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Keine Utopie

Besser aufgefangen werden nach sexualisierter Gewalt

Ravna Marin Siever

Für Frauen, Lesben, Inter, nichtbinäre, trans und agender Personen (FLINTA) ist eine Welt ohne sexualisierte Gewalt kaum vorstellbar. Helfen würde, wenn wir Betroffenen wenigstens zuhören, glauben und sie besser unterstützen würden. Wie das ginge und was es dafür braucht? Lest selbst. Achtung: In diesem Beitrag wird explizit häusliche, korrektive1 und sexualisierte Gewalt dargestellt.

Die erste Vergewaltigung, der erste sexualisierte Übergriff, das erste Catcalling, die erste Hand auf dem Bein, viel zu weit oben, aber er hört nicht auf, es hört nicht auf, es hört nie auf. Gleich eines Initiationsritus für junge Mädchen zur Aufnahme in unsere patriarchale Gesellschaft erlebt fast jede früher oder später diese Art der Gewalt. Es gehört dazu. Als Frau wird man nicht geboren, zur Frau wird man zurechtsexualisiert, objektiviert, benutzt. Die eigene Identität im Frausein oder »keine Frau, aber auch kein Mann sein« muss aus den Klauen der Gewalt erobert werden.

Wir träumen von einer Welt, in der Männer nicht gefährlicher sind als Bären. In der einer geglaubt wird, wenn sie von Vergewaltigung, häuslicher Gewalt oder Belästigung erzählt. Schon das erscheint uns wie eine Utopie. Eine Utopie, in der Frauen und frauisierte Personen2 gar keiner Gewalt ausgesetzt sind, die träumen wir gar nicht erst. Denn wir wissen, dass das schlicht unmöglich ist. Aber wir können uns Dinge vorstellen…

Dinge, die die Welt besser machen würden:

  • Dass jede, die Gewalt erfährt, schnell und unkompliziert Unterstützung erhält.
  • Dass es in ganz Deutschland ein Netz gibt, das gewaltbetroffene Frauen und frauisierte Personen auffängt, trägt und aus der Gewalt heraushilft. Also ein Netz aus Beratungsstellen, Ärzt*innen, Übersetzer*innen, FLINTA-Häusern, Anwält*innen, Therapeut*innen, usw.
  • Dass dieses Netz mitdenkt, wenn eine behindert, arm, migrantisch oder nicht weiß ist, wenn eine kein Deutsch spricht oder trans ist – oder all die anderen möglichen Intersektionen, also Überschneidungen von Diskriminierungen, die das Leben noch komplexer machen, als es ohnehin schon ist.
  • Dass für dieses Netz gut aus- und fortgebildetes Personal zur Verfügung steht. Menschen, die antifeministische Narrative erkennen und die strukturellen Auswüchse von diesen durchbrechen wollen. Die Sexismus und Misogynie nicht reproduzieren. Die wissen, dass Männer vor Gericht häufiger lügen als Frauen, und die wissen, dass Daten zu nichtbinären Menschen in Statistiken wie diesen oft gar nicht erst erhoben werden.
  • Dass es eine Rechtsprechung gibt, die sich gründlich selbst hinterfragt und erneuert, die die Gleichwertigkeit von Menschen zum obersten Gebot macht, nicht nur zu einem Paragrafen, sondern zu einer grundsätzlichen Haltung. Der Uterus, schreibt Mareike Fallwickl in »Und alle so still«, sei das einzige menschliche Organ, über das es Gesetze gibt. Menschen mit Uterus (und Menschen, bei denen gemutmaßt wird, dass sie einen (gehabt) haben könnten) sind eben nicht vor dem Gesetz gleich.
  • Dass Medien überwiegen, die uns eine Bühne bieten statt den Tätern. Die nicht eine reißerische Headline produzieren, Hauptsache Emotionen, Hauptsache Klicks, Hauptsache Absatz: „Hat SIE sein Leben ruiniert? Frau berichtet, [Mann mit Namen] habe sie angefasst – steht SEINE Karriere nun auf dem Spiel? Wir reden exklusiv mit IHM«.
 

Schnell in Sicherheit nach häuslicher Gewalt

Lasst uns die Augen schließen und träumen: Eine hat Probleme mit ihrem Mann. Erst waren es nur wütende Worte ab und an. Dann kam der erste feste Griff, die erste Ohrfeige. Jetzt ist ihr Auge blau und am Hals sind Würgemale. Die Kinder standen daneben. Er geht noch einen trinken, lässt sie allein. Sie nimmt die Kinder und geht. Geht in ein Haus, das Platz für sie und ihre Kinder hat. Sie bekommt dort direkt eine Übersetzerin zur Seite gestellt. Sie wird untersucht von Ärzt*innen, die alles fachgerecht dokumentieren. Sie hat Zugang zu einem Netzwerk aus Jurist*innen, die Kapazitäten und Fachkenntnis haben und sich ihres Falls annehmen. Sie muss vor Gericht nicht dem Täter begegnen. Sie muss nicht mit ihm über Umgang, Termine oder neue Turnschuhe für die Kinder diskutieren. Falls er die Rechte dazu noch hat, so wird die Kommunikation begleitet und gestützt nach ihren Wünschen. Oder von anderen übernommen.

Fachstelle hilft Person nach sexualisierter Gewalt

Eines erlebt, wie der Binder von der Brust gerissen wird, der Mund zugehalten, die Beine auseinander gezwungen. Liegen gelassen wie ein kaputtes Plastikspielzeug. Erst hatte er nur komisch geguckt. Dann, als er es verstanden hat, gegrinst. »Ich zeig dir, dass du eine Frau bist. Musst deinen Körper nicht so verschandeln.« Mit drei Sätzen ist er bei xiem3. Der Zwiebelgeruch aus seinem viel zu nahen Mund. Seine Hände an intimen Stellen. Stellen, die xier umformt4, um sich wohler zu fühlen. Erstarren. Zu sich kommen. Xier sammelt die Kräfte und geht. Geht zu einer Fachstelle, die sofort helfen kann, beruhigt, berät und weiß, was jetzt zu tun ist. Geht zu Ärzt*innen, die fachgerecht dokumentieren. Geht zu einem Netzwerk aus Jurist*innen, …

Nachbar*innen schützen Sexarbeiterin vor Stalker

Eine wird bei der Arbeit von einem Freier belästigt. Erst ist er wie alle. Dann folgt er ihr, versucht zu erfahren, wo sie wohnt, steht eines Morgens mit Blumen vor ihrer Tür, stellt den Fuß schnell hinein, als sie rasch wieder zumachen will. Dringt mit Worten und dem Körper in ihr Zuhause ein. Aber die Nachbar*innen sind aufmerksam. Sie bemerken die lauten Stimmen. Sie lassen sich nicht beeindrucken von seinen Worten. Auch als er sie outet, als er erzählt, eine wie sie, die könne doch froh sein, einen wie ihn, ... Sie schützen ihre Nachbarin, bis er sich verzieht. Und sie geht. Geht zu einer Beratungsstelle, die sich mit Stalking auskennt. Die weder Sexarbeit noch Transsein verurteilt. Geht zu einem Netzwerk aus Jurist*innen, … Die drei treffen sich in einem Begegnungszentrum, in dem sie in einer Gruppe über die Gewalt reden können, die ihnen widerfahren ist. Keine*s von ihnen hat sich je allein gefühlt. Sie wussten, wo sie Hilfe bekommen können. Ihre Stimmen wurden gehört. Ihr Erleben hatte Gewicht. Sie können es verarbeiten und heilen.


Ravna Marin Siever hat Philosophie, Germanistik und International Management studiert und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit gender- und queer-theoretischen Ansätzen. Siever hat 2022 das Buch »Was wird es denn? Ein Kind! – Wie geschlechtsoffene Erziehung gelingt« im Beltz-Verlag veröffentlicht und arbeitet derzeit als Referent*in im Zukunftsforum Familie.

1    Korrektive sexualisierte Gewalt ist sexualisierte Gewalt, die aufgrund von sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität einer Person verübt wird, um die vermeintliche Normabweichung zu korrigieren.
2     Das Wort ‚frauisiert‘ soll verdeutlichen, dass soziale Kategorien wie Geschlecht durch Diskurse, Prozesse und Verhalten erst hergestellt werden. Keine Person ist einfach so ‚Frau‘, sondern wird zur Frau gemacht, also frauisiert, und/oder frauisiert sich selbst. Auch Menschen, die keine Frauen sind, werden manchmal zu Frauen gemacht. Das betrifft Nichtbinäre und Trans- Personen aber auch Männer, die »unzureichend maskulin« erscheinen.
3    »xiem« wird hier als Pronomen genutzt, das anders als »er« oder »sie« geschlechtsneutral ist.
4    »Umformen« kann zum Beispiel bedeuten, dass xier beispielsweise einen Binder trägt, eine Art Kompressionsoberteil, welches die Brüste flacher erscheinen lässt, oder einen Packer, um die Optik eines Penis in der Hose zu erzeugen. Auch operative geschlechtsangleichende Maßnahmen sind möglich, für nichtbinäre Personen im deutschen Gesundheitssystem aber schwer zugänglich.