Menschrechtskonto
K.-Nr.:126 314
BLZ: 250 501 80