Mit App in eine Welt ohne Ausbeutung
Ein Gespräch mit der Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA)
Vivian Kube im Gespräch mit Sebastian und André von IDA
Diese Utopie setzt an einer Wurzel des kapitalistischen Systems an: der Lohnarbeit. Durch eine App soll die Arbeitszeit genau erfasst und gerechter verteilt werden. Waren sollen nicht mehr für Profite, sondern nur noch für Menschen produziert werden. Ob dadurch das Leistungsprinzip aufgehoben, Planwirtschaft und Betrug verhindert und die verschiedenen Fähigkeiten von Menschen berücksichtigt werden können, beantwortet die Gruppe Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung (IDA) im Gespräch mit RAV-Mitglied und InfoBrief-Redakteurin Vivian Kube.
Vivian: Wer seid Ihr denn und wie kam es zu der Gründung Eures Vereins?
Sebastian: Der Verein hat sich gegründet, nachdem wir einen fast einhundert Jahre alten Text von der »Gruppe Internationaler Kommunisten« (GIK) entdeckt und in einem Lesekreis gelesen haben. Darin wird die Arbeitszeitrechnung beschrieben, eine gut ausformulierte kommunistische Theorie, die zeigt, wie eine postkapitalistische Gesellschaft funktionieren kann. Davor war ich einige Jahre bei Amazon als Betriebsrat und gewerkschaftlich aktiv.
André: Ich bin erst später zur IDA dazu gekommen. Ich habe Geschichte und Philosophie studiert, interessiere mich für politische Theorie und habe mich viel mit der Frage beschäftigt: Wie könnte man eigentlich eine sozialistische Gesellschaft organisieren? In der Geschichte gibt es vor allem viele negative Beispiele. Und die Frage ist natürlich immer: Wie organisiert man das denn jetzt anders? Ich fand den Räteansatz immer sehr interessant. Aber offen blieb, wie man eine Ökonomie ausgestalten kann, die sich von Prinzipien der Marktwirtschaft und des Staatseigentums entfernt und in der zugleich die Menschen ihren wirtschaftlichen Organismus selbst verwalten. Zu Sebastians Lesekreis habe ich erst einmal »Nö« gesagt. Aber als er darauf bestand, dass ich unbedingt dieses Buch lesen soll, tat ich das und es war ein Augenöffner.
Vivian: Was macht die Arbeitszeitrechnung denn so interessant und erfolgversprechend?
André: Die Grundidee ist, dass Arbeiter*innen ihren Betrieb selbst verwalten, in Form von Betriebsräten. Aber nicht so wie Betriebsräte, wie wir sie kennen, sondern mit sehr viel mehr Gestaltungsmacht. Nach dieser Theorie haben sie die Planungsautonomie, sie erstellen die Produktionspläne für ihren Betrieb. Das ist ein großer Unterschied zu gewöhnlichen Konzepten von Planwirtschaft, in denen es meist eine zentrale Planung gibt, für die sich irgendwo schlaue Köpfe Gedanken machen, welche Bedürfnisse es in der Gesellschaft gibt. Anders ist es nach dieser Theorie, da ist dieser Vorgang dezentralisiert, die Betriebe haben Planungsautonomie, aber die Arbeiter*innen sind nicht die Eigentümer*innen der Betriebe. Sie verwalten die Betriebe stellvertretend für die Gesellschaft. Die Pläne, die sie erstellen, müssen auch von der Gesellschaft kontrolliert werden. Die Gesellschaft ernennt Delegierte, die die Buchhaltung und Pläne der einzelnen Betriebe prüfen.
Vivian: Wie funktioniert in Eurer Utopie die Planung?
André: Da die Betriebe kalkulieren müssen, braucht es eine Planungsgröße, eine Recheneinheit. Im Kapitalismus ist die Recheneinheit das Geld. Das Geld soll aber im Sozialismus unserer Ansicht nach überwunden werden. Also braucht es eine andere Planungsgröße. Da kommt die Arbeitszeit ins Spiel. Das ergibt Sinn, weil alle Produkte, die Menschen produzieren, Arbeitsprodukte sind und dafür also eine gewisse Zeit verausgabt worden ist. Pläne zu erstellen ist einfach: Die Produktionsmittel, also die Maschinen, die benötigt werden, addiert man zu den Rohstoffen, die verarbeitet werden. Beides sind ja Produkte, für die schon Arbeit verausgabt worden ist. Diese addiert man mit der im Betrieb aufgewendeten menschlichen Arbeit. Diese Zeitsumme wird geteilt durch die Menge an Produkten, die produziert worden sind. Das Ergebnis ist der Arbeitsaufwand für jedes einzelne Produkt und zu diesem Aufwand können die Produkte dann abgegeben werden an die Gesellschaft. Die Arbeiter*innen erhalten für die Produkte, die sie schaffen, Arbeitszeitzertifikate, das ist ein Schein, der bestätigt: So viel Arbeit habe ich geleistet. Im Austausch für diese Zertifikate können Sie dann Produkte erhalten und konsumieren.
Vivian: Das klingt nach einem leistungsbasierten Konzept.
Sebastian: Das ist es auch teilweise, auf der anderen Seite bekommt jede*r für eine Stunde Arbeit das gleiche wie der*die andere. Es gäbe dann keine Unterschiede zwischen globalem Norden und Süden, zwischen Frauen und Männern, Kopf- und Handarbeiten mehr. Ein anderer Vorteil ist: Durch diese Arbeitszertifikate ist der Konsum frei. Also die Arbeiter*innen bekommen Zertifikate und was sie davon erwerben, ist ihnen freigestellt. Das erlaubt eine größere Vielfalt im Konsum als wenn, wie im Staatssozialismus, zentral geplant und zugeteilt wird.
André: Die Kritik am Leistungsprinzip kommt von linken Gruppen häufig, aber das Leistungsprinzip soll ja nach dieser Theorie aufgeweicht werden, indem immer mehr Produkte ohne Gegenleistungen entnommen werden können. Das ist wichtig, weil es ja auch jede Menge Menschen in einer Gesellschaft gibt, die gar nicht arbeiten können. Und die müssen natürlich auch versorgt werden. Dies geschieht durch einen öffentlichen Sektor, dessen Kosten allen Arbeiter*innen durch ein Berechnungsverfahren vom Konsum abgezogen werden. Die Pläne sind in diesem Konzept entscheidend.
Vivian: Wer erstellt und kontrolliert die Pläne?
André: Die sind nicht beliebig, sondern werden von der öffentlichen Buchhaltung geprüft. Wie das? Nicht in erster Linie nach politischen Kriterien, sondern nach sachlichen und ökonomischen. Dabei werden die Pläne mit denen der Vorjahre verglichen, es wird geschaut: Habt ihr in der Vorzeit sinnvoll geplant? Gab es überhaupt Bedarf in der Gesellschaft oder müssen wir nach oben oder unten korrigieren? Der Betrieb bekommt dann ein Guthaben gutgeschrieben mit der Stundenanzahl, die in der Planung angegeben wurde. Über dieses Guthaben können Betriebe von anderen Betrieben die entsprechenden Mengen an Produktionsmitteln und Rohstoffen beziehen, um damit ihre Produktion ins Laufen zu bringen. Und so hat man eine dezentrale Planwirtschaft, die gesamtgesellschaftlich abgestimmt ist.
Vivian: Ich verstehe noch nicht ganz den Unterschied zu einer Geldwirtschaft, in der man eine gerechte Lohnverteilung erreicht hat?
Sebastian: Die Grundvoraussetzung für diese Theorie ist, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln abgeschafft wird, indem die Betriebe von den Arbeiter*innen selbst übernommen werden. Damit ist der erste Schritt getan, um Ausbeutung abzuschaffen. Es stellt sich dann aber die Frage, wie gewirtschaftet werden kann, ohne dass wieder neue Hierarchien oder Bürokratien entstehen. Hier kommt die Arbeitszeitrechnung ins Spiel. Sie gibt den Arbeiter*innen die Möglichkeit, die gewonnene Macht auch zu erhalten und nicht an einen Staat zu verlieren.
André: Es gibt einen Theoretiker namens Hermann Lueer, der diese Theorie vor ein paar Jahren neu aufgelegt hat. Er hat sehr schön gesagt, dass Geld und Arbeitszertifikate nicht Dinge sind, die einfach nur gewisse Ähnlichkeiten miteinander aufweisen, sondern dass sie das Ergebnis verschiedener Produktionsverhältnisse sind. Wenn Produktionsmittel vergesellschaftet werden, stehen Arbeiter*innen in einem ganz anderen Verhältnis zu ihrem Betrieb. Das läuft dann nicht mehr nach dem Motto: Ich geh’ dahin, kriege Lohn und mir ist das eigentlich total egal, was in diesem Betrieb bestimmt wird. Im Gegenteil: Die Menschen sollen mitbestimmen in der Produktion und sich dadurch letztlich auch als Teil des gesellschaftlichen Organismus, der gesamtgesellschaftlichen Arbeit, verstehen und auch in diesem Sinne Verantwortung übernehmen.
Vivian: Aber der Markt bliebe erhalten, auf den die Menschen ihre Arbeitskraft tragen müssen und auf dem diese, sei es auch in Form von Zeitzertifikaten, gehandelt wird?
André: Anders als Geld können die Arbeitszertifikate, wie wir sie uns vorstellen, nicht beliebig gehandelt und eingetauscht werden. Man kann sie für Konsumgüter bei einer Konsumgenossenschaft einlösen und dann werden die Zertifikate vernichtet. Sie lassen sich nicht beliebig übertragen. Sonst könnte man ja wie in der Marktwirtschaft gucken: Gibt es jemanden, der/die das billiger macht? Und dann würde eine Schattenwirtschaft entstehen. Das soll so verhindert werden. Das bedeutet auch, und das ist auch ein häufiges Missverständnis, dass Betriebe die Zertifikate nicht benötigen, um sich zu erhalten. Betriebe sind nicht wie im Kapitalismus auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, dass sie die Kosten, die sie haben, wieder reinholen und dann auch noch Profit machen, sondern da geht es wirklich nur um Kommunikation in der Planung. Wird ein Betrieb weniger Produkte los, als er in der Planung angegeben hat, muss er seine Angaben in der nächsten Runde eben nach unten korrigieren.
Sebastian: Es gibt weder Preise noch Märkte im kapitalistischen Sinn. Im Kapitalismus stellen sich die Preise ja hinter dem Rücken der Produzent*innen auf dem Markt her. Stattdessen weiß die Gesellschaft in der Arbeitszeitrechnung direkt, wie viel Zeit die Produkte zur Herstellung benötigt haben, das ergibt sich automatisch und transparent aus den Plänen. Ein Beispiel: Wenn ein Betrieb sagt, er braucht 1000 Stunden, um eine Drehmaschine herzustellen, dann wird dieser Plan überprüft. Und wenn er genehmigt wird, dann hat diese Drehmaschine eben einen »Preis« von 1000 Arbeitsstunden. Der stellt sich aber nicht hinter dem Rücken, also unbewusst heraus, sondern es ist eine bewusste Entscheidung der Gesellschaft. Erst sagt der Betrieb, wie lange er braucht und dann sagt die öffentliche Buchhaltung, ob sie das akzeptiert.
Vivian: Wie wird in einem solchen System sichergestellt, dass Menschen es nicht ausnutzen, also dass manche viel weniger arbeiten als andere?
André: Vertrauen und Kontrolle sind wichtige Stichworte. Man braucht beides. Zum einen denken wir, dass durch die Selbstverwaltung Verantwortung statt Gleichgültigkeit entsteht. Gleichzeitig gehen wir nicht von einem neuen Menschen aus. Also es gibt ja auch durchaus utopische Ansätze, die sagen, na ja, wenn sich erst mal die gesellschaftlichen Verhältnisse verändert haben, dann werden auch ganz andere Menschen plötzlich auf den Plan treten und dann braucht es keine Kontrolle mehr und keine Polizei. Wir denken hingegen, Kontrolle ist nach wie vor wichtig. Und das würde ja die Buchhaltung übernehmen, über die sich die Gesellschaft selbst kontrollieren kann. Das, was auf der Grundlage ihrer Pläne an die einzelnen Betriebe kommuniziert wird, kann von jedem in der Gesellschaft eingesehen werden. Es wäre eine öffentliche Buchführung.
Und dadurch gibt es eine verlässliche Grundlage, um politische Diskussionen zu führen. Man kann dann einfach sehen: Wie viel planen die denn? Das macht doch überhaupt keinen Sinn, da stimmt doch was nicht. Die schreiben sich irgendwie 14 Stunden pro Tag auf. Betrug im kleinen Maßstab, dass man sich mal eine Stunde mehr aufschreibt, wird man wahrscheinlich nicht so leicht verhindern können. Aber das ist ja nicht so schlimm. Es ist auch im Sinne der Arbeiter*innen, dass ihr Arbeitstag nicht so intensiv ist, und in möglichst kurzer Zeit möglichst viel geschuftet werden muss, sondern auch, dass die Arbeit entspannter wird. Aber ab einer bestimmten Höhe würde der Betrug auffallen und da kann man als Gesellschaft intervenieren.
Vivian: Jenseits von Betrug: Menschen bringen unterschiedliche Fähigkeiten und Voraussetzungen mit. Eine Person arbeitet gerne länger und nimmt sich gerne mehr Zeit für Arbeit und andere sind sehr effektiv. Wie kann man das berücksichtigen?
Sebastian: Das ist im Kapitalismus natürlich ein Riesending. Wenn da jemand mal eine Stunde langsam arbeitet, bekommen die Manager*innen gleich die Krise, weil die Betriebe in der Konkurrenz um ihre Existenz kämpfen müssen. In einer kooperativen Wirtschaft, das ist jedenfalls unsere Hoffnung, sind solche Fragen viel weniger relevant. Auch in der Arbeitszeitrechnung kann man die Produktivität von Betrieben aber vergleichen. Es ist sichtbar, wenn ein Betrieb dreimal so lange braucht, um ein Produkt herzustellen, als ein anderer.
Die »Gesellschaft«, und damit kann ein Gesamtrat oder Branchenverband oder ein anderer Zusammenschluss gemeint sein, kann dann überlegen: Warum braucht der Betrieb so viel länger, braucht er modernere Produktionsmittel oder gibt es ein anderes Problem? Wird da vielleicht tatsächlich betrogen? Durch die gemeinsame Recheneinheit wird überhaupt erst möglich, dass die Gesellschaft solche Ungleichgewichte erkennt. Welche Schlüsse daraus gezogen werden, ist eine Frage, die der jeweiligen Gesellschaft zukommt. Die können wir abstrakt nicht beantworten.
André: Das Schöne an dem Ansatz ist, dass er viele Lösungen zulässt. Es ist nicht so, dass diese Utopie schon fertig entwickelt ist und man sie jetzt nur noch in die Welt hieven muss, sondern das sind erstmal nur ökonomische Grundbedingungen. Aber auf dieser Grundlage lassen sich Probleme unterschiedlich lösen, Kreativität ist gefragt. Bei dem Problem, das du genannt hast, sind mehrere Ansätze denkbar: Leute, die mehr arbeiten wollen, weil sie einen höheren Konsum-Anspruch haben, können das machen. Es kann aber auch sein, dass man das Niveau der Gleichheit stärker gewichten will. Dann könnte man zum Beispiel feste Arbeitstage vereinbaren.
Vivian: Ich habe mal bei einer Zeitbank-App mitgemacht. Da habe ich zwei Stunden Kuchen gebacken, das in einer App eingetragen, und dann hat jemand zwei Stunden meine Küche aufgebaut. Inwiefern unterscheidet sich Euer Konzept davon?
Sebastian: In der Geschichte taucht immer wieder diese Idee auf, dass man die Arbeitszeit als Maß und Grundlage von Kooperation nimmt. Das gab es schon im 19. Jahrhundert mit Robert Owen in England und den USA. Das gibt es heutzutage in Barcelona, in Rom und in anderen Städten mit Zeitbanken. Es gibt auch globale Zeitbanken-Apps. Die Zeitbanken sind aber immer beschränkt auf Dienstleistungen. Da wirst du zum Beispiel kein Fahrrad erwerben können, weil es keine Möglichkeit gibt, zu berechnen, wie viele Stunden es gebraucht hat, dieses Fahrrad zu produzieren. Also findet man dort nur Rasenmähen, Englischkurse, eben Dienstleistungen, weil es kein Plansystem ist. Das unterscheidet die Arbeitszeitrechnung wesentlich von diesen Zeitbanken.
Vivian: Wieso wurde die Idee der Arbeitszeitrechnung bisher kaum umgesetzt?
André: Ich glaube, das liegt daran, dass andere Strömungen innerhalb der Arbeiter*innen-Bewegung sich durchgesetzt haben. Die sozialistische Planwirtschaft, die heute meist anhand der Sowjetunion beurteilt wird, hat dort nicht funktioniert, weil sie zu nah an der kapitalistischen Logik geblieben ist, mit Mechanismen wie Konkurrenz zwischen Betrieben. Die Sozialdemokratie erlag dem Irrglauben, den Kapitalismus durch Reformen zu einem Sozialismus umwandeln zu können. Bei beidem besteht weiterhin eine große Abhängigkeit von Markt, Geld usw. Dagegen sind Rätekommunist*innen am Ende der 1920er Jahre zu Außenseitern geworden. Dann kam der NS. In der 68er-Bewegung wurde das Konzept wieder hier und da diskutiert, aber nicht umgesetzt, der Fokus lag zu dieser Zeit auf dem Kampf gegen den Staat. Aktuell verzeichnen wir, zumindest was Zeitschriften, Podcasts oder Bücher angeht, dass man sich wieder mehr für Planwirtschaft interessiert. Insofern ist die Idee nicht veraltet, sondern war eigentlich ihrer Zeit weit voraus.
Vivian: Und wie kann man das durchsetzen? Ihr habt dazu eine App entwickelt, wie funktioniert die? Kann ich diese Theorie denn so einfach umsetzen, inmitten kapitalistischer Strukturen.
Sebastian: Technisch gesehen ist die Arbeitszeitrechnung heute umsetzbar, man sieht das ja auch an den Zeitbanken. Natürlich funktioniert es, Zeit als Maß zu verwenden. Aber ab wann sich wirklich eine andere, nicht-kapitalistische Dynamik entwickelt, das kann man so allgemein nicht beantworten. Unabhängig davon ist das Interessante an dieser Theorie aber: Man muss nicht auf die große Revolution warten oder nur akademisch arbeiten, um schon Erfahrungen zu machen. In diesem Sinn versuchen wir, Kollektivbetriebe zu überzeugen, es doch mal mit Arbeitszeit zu probieren.
Es gibt alleine in Deutschland ja hunderte, die im Großen und Ganzen schon die richtige Vorstellung haben, wie die Ökonomie laufen sollte, nämlich ohne Hierarchien und demokratisch. Viele wollen sich auch besser vernetzen und tun das auch schon.
Vor daher glauben wir, dass die Kollektivbetriebe ein guter Resonanzboden sein könnten, auf dem zumindest experimentiert werden kann: Mit welchen technischen Hilfsmitteln kann gearbeitet werden, wie müssen die ausgestaltet sein, damit es auch in größerem Rahmen funktioniert? Mit unserer App wollen wir die technische Seite der Arbeitszeitrechnung, also die Arbeitszeitkonten, Formulare für die Planeinreichung, Transaktionen usw. zur Verfügung stellen.
André: Man muss schon ehrlich sein: Es ist sehr schwierig, so ein System innerhalb der Marktwirtschaft zu entwickeln. Man muss sich dann auch Gedanken darüber machen, wie sich gewisse Arbeitszeitzertifikate oder Arbeitszeitgrößen in Geldgrößen übersetzen ließen. Denn solange diese Ökonomie noch sehr klein ist, brauchen selbstverwaltete Betriebe Güter, Produktionsmittel und Rohstoffe aus marktwirtschaftlichen Kreisläufen. Dazu braucht es ein Transfersystem. Auch dazu gibt es Überlegungen. Aber das ist für selbstverwaltete Betriebe nicht sonderlich attraktiv, weil es erst mal mehr Aufwand bedeuten würde.
Sebastian: Die besetzten Betriebe in Argentinien sind ein Beispiel dafür, dass das Konzept gerade in Krisenzeiten relevant werden kann. Und da ist es natürlich wichtig, dass gesellschaftstheoretisch und rechtlich die Grundlagen schon ansatzweise entwickelt sind, und zum Beispiel auch von Jurist*innen die rechtlichen Rahmenbedingungen durchdacht worden sind, insbesondere mal geschaut wird, was im Hier und Jetzt schon möglich ist.
Vivian: Wäre das auch etwas für Jurist*innen? Wie könnte zum Beispiel eine Kanzlei von Rechtsanwält*innen da jetzt einsteigen? Also: Was müssten sie tun, wo müssten sie sich hinwenden? Gibt es eine Beratungssprechstunde für neue Betriebe? Bei welchen bestehenden kann man mal vorbeischauen? Website? usw.
Sebastian: Also wir treffen uns jeden dritten Freitag im Monat zum Stammtisch in Berlin, da kann man einfach unverbindlich vorbeischauen, um uns kennenzulernen. Oder Montags bei unseren wöchentlichen Online-Vereinssitzungen. Auch juristisch gibt es noch viel zu tun. Es wäre zum Beispiel toll, wenn uns Anwält*innen dabei helfen würden, einen Leitfaden für Betriebe zu verfassen, die mit unserer App Arbeitszeitrechnung umsetzen wollen. Da stellen sich ja einige interessante rechtliche Fragen.
Die beiden Interviewten verzichten an dieser Stelle auf Angaben zu sich als Person und verweisen stattdessen auf den Blog ihrer Gruppe Initiative Demokratische Arbeitszeitrechnung: arbeitszeit.noblogs.org
Geführt hat das Interview Vivian Kube. Sie ist Rechtsanwältin in Berlin, beschäftigt sich seit Jahren damit, was ein gutes Leben ist und macht stets pünktlich Feierabend. Dann denkt sie zum Beispiel über unser Verständnis von Zeit nach oder liest Texte wie »Grundprinzipien Kommunistischer Produktion und Verteilung« von der Gruppe Internationaler Kommunisten.