Europa: Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht

Tagungsbericht Wolfgang Kaleck Am 27.Juni 2003 fand im Berliner Abgeordnetenhaus die von RAV, EDA und Holtfortstiftung veranstaltete Tagung „Europa: Raum von Freiheit, Sicherheit und Recht? Die (Re-) Organisation der inneren Sicherheit in Europa“ statt. Die meisten Teilnehmer der mittelmäßig besuchten Veranstaltung waren Rechtsanwälte aus Deutschland und Westeuropa. Angesichts der Themen der Konferenz hätte man meinem sollen, dass sich mehr deutsche AnwältInnen und JuristInnen für Europa interessieren. Kurz zuvor war der Konventsentwurf für eine europäische Verfassung veröffentlicht worden. Diese wird über kurz oder lang in welcher Form auch immer an der Spitze der Normenpyramide in Europa stehen und das europäische Rechtsleben und die europäische Rechtskultur auf absehbare Zeit beeinflussen. Doch auf einen eigenen Beitrag kritischer deutscher JuristInnen und AnwältInnen in der breiteren öffentlichen Diskussion um die Verfassung wartet man bislang noch. Dabei lässt allein ein Blick auf das eigentliche Thema der Tagung, die dritte Säule Europas, also Rechts- und Innenpolitik, erkennen, wie wichtig die Verfassung werden kann.

So heißt es in Artikel 141 „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts….“

Freiheit und Sicherheit werden in dieser Bestimmung erneut gleichrangig behandelt, was aus der Sicht eines freiheitlichen Verfassungsverständnisses stark zu kritisieren ist. Noch schlimmer kommt es dann im Rahmen der Definition der Grundfreiheiten, wo es in Artikel II-6 heißt: “Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“

Einer der Lieblingsprojekte der konservativen Verfassungslehre, nämlich die Aufnahme des Rechtes auf Sicherheit in den Grundrechtekatalog, in Deutschland jahrelang kontrovers diskutiert und letztlich nie zur Verwirklichung gekommen, findet sich also in diesem europäischen Verfassungsentwurf.

Das übergeordnete Referat auf dem Kongress hielt Professor Dr. Hans-Jörg Albrecht, Direktor am Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg. Er referierte zum erweiterten Sicherheitsbegriff und seine Folgen für Innen- und Rechtspolitik (der Beitrag findet sich hier in diesem Heft sowie ebenso wie andere in Bezug genommenen Materialien auf der Homepage www.rav.de/kongreß/materialien.htm). Albrecht brachte viele nach der Welle von Antiterrorismusgesetzgebung in Deutschland und Europa geführten Diskussionen auf den Punkt. Der erweiterte Sicherheitsbegriff bestehe in einer Verschmelzung von Konzepten innerer und äußerer Sicherheit, strategischer und operativer Informationssammlung und der Verlagerung des Gewichts von der Repression auf die Prävention. Dieser Prozess verursache Veränderungen in Gewaltenteilung und verlagere Entscheidungen auf eine weitgehend der Kontrolle entzogenen Ebene. Der Effizienzgedanke werde einseitig betont. Es finde eine Abkehr von Tatverdacht und die Anknüpfung an Risikoräume oder Risikogruppen statt. Insbesondere bestehe die Gefahr der Bildung von Risikoprofilen, die an den Merkmalen von Religion und Ethnien hier anknüpfen. Die polizeiliche Kooperation habe sich in den letzten Jahren stark fortentwickelt, während die justizielle Zusammenarbeit noch in bescheidenen Anfängen stecke. Besonders sichtbar wären die Probleme beim europäischen Haftbefehl und dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung von Entscheidung von Strafsachen.

Die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Europa, vor allem der europäische Haftbefehl, spielte dann in der weiteren Diskussion eine große Rolle. Der Vizepräsident und Menschenrechtsbeauftragte der Berliner Rechtsanwaltskammer Bernd Häusler (RAV/EDA) wies darauf hin, dass die organisierte Anwaltschaft anders als bei den nationalen Gesetzgebungsprojekten keinerlei Einflussmöglichkeiten bei der Schaffung sekundären Rechts auf europäischer Ebene habe. Doch er nannte dies jedoch als eine der Handlungsmöglichkeiten, die es zu entwickeln gelte.
Der aus München stammende Strafverteidiger Wolfgang Bendler (RAV/EDA) stellte in seinem Referat noch einmal sehr deutlich die Probleme aus Strafverteidigersicht dar. Das Prinzip der gegenseitige Anerkennung der Rechtsordnung der Mitgliedstaaten sein eine „blindvertrauende Blankettermächtigung für die Praxis auf dem Gebiet in der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit, ohne dass auf die Unterschiede der einzelnen Rechtsordnung und deren zur Rechtsverletzung führender Inkohärenz untereinander Rücksicht genommen würde“. Der europäische Haftbefehl ruhe auf einem durch Rechtstatsachen nicht gerechtfertigten Vertrauensprinzip. Er führe zu einer fatalen Beschneidung von Beschuldigten und Verteidigungsrechten. Bendler sprach dann eine Forderung an, die sich mehrere Anwaltsorganisationen auch auf europäischer Ebene bereits zu Eigen gemacht haben. , nämlich die so genannten doppelte notwendige Verteidigung: sowohl im Vollstreckungsstaat als auch im Staat der Ausstellung des Haftbefehls muß dem Verfolgten in entsprechender Anwendung von des Artikel 6 Abs. 1 Satz 3 c EMRK je ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden. Darüber hinaus stellte Bendler das bundesdeutsche Strafverteidigerprojekt EU-Defense vor. Es gelte nicht nur eine Charta der Verfahrensberechtigten des Beschuldigten im europäischen Raum zu diskutieren sondern insgesamt die Rolle von Strafverteidigung und Strafverteidigern im kommenden europäischen Strafverfahren zu entwickeln.

Als einen Ansatzpunkt für ein gemeinsames europäisches Vorgehen von Anwältinnen wurden die so genannten Legalteams angesehen, die sich angesichts der Repression gegen GlobalisierungskritikerInnen heraus bilden. Seit den Großdemonstrationen beim EU-Gipfel in Göteborg im Juni 2001 sowie dem G8-Gipfel in Genua im Juli 2001 hat eine Vielzahl von DemonstrantInnen auf derartigen Gipfelereignissen ein Maß an Repression erfahren, dass zumindest für bundesdeutsche Verhältnisse frappierend ist. Dabei war schon der Einsatz polizeilicher Gewalt auf Demonstrationen äußerst drastisch. Er reicht von Knüppelhieben, Tränengas- und Gummigeschoßeinsatz bis zum Schusswaffeneinsatz und anschließenden brutalen Misshandlungen in der Polizeihaft. Daneben findet ein umfangreicher Datenaustausch von nationalen Polizeibehörden auf europäischer Ebene statt. Durch Grenzkontrollen unter Aufhebung des Schengener Abkommens, Schließung von Grenzen und Kontrollen von anreisenden Demonstranten in Bussen und Zügen im Landesinneren wird die Inanspruchnahme des Demonstrationsgrundrechtes erschwert. Bei der strafjustiziellen Verfolgung wird versucht, Gewalt bei Demonstrationen in die Ecke terroristische Gewalttaten zu stellen. Die Erfahrung der letzten zwei Jahre haben deutlich gemacht, dass nur durch eine verstärkte Zusammenarbeit von AnwältInnen und JuristInnen auf europäischer Ebene diesen neuen Herausforderungen annähernd gerecht werden kann. Dabei geht es zum einen darum, im politischen Raum die Repression zu kritisieren und zu analysieren. Zum anderen geht es ganz banal darum, die Verteidigung der Betroffenen zu organisieren. Im Anschluss an das Berliner Treffen hat sich eine Gruppe, die sich europäisches Legalteam nennen will, eine Charta gegeben. Diese soll auf dem europäischen Sozialgipfel im November 2003 in Paris öffentlich vorgestellt werden. Mitbeteiligt sind auch AnwältInnen von der EJDM sowie von der Kommission zur Beobachtung der Grundrechte im Prozess der Globalisierung.

Wie schwerwiegend europäische Rechtsentwicklungen in die Individualrechte europäischer Bürger eingreifen, machte nicht nur der Blick auf die Demonstrationen vergangener Jahre deutlich: insbesondere für Flüchtlinge führt die Harmonisierung auf EU-Ebene auf unterstem Niveau zu einer ständigen Absenkung des Grundrechtestandards. Weil die Exekutive diese Entwicklung maßgeblich steuert, findet praktisch keine öffentliche Diskussion statt. Die Kontrolle durch Öffentlichkeit und Gerichte ist ebenfalls gering ausgebildet. Die erste Phase der Harmonisierung, des Entwurfes von Richtlinien mit problematischen Inhalten (Zugang zu Arbeitsmarkt erst nach einem Jahr, Residenzpflicht, geschlossene Lager in Grenznähe und Drittenstaatenregelung) ist mittlerweile abgeschlossen. Allerdings sei – so die Diskussion in der Arbeitsgruppe – in Zukunft über das EU-Parlament eine öffentliche Diskussion einzufordern. Hauptforderungen sind die volle Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention, die Abschaffung von geschlossenen Lagern, die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes, der Zugang zum Arbeitmarkt sowie die Abschaffung der Residenzpflicht und vor allem die effektive Möglichkeit des Zugangs für Flüchtlingen in die EU.

Gerade die zuletzt angesprochene Diskussion um die Rechte von Flüchtlingen in Europa zeigt, dass es schon lange nicht mehr nur um die Wirtschafts- und Währungsunion geht, wenn auf europäischer Ebene Recht gesetzt wird. Kritische JuristInnen im Besonderen und Linke im Allgemeinen haben diese Entwicklung vollkommen verschlafen. Europa wird als Bezugsrahmen politischen Handelns praktisch nicht wahrgenommen. Wie Heiner Busch, der Publizist von CILIP, im Rahmen der Diskussion um die europäische Polizei zu recht ausführte, geht es nicht nur darum, sich schnell zu informieren und die europäische Entwicklung zu analysieren und kritisieren. Man muß lernen, was wir alle im Nationalstaat bereits beherrschen, nämlich die Inanspruchnahme von Öffentlichkeit sowie die Beteiligung am Gesetzgebungsverfahren sowie die grundsätzliche Kritik. Die Verteidigung von Minimalstandards wird dabei in Zukunft kaum ausreichen. Im RAV sowie in der EDA sind die Voraussetzungen für gemeinsame Lern- und Organsierungsprozesse sehr gut, da seit mittlerweile 15 Jahren europäische Themen diskutiert werden und ein im europäischen Rahmen bemerkenswertes Netzwerk von AnwältInnen mit verschiedensten Arbeitsgebieten geschaffen und erhalten werden konnte.