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"Law statt Order. Der Kampf um den Rechtsstaat" von Max Pichl

Rezension von Berenice Böhlo

Der Rechts-und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl behandelt in seinem aktuellen Buch die zentrale Stellung des Begriffs des Rechtsstaats in aktuellen politischen Debatten. Pichl belegt diese Feststellung unter anderem, in dem er Plenarprotokolle des Bundestages auswertet und zeigt, dass der Begriff erstmals im Deutschen Herbst 1977 Hochkonjunktur hatte.

Beim Blick auf die Begriffsgenese und dessen historisch progressiven Gehalt zeigt Pichl, dass der Begriff zwar deutungsoffen und deutungsnotwendig ist, aber weder beliebig noch neutral. Laut dem Autor erfolgt eine Umdeutung und Zweckentfremdung des Rechtsstaatsbegriffs hin zu einer einseitig ordnungspolitischen Aufladung. Diesen Umdeutungsprozess untersucht Pichl anhand von vier exemplarischen Debatten im Bereich Asyl, Rassismus in der Polizei, der sogenannten Clankriminalität sowie der Letzten Generation.

Hier erfolge eine Verschiebung vor allem auf symbolische Handlungsfelder. Auf diesem Boden agiere dann die Rechte mit dem Ziel, den Begriff zu kapern, denn für ihre Metapolitik sei der Kampf um Begriffe zentral, so Pichl. Er zeigt die sich gegenseitig verstärkenden Wechselwirkungen zwischen rechter und konservativer Ordnungspolitik auf. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Rechtsstaatskrise in der Europäischen Union, stellt Pichl zum einen das Agieren von Ländern wie Ungarn und die Reaktion der EU dar.

Zum anderen thematisiert er die »leisere« Krise der Rechtsstaatlichkeit der EU selbst, wie sich an der Austeritätspolitik und der Entrechtung von Menschen an den Außengrenzen festmachen lasse. Das Europäische Rechtsstaatprojekt sei, so Pichl, durch »(…) Kontinuitäten rassistischer und (neo-) kolonialer Ausschließungsmechanismen« von Anfang an begleitet gewesen.

Den Rechtsstaat verteidigen

Am Ende des Buches argumentiert der Autor, dass die Verteidigung und Weiterentwicklung des Begriffs des Rechtstaats eines der zentralen Felder progressiver Rechtspolitik sein sollte. Er warnt zugleich vor einem allzu naiven Bezug auf ein Recht. Es gehe darum, den Rechtsstaat als Instrument und Garant der Realisierung eigener Interessen begreifbar zu machen. Bündnisse seien zwischen progressiven und liberalen Stimmen zu schließen mit dem Ziel sozialökologischer Transformation jenseits des Nationalstaats. Denn, und daran lässt Pichl keinen Zweifel, in der herrschenden ökonomischen Ordnung ist eine Gesellschaft der Gleichen und der Vielen nicht herstellbar.

Methodisch ist dieses überaus lesenswerte Buch eine Mischung aus Essay und Sachbuch. Vielleicht wäre eine stärkere Straffung des Stoffs sinnvoll gewesen und es könnte kritisch angemerkt werden, dass Widerstände im Rahmen der Umdeutung und Usurpation des Rechtsstaatsbegriffs mehr Raum hätten erhalten können. Dies aber sind Details, die die große Relevanz des Buches in keiner Weise schmälern. Dessen herausragende Bedeutung liegt in der inhaltlichen, zeitlichen und transnationalen Verdichtung des Stoffes sowie seiner Einordnung in die zu erwartenden sich vertiefenden politischen Krisen, dem erstarkenden Autoritarismus in westlichen Demokratien bei gleichzeitiger Notwendigkeit der sozialökologischen Transformation.

Die rechte und auch konservative Ordnungspolitik bedient sich des Rechtsstaats immer dann, wie Pichl ausführt, wenn die rechtliche Sicht tatsächlich uneindeutig ist und eigentlich ein Abbau von Rechten das Ziel ist. Genau diese Uneindeutigkeiten sind zu identifizieren und zu benennen und mit unseren Visionen positiv auszufüllen. In Zeiten des massiven Angriffs auf den Rechtsstaats kann die Antwort nur dessen Verteidigung und Vertiefung sein.

Am Beispiel der Zurückweisung von Flüchtenden an den Grenzen bedeutet dies, sich nicht an der Darstellung des darin liegenden Rechtsbruchs abzuarbeiten, sondern jede Stellungnahme und Kritik klug mit einer Vision freier Zirkulation und der Vision offener Gesellschaften sowie Gerechtigkeit durch faire Verfahren zu verknüpfen. Eine Gegenstrategie zur herrschenden Umdeutung braucht ein umfassendes Narrativ, in dem die Verteidigung und der progressive Ausbau des Rechtsstaats eine zentrale Rolle spielen.

Es geht beim Kampf um den Rechtsstaatsbegriff nicht nur um juristische Auseinandersetzungen, darum aufzuzeigen, wo die Grenzen des Rechtsstaats liegen oder wann verfassungswidrig argumentiert wird, sondern zugleich zu benennen, in welcher Gesellschaft nach welchen Regeln diese Gesellschaft leben will. Es ist klar: Die Rechten haben ihr eigenes Rechtsstaatsprojekt, haben wir dieses auch?

 

Berenice Böhlo ist Rechtsanwältin im Bereich Migration und Asyl sowie Mitglied des RAV-Vorstands. Sie lebt und arbeitet in Berlin.