Rechtlos in Bayern
Im Gegensatz zum Strafprozess handelt es sich bei der Strafvollstreckung und dem Strafvollzug um eher abgeschirmte Schauplätze, die die öffentliche Aufmerksamkeit nur dann erregen, wenn es gilt, angesichts spektakulärer Ereignisse den populistischen Ruf nach sicherem „Wegschließen“ Straffälliger zu erheben. Die Forderung nach einem absoluten „Wegschließen“ scheint von einigen Richtern inzwischen nicht nur im physischen Sinn oder auch dahin verstanden zu werden, dass Strafgefangene von der Teilhabe am Rechtsstaat möglichst ganz auszuschließen sind. Anlass zu diesem Verdacht geben einige obergerichtliche Entscheidungen, denen der Rechtsschutz von Strafgefangenen über die ohnehin geringen Erfolgsaussichten hinaus verkürzt wird.
Strafvollzugsexperten – unter den Hochschullehrern kümmern sich nur wenige um das Strafvollzugsrecht – wissen, das die Oberlandesgerichte, vor allem die bayrischen OLGs, die Strafgefangenen schon dadurch weitgehend rechtlos stellen, dass sie den Anstaltsleitern ein nahezu unbegrenztes Ermessen zugestehen. Aber auch in den Fällen, in denen sich die Rechtsbeschwerde eines Gefangenen nicht ohne weiteres unter Berufung auf die Ermessensfreiheit des Anstaltsleiters abschmettern lässt, sinnen Richter auf zusätzliche Rechtskonstruktionen, um sich die Mühe einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Anliegen des Gefangenen zu ersparen.
Eine solche Handhabe glaubt man in dem Rechtsberatungsgesetz (RBerG) entdeckt zu haben. Zwar dient das RBerG nach der Gesetzesbegründung in erster Linie dem Schutz der Rechtsuchenden. Dass das Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz vom 13.12.1935 – so der ursprüngliche Name – in der Praxis mehr zu Nachteilen der Rechtsuchenden, um ihre Rechte zu verkürzen, missbraucht als zur Durchsetzung ihrer Rechte angewandt wird, hat sich aber inzwischen herumgesprochen1. Und so überrascht es nicht, dass sich bequeme Richter dieses Instruments zur Aushebelung von Rechten bedienen, nach dem Motto „das einzig störende Element in der Justiz sind die Rechtsuchenden“.
Dass die meisten Strafgefangenen sich bei ihren Beschwerden und sonstigen Eingaben der Hilfe erfahrener und gewandter Mitgefangener bedienen, liegt auf der Hand. Schließlich ist unter ihnen der Anteil derjenigen besonders groß, die nicht einmal über einen Hauptschulabschluss verfügen. Einen zum notwendigen Engagement bereiten Rechtsanwalt können sie meist nicht bezahlen. Von der Außenwelt sind sie fast völlig isoliert. Das Strafvollzugsgesetz weist die Rechtsberatung der Gefangenen dem Sozialdienst der Anstalt zu (§§ 71, 73 StVollzG). Aber diese Beratung wird sich bestenfalls auf Fragen der Schadensregulierung, des Unterhaltsrechts und, bei Untersuchungshäftlingen, einer eventuellen Sozialhilfe beschränken. Von einem Anstaltsbediensteten ist auch kaum zu erwarten, dass er Gefangene bei Beschwerden gegen die Anstalt berät, von Beschwerden gegen den Sozialdienst ganz abgesehen. Sogar die Hilfe zur Selbsthilfe wird den Gefangenen verwehrt. Das sowohl kompetente als auch übersichtlich geschriebene Handbuch für die Strafvollstreckung von Ulrich Kamann2 fehlt in den meisten Anstaltsbüchereien. Ein, einem Strafgefangenem der JVA Würzburg, vom Komitee für Grundrechte und Demokratie übersandtes Buch zum Strafvollstreckungsrecht wurde von der Anstaltsleitung ohne Begründung einbehalten3.
Für eine Beratung in Rechtsdingen kommen also nur ehrenamtliche Helfer oder rechtserfahrene Mitgefangene in Frage. Auf eine möglichst perfekte Wegschließung der Gefangenen bedachte Juristen haben deshalb seit jeher, konträr zur Schaffung von Rechtsgarantien für Gefangene, nach Möglichkeiten gesucht, Gefangenen die Wahrnehmung ihrer Rechte zu erschweren. So wurden im nationalsozialistischen Strafvollzug, wahrscheinlich aber schon im wilhelminischen Kaiserreich Gefangene, deren Beschwerden erfolglos blieben, mit Arrest- und anderen Hausstrafen belegt.
Den Anfang, das RBerG als Abwehrwaffe gegen Beschwerden einzusetzen, machte das Amtsgericht Arnsberg. Im Mai 1982 verurteilte es wegen unerlaubter Rechtsbesorgung einen Strafgefangenen, der schreibungewandten Mithäftlingen bei der Abfassung von Eingaben an Justizbehörden geholfen hatte.4 Ähnlich das OLG Hamm5: Ein Strafgefangener verstößt gegen das RBerG, wenn er innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten als Bevollmächtigter anderer Insassen der JVA Aachen mehrere Anträge u. a. nach §§ 109 ff StVollzG stellt.
Inzwischen ist diese Anwendung des RBerG insbesondere in Bayern allgemeine Praxis geworden. Dabei genügt es, dass ein Gefangener einem Mitgefangenen schriftliche Formulierungshilfe leistet. Gegen die betreffenden Gefangenen sind zum Teil fühlbare Geldbußen verhängt worden.
Teils wird – praktisch mit demselben Ergebnis – eine andere Konstruktion gewählt: Die Hausordnungen vieler Vollzugsanstalten schreiben vor, dass Strafgefangene ihre Anträge und Eingaben selbst zu schreiben haben; zugleich wird darauf verwiesen, dass auch unentgeltliche Rechtsberatung gegen das RBerG verstößt.
Zahlreiche OLGs haben entsprechende Hausstrafen gebilligt.6 Die gegen eine solche Disziplinarmaßnahme gerichtete Verfassungsbeschwerde eines Strafgefangenen aus Nordrhein-Westfalen hat das Bundesverfassungsgericht7 nicht angenommen. In dem betreffenden Fall hatte der Gefangene allerdings für seine Hilfen Gegenleistungen in der Form von Lebensmitteln, Tabak oder Briefmarken erhalten.
Im Auslegen seid frisch und munter, legt ihr’s nicht aus, so legt was unter
Eine Rechtsgrundlage für dieses Ergebnis vermochten die Nürnberger Richter nicht anzugeben. Natürlich wissen sie genau, dass die Zulassungsvoraussetzungen einer Rechtsbeschwerde in §§ 116, 118 StVollzG abschließend geregelt sind, mit ohnehin schwer zu überspringenden Hürden. Eigenhändige Abfassung des Entwurfs ohne Beratung durch Mitgefangene ist darin nicht genannt. Um gleichwohl zum gewünschten Ergebnis zu gelangen, bedienten sich die Richter eines geradezu akrobatischen Kunstgriffs: „Eine unter Verstoß gegen das RBerG zustande gekommene Rechtsbeschwerde kann nicht Gegenstand einer oberlandesgerichtlichen Überprüfung sein, da gegen Recht und Gesetz verstoßende Anträge keinen Anspruch auf sachliche gerichtliche Prüfung begründen können. Dies würde einer unzulässigen Beihilfe zu gesetzwidrigen Handlungen gleichkommen.“ Was mag in den Köpfen dieser Richter vorgegangen sein? Natürlich waren sich die Richter darüber im Klaren, dass kein Staatsanwalt auf die abwegige Idee kommen würde und dürfte, gegen sie ein Verfahren wegen Beihilfe, Beihilfe wozu auch immer, einzuleiten. Sahen sie sich aber vielleicht in einem Gewissenswiderstreit, in einer Art übergesetzlichem Notstand? Jedenfalls entschlossen sich die Richter in ihrer übergroßen Redlichkeit, sich lieber über alle klaren Zulässigkeitsvoraussetzungen und über das fundamentale Grundrecht des Bürgers aus Art. 19 Abs. 4 GG hinwegzusetzen als in der Sache zu entscheiden.
Damit stellten die Richter die Dinge aber auf den Kopf. Das Verbot der unentgeltlichen Rechtsberatung – und die Entgegennahme eines Entgelts war hier nicht nachweisbar – soll den rechtsuchenden Bürger vor Nachteilen bewahren, etwa vor Fristüberschreitungen oder Nichteinhaltung sonstiger Zulässigkeitsvoraussetzungen. Hier wurde das RBerG als Waffe gegen den beschwerdeführenden Bürger eingesetzt, um sein Recht zu verkürzen.
Gegen die rabiate Entscheidung – aber was nützt das gegenüber solchen die Ohren von vornherein verschließenden Richtern – lässt sich viel einwenden: Etwa dass das RBerG vom 13.12.1935 selbst erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist; dass die Sanktionierung einer verbotenen Tätigkeit sich nur gegen den Störer, hier also gegen den Helfer, nicht aber gegen den Hilfesuchenden richten darf; weiter dass nach anerkannter Strafrechtsdogmatik eine Beihilfe nicht nach abgeschlossener Tat geleistet werden kann. Mit nicht minder absurder Logik wie die Nürnberger Entscheidung hätte man auch gleich den beschwerdeführenden Strafgefangenen wegen versuchter Anstiftung der Richter zur Rechtsbeugung anklagen können! Und haben die Nürnberger Richter die von ihnen angenommene Beihilfe nicht bereits dadurch geleistet, dass sie sich überhaupt mit der unerwünschten Beratung einer gewissermaßen kontaminierten Beschwerde befasst haben, sie „angefasst“ haben, wie der König Midas das Gold? Juristen sollen bekanntlich zu allem fähig sein. Selten ist ein Gesetz nach Wortlaut und Sinn so sehr in sein Gegenteil verkehrt worden wie in diesem Fall. Wäre es nicht ein am unteren Ende der gesellschaftlichen Stufenleiter stehender Strafgefangener gewesen, sondern ein hochrangiger Vertreter etwa aus der gehobenen Klasse der Finanzwirtschaft – welch vernichtende Kritik an der Nürnberger Entscheidung hätte es in den juristischen Fachzeitschriften und in der Tagespresse gegeben! Strafgefangene sind für solche Richter aber anscheinend Menschen zweiter oder dritter Klasse, outlaws, für die die Garantien des Rechtsstaats nicht gelten. „Niemand darf aus der Hand des Rechts fallen“. Für diese Worte von Adolf Arndt scheint solchen Richtern jedes Verständnis zu fehlen.
Vor Jahren wurde einmal in Hamburg eine Kunstausstellung „Der hässliche Jurist“ gezeigt. Damals erschienen mir die dort präsentierten Bilder übertrieben, ein verzerrtes Bild des Juristen wiederzugeben. Wenn sich der in Nürnberg so frech abgefertigte Gefangene die Gesichter seiner Richter fratzenhaft vorstellt – wer könnte es ihm aber verübeln?
Mit seinem trickreichen Vorgehen hat das OLG Nürnberg dem eigenen Anspruch des bayrischen Strafvollzuges – streng, aber gerecht – den Boden entzogen. Die für die Rechtstaatlichkeit des Vollzuges Verantwortlichen sollten alles dafür tun, um durch beispielhaftes eigenes Verhalten den Gefangenen ein Vorbild dafür zu sein, dass es durchaus möglich ist, ein straffreies Leben im Rahmen der Gesetze zu führen. Wer diese Regeln selbst missachtet, fördert nicht das Vollzugsziel der Resozialisierung, sondern sabotiert es durch das eigene schlechte Vorbild geradezu. Dass sich bei Langzeitgefangenen im Lauf der Zeit eine Knastpsychose und eine querulierende Entwicklung einstellen können, ist bekannt. Wohl nirgendwo ist das Bedürfnis „Dampf abzulassen“ größer als bei dem, der die Einsamkeit der Haft ertragen muss. Richard Schmid, Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsident, hat dies mit dem Zitat aus dem Brief eines Zuchthäuslers einfühlsam erkannt: „Was soll denn der Verbrecher? Er ist doch allein gelassen; in einem zur Perfektion gediehenen Alleinsein mit der Frage nach der Schuld. Soll er sich von seiner Schuld zerfleischen lassen? ... Erst an diesem Punkt entsteht jene Verbitterung, von der Sie sprechen, Herr Direktor, ... Es ist eine Selbstschutzreaktion, wenn hier der Gefangene beginnt, Beschwerden zu schreiben, gegen Autoritäten zu rebellieren, ...“ Und Richard Schmid selbst äußert Verständnis: „Eine beliebte Methode ist, mit Ämtern, Gerichten, Petitionsausschüssen ... zu korrespondieren, möglichst Streit zu provozieren und den Streit immer fortzuspinnen. ... Die Reibungen mit dem Personal der Anstalt wegen der Schreiberlaubnisse und der Schreibmaterialien und die Spannung auf die Bescheide der Adressaten erleichtern die Last der Einsamkeit.“9 Fällt es bayrischen Richtern so schwer, das Einfühlungsvermögen des früheren Stuttgarter Oberlandesgerichtspräsidenten aufzubringen? Freilich wusste Richard Schmid, wovon er sprach: Vom Volksgerichtshof zu 3 Jahren Zuchthaus verurteilt, war er selbst mehrjährig inhaftiert.
Bedauerlich ist, dass die (wenigen) Kommentatoren und anderen Spezialisten zum Strafvollzugsrecht nicht die Aufmerksamkeit aufbringen, um solche am Rand der Rechtsbeugung stehenden Entscheidungen und die darin gutgeheißene Vollzugspraxis öffentlich zu kritisieren. Oder ist die Monopolisierung des juristischen Zeitschriftenwesens schon so weit fortgeschritten, dass es von vornherein aussichtslos ist, entsprechende Beiträge zur Veröffentlichung anzubieten?
Fussnoten
www.rechtsberatungsgesetz.de.
2 Ulrich Kamann, Handbuch für die Strafvollstreckung und den Strafvollzug. ZAP-Verlag, Recklinghausen 2002.
3 Vgl. Grundrechte-Report 2002, Reinbek 2002, S. 169 ff.
4 Frankfurter Rundschau v. 05.06.1982.
5 OLG Hamm, NStZ 1982, 438.
6 U. a. OLG München, ZfStrVo 1981, 380.
7 BverfG NStZ 1998, 13.
8 OLG Nürnberg, NStZ 2002, 55.
9 Vgl. Richard Schmid, Letzter Unwille, Stuttgart 1984, S. 85 f.