"Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat" von Max Pichl
Rezension von Berkan Kaya
In seinem 2024 im Suhrkamp Verlag erschienenen Buch »Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat« zeichnet Maximilian Pichl den Diskurs um den Begriff des Rechtsstaats in Deutschland und Europa nach.
Begriffe des Grundgesetzes wie der des Rechtsstaats beziehen sich häufig auf ideengeschichtliche und rechtswissenschaftliche Diskurse, die sich darauf auswirken, wie diese Begriffe verstanden werden. Auch beim Rechtsstaat handelt es sich um einen solchen Begriff. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn für das Grundgesetz konkretisiert. Das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 Abs. 3 GG bindet den Staat an das Recht und hegt damit dessen Macht ein.
In politischen Debatten wird der Begriff allerdings häufig anders verwendet. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sagte in seiner Regierungserklärung zur Sicherheitslage in Deutschland zum Kern des Rechtsstaats, dass in diesem alle Menschen ohne Furcht vor ihren Mitmenschen leben können müssen. Welches Verständnis steckt in solchen Aussagen und welche Gefahren sind mit ihnen verbunden?
Pichl zeigt auf, dass der »Rechtsstaat« oft dann beschworen wird, wenn es nicht um die Einhegung staatlicher Macht, sondern vielmehr um Sicherheit und Ordnung geht. Dabei war der Ursprung des Rechtsstaats gegenläufig zu diesem Verständnis. »Das Ziel [des Rechtsstaats] bestand darin, ein Gegenstück zu despotischen Ordnungssystemen und dem, was man unter […] Polizeistaat verstand, zu formulieren.« (S. 23)
Von den Ursprüngen aus der Zeit der liberalen Umbrüche im 19. Jahrhundert führt uns Pichl über die Vereinnahmung des Begriffs durch die Nationalsozialisten bis zur ordnungspolitischen Umdeutung in den 1960er und 70er Jahren vor dem Hintergrund des RAF-Terrors.
Pichl analysiert, wie der Rechtsstaatsbegriff heutzutage von allen demokratischen Parteien zur Umsetzung von »Law and Order«-Politik genutzt und dadurch umgedeutet wird. »Letzten Endes wird der demokratische Diskurs durch einen ordnungspolitischen Rechtsstaatsbegriff verengt« (S. 121).
»Nicht die angeblich fehlende ‘Härte’ ist die Gefahr für den Rechtsstaat, sondern die galoppierende Erosion seines ursprünglichen auf den Schutz des Einzelnen zielenden Gehalts.« (S. 17) Es drängt sich die Frage auf, ob die ordnungspolitische Verwendung des Begriffs im öffentlichen Diskurs als Grund für die Erosion des Rechtsstaatsbegriffs nicht überbewertet wird. Ob die Politik von der »Härte des Rechtsstaats« oder »der Härte des Staats« spricht, scheint gleichgültig. Auf die rechtlichen Garantien, die sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergeben, hat das keinen Einfluss. Außerdem ist das Grundgesetz grundsätzlich offen für Sicherheits- und Ordnungspolitik. Diese Interessen müssen – als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips – in einen verhältnismäßigen Ausgleich mit anderen Rechten und Verfassungsnormen gebracht werden.
Der rassistische Kern
Das Problem liegt weniger in der ordnungspolitischen Verwendung des Rechtsstaatsbegriffs, sondern vielmehr im rassistischen Kern der Diskurse über Sicherheit und Ordnung – Ausländer*innen und rassifizierte Personen werden als Sicherheitsrisiken gesehen – sowie den zahlreichen Rechtsverletzungen, die mit dieser Ordnungspolitik einhergehen.
Nicht zufällig bieten die Debatten über Asyl- und Migrationspolitik, Rassismus in der Polizei und sogenannte Clankriminalität so viel Stoff für Pichls Analyse. Doch auch in Debatten über den Umgang mit zivilem Ungehorsam von Klimaaktivist*innen der Letzten Generation beziehen sich Parteien auf den Rechtsstaatsbegriff. Pichl zeigt auf, dass bei gleichzeitiger Beschwörung der Härte des Rechtsstaats rechtsstaatliche Grundsätze verletzt werden.
Die von Pichl angesprochene Kaperung des Rechtsstaats durch die Neue Rechte lässt sich in diesem Zusammenhang auch als strategische Einflussnahme auf die Debatten verstehen. Die AfD verfolgt nicht nur eine ähnliche Strategie, sondern beeinflusst mit erfolgreicher Themensetzung die Debatten – und wird wiederum selbst stark von der Neuen Rechten beeinflusst.
Wie diese autoritären Entwicklungen den Rechtsstaat zersetzen können, zeigt sich exemplarisch in den Entwicklungen in Ungarn und Polen, denen das Buch sich zuwendet. Die Krise der Rechtsstaatlichkeit findet aber nicht nur Ausdruck in den sich autoritär entwickelnden Mitgliedsstaaten, sondern auch in der EU selbst, die etwa Menschenrechte an den EU-Außengrenzen missachtet.
Pichls Studie bietet einen lesenswerten Streifzug durch die innenpolitisch brisantesten Themen unserer Zeit. Anhand der zahlreichen Fronten im Deutungskampf um den Rechtsstaatsbegriff zeigt der Autor auf, wie fragil dieser gegenüber autoritären Entwicklungen ist. Insbesondere demokratische Parteien befeuern diese Entwicklungen, wenn sie sich von Rechts die vermeintlichen Probleme und deren Lösungen vorgeben lassen. Zur Abwehr dessen plädiert Pichl für die Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit gepaart mit progressiver Kritik. Doch alles Schritt für Schritt. »Law statt Order wäre schon das Bessere.« (S. 236)
Berkan Kaya ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kritik des Rechts von Felix Hanschmann an der Bucerius Law School in Hamburg und Vorstandsvorsitzender des Postmigrantischen Jurist*innenbunds.