Straftat Anwesenheit
Das skandalöse »Rondenbarg-Verfahren« gegen Demonstrierende beim G20-Gipfel 2017 in Hamburg
Adrian Wedel
Krankenhausreif waren Demonstrierende von der Polizei geprügelt worden, als sie 2017 ihre Kritik am Treffen der mächtigsten Staatschefs der Welt beim G20-Gipfel in Hamburg auf die Straße trugen. Darüber hinaus hagelte es Strafverfahren gegen 85 Personen. Ab Januar 2024 begann die Hauptverhandlung vor dem Hamburger Landgericht, im September 2024 fiel das erste Urteil. Betrachtung eines Verfahrens.
Rund sieben Jahre nach dem G20-Gipfel in Hamburg ist das erste Urteil des Landgerichts (LG) Hamburg im sogenannten Rondenbarg-Verfahren gesprochen. »Am Rondenbarg« so heißt eine Straße im nordwestlichen Hamburger Stadtteil Bahrenfeld, auf der im Juli 2017, so wie in der ganzen Stadt, gegen den G20-Gipfel protestiert wurde, der zu dieser Zeit in der Stadt tagte. Anfang September wurden dann zwei der Angeklagten, nachdem das Verfahren gegen andere wegen Geringfügigkeit eingestellt worden war, zu Geldstrafen von jeweils 90 Tagessätzen verurteilt.
Was ist damals geschehen?
Die Situation Am Rondenbarg hatte zum damaligen Zeitpunkt großes Aufsehen erregt, insbesondere aufgrund der Vielzahl verletzter Versammlungsteilnehmer*innen. Die meisten der diversen Vorwürfe der Staatsanwaltschaft haben sich im Laufe der Beweisaufnahme, der im Januar diesen Jahres begonnenen Hauptverhandlung, nicht bestätigt. Bis zu der Situation im Rondenbarg konnte lediglich festgestellt werden, dass einzelne Personen hinter der Versammlung Bauzaunelemente und einen Müllcontainer auf die Straße gezogen haben und in der Versammlung ein Bengalo gezündet wurde. Unklar ist, ob ein ca. DIN A3 großer Fahrplanhalter einer Bushaltestelle beschädigt wurde und ob Versammlungsteilnehmer*innen am Ende der Demo gegen einen nahe auffahrenden PKW getreten haben.
Ein in der Anklageschrift geschilderter »massiver Bewurf« einer Hundertschaft der Bundespolizei aus Eutin aus der Versammlung heraus, hat sich in der Verhandlung nicht bestätigt. Hinsichtlich der zwei noch verbleibenden Angeklagten – gegen mehrere weitere Angeklagte wurde das Verfahren direkt zu Beginn eingestellt – ist im Wesentlichen nur die Anwesenheit in der Versammlung feststellbar.
Die Kammer teilte in einem in die Hauptverhandlung eingeführten Vermerk mit, dass nach vorläufiger Würdigung allenfalls eine Verurteilung wegen Landfriedensbruch gem. § 125 StGB in Betracht käme. Hierbei sei entscheidend, ob die Angeklagten durch ihre dunkle Kleidung einerseits dazu beigetragen hätten, nach außen hin Militanz zur Schau zu stellen und hierdurch Unbehagen bei Zeug*innen hervorzurufen, und andererseits hierdurch das Untertauchen einzelner Personen nach dem Begehen von Straftaten zu ermöglichen. Eine Verurteilung auf dieser Grundlage stoße auf erhebliche rechtliche Bedenken.
Keine Strafe ohne Gesetz
Es ist »grundsätzlich Sache des Gesetzgebers, den Bereich strafbaren Handelns verbindlich festzulegen«. Der Grundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG besagt, dass keine Strafe ohne Gesetz ergehen darf und somit gesetzlich klar erkennbar sein muss, welche Rechtsfolgen sich aus bestimmten Verhaltensweisen ergeben können. Andernfalls wäre der Einzelne der Willkür des Staates ausgesetzt.
Angesichts des massiven Grundrechtseingriffs, der mit der Anwendung der früheren Fassung des § 125 StGB einherging, wurde mit der 3. Strafrechtsreform von 1970 die reine Teilnahme an einer »Zusammenrottung« gestrichen. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll sich nur derjenige strafbar machen, der sich aktiv an Gewalttätigkeiten beteiligt.
Abseits verschiedener Konstruktionen der Rechtsprechung war bislang klar, dass eine bloße inaktive Anwesenheit in der Gruppe und der Umstand, sich nicht von der Gruppe distanziert zu haben, weder die Voraussetzungen der täterschaftlichen Verübung von Gewalttätigkeiten bzw. Bedrohungen noch der (psychischen) Beihilfe hierzu erfüllen können. Dieser Grundsatz wurde zuletzt bereits durch den BGH im Elbchaussee-Verfahren in fragwürdiger Weise angegriffen (BGH, Urteil vom 4. Juni 2024 – 5 StR 205/23). Die Verurteilung der Angeklagten im Rondenbarg-Verfahren geht angesichts dessen, dass sie auf nichts anderem als der Anwesenheit im Rondenbarg in dunkler Kleidung basieren würde, hierüber noch einmal hinaus. Im Ergebnis würde, sollte dieses Judikat Rechtskraft erlangen, somit die Strafrechtsreform von 1970 durch die Rechtsprechung rückgängig gemacht werden.
Einschränkung der Versammlungsfreiheit
Entgegen des ursprünglichen Vorwurfs der Staatsanwaltschaft geht inzwischen auch die Kammer in der mündlichen Urteilsbegründung davon aus, dass es sich um eine von Art. 8 GG geschützte Versammlung gehandelt hat und hielt dies in einem öffentlich in das Verfahren eingeführten Vermerk fest. Der Schutz des Grundrechts besteht unabhängig davon, ob die Versammlung anmeldepflichtig und angemeldet war. Gewalttätigkeiten einzelner Personen können den Schutz des Art. 8 GG hierbei nicht entfallen lassen. Auch der BGH selbst führte in der von der StA in der Anklageschrift mehrfach zitierten sog. »Hooligan-Entscheidung« (BGH Urteil vom 24.05.2017 – 2 StR 414/16) aus, dass durch die dortige Ausweitung der Täterschaft im Rahmen des § 125 StGB nicht der Schutzbereich des Art. 8 GG eingeschränkt werden könne.
Unstrittig ist auch, dass eine Versammlungsauflösung nicht erfolgt ist. Eine Verurteilung auf dieser Grundlage muss mithin bedeuten, dass die Angeklagten allein für die Anwesenheit bei einer von Art. 8 GG geschützten und nicht aufgelösten Versammlung bestraft werden. Dies steht in einem deutlichen Widerspruch zur Rechtsprechung des BVerfG zur strafrechtlichen Sanktionierung eines Verhaltens im Versammlungskontext. Können Versammlungsteilnehmer*innen nicht wissen, ab wann der Schutz der Versammlungsfreiheit endet und dürften sie gleichwohl wegen eines ihrer Ansicht nach von der Versammlungsfreiheit geschützten Verhaltens negativ sanktioniert werden, könnte diese Unsicherheit sie einschüchtern und von der Ausübung des Grundrechts abhalten.
Dieser sogenannte »Chilling-Effekt« geht jedoch über die Angeklagten hinaus. Eine Strafbarkeit allein basierend auf der Anwesenheit in einer bestimmten Kleidung bei einer Demonstration, bei der Einzelne Straftaten begehen, macht eine Teilnahme an Versammlungen grundsätzlich zu einem unvorhersehbaren Risiko. Abgesehen davon, dass es sich bei Turnschuhen, Jeans und schwarzer Jacke nicht um eine seltene Kleidungskombination handelt, kann und – so zeigt die Erfahrung – wird eine solche Rechtsprechung in Zukunft auf jegliche Form ähnlicher Kleidung Anwendung finden.
Rechtsstaatswidrige Tatprovokation
Im Zuge der Verhandlung sind mehrere Anhaltspunkte dafür zu Tage getreten, dass Tatbeobachter*innen der Polizei und V-Personen der Verfassungsschutzämter verdeckt an der Vorbereitung der Proteste gegen den G20-Gipfel beteiligt waren, wie auch vor Ort gewesen sein könnten. Soweit eine Verurteilung auf der o.g. Grundlage erfolgen soll, müsste eine konkrete staatliche Beteiligung an der Versammlung ausgeschlossen werden, da dies eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation darstellen würde.
Mit Rückgriff auf die Rechtsprechung des EGMR sieht der BGH eine Tatprovokation als verwirklicht an, wenn eine Person durch einen Amtsträger in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Ein solches Verleiten liegt nach der Rechtsprechung des BGH vor, sobald eine Person im Auftrag des Staates über ein »passives Verhalten« hinausgeht – beispielsweise bereits durch das Wecken solidarischer Gefühle als psychologischen Druck.
Der BGH hatte im Elbchaussee-Verfahren konstruiert, dass bereits die Beteiligung in einer entsprechenden Kleidung einen aktiven täterschaftlichen Beitrag darstellt und es darüber hinaus nicht mehr darauf ankommt, ob die Person selbst keine Gewalttätigkeiten begehen wollte, nicht nach außen erkennbar Gegenstände bei sich trug, mit denen Gewalttätigkeiten begangen werden können oder aktive Unterstützungsleistungen vollbringt. Soweit das LG Hamburg diese Konstruktion nun noch ausweiten will, würde sich das Mitlaufen der Zivilbeamt*innen oder V-Personen demnach nicht auf ein passives Ermitteln von Straftaten beschränken, sondern einen aktiven erheblichen Beitrag zur Tatbestandsverwirklichung darstellen.
Insbesondere würde der Tatbestand des § 125 StGB unmittelbar täterschaftlich durch eine Person im staatlichen Auftrag verwirklicht. Eine Abgrenzung dahingehend, dass zwar ein erheblicher Tatbeitrag seitens der Versammlungsteilnehmer*innen vorläge, die Anwesenheit der – nach außen hin für niemanden erkennbaren – Polizeibeamten oder V-Personen jedoch keinen solchen Beitrag darstellen würde, ist rechtlich nicht möglich. Die rechtsstaatswidrige Tatprovokation stellt nach der inzwischen der europäischen Rechtsprechung folgenden Rechtsprechung des BGH (BGH, Urteil vom 16.12.2021 – 1 StR 197/21) ein – von Amts wegen zu beachtendes – Verfahrenshindernis dar.
Fazit
Soweit die verfassungs- und europarechtlichen Garantien aus Art. 8, 103 Abs. 2 GG und Art. 6 EMRK ernst genommen werden, muss es dabei bleiben, dass nach dem eindeutigen Willen des Gesetzgebers die reine Anwesenheit in einer Menschenmenge – erst recht, soweit es sich um eine von Art. 8 GG geschützte Versammlung handelt – keine Verwirklichung des Tatbestandes des § 125 StGB darstellen kann. Gegen das Urteil des Landgerichts Hamburg haben beide Angeklagte Revision eingelegt. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH die versammlungsfreiheitsfeindliche Rechtsprechung des LG Hamburg korrigiert. Eine rechtskräftige Verurteilung der Angeklagten im Rondenbarg-Verfahren würde andernfalls zu einer erheblichen Einschränkung der Versammlungsfreiheit weit über das konkrete Verfahren hinaus führen.
Adrian Wedel arbeitet in Berlin als Rechtsanwalt im Strafrecht sowie im Migrations- und Verwaltungsrecht. Er ist Mitglied im RAV.