Facts for free
Der Traum einer informierten Gesellschaft
Arne Semsrott und Hannah Vos
»Mehr Transparenz«, »mehr öffentliche Kontrolle«, das sind altbekannte Forderungen der Zivilgesellschaft. Erreicht werden sie eigentlich nie. Aber was wäre, wenn doch? Inwiefern würde sich dann unsere Demokratie verändern? Warum wäre diese Welt sozial gerechter? Und wieso hätten Verschwörungserzählungen es dann schwerer? Eine kleine Utopie.
Endlich! Wir haben uns als Gesellschaft darauf geeinigt, dass der Wissensschatz des Staates und Informationen großer Unternehmen aus der kritischen Infrastruktur nicht nur einigen wenigen, sondern dass alles allen gehört. Herrschaftswissen ist weitgehend passé.
Rechtlich ist das Ganze abgesichert durch Transparenzgesetze, sowohl auf Bundesebene als auch in allen Ländern inklusive Bayern. Zusätzlich hat Deutschland die Tromsö-Konvention1 unterschrieben, die einen Mindeststandard an Transparenz auch völkerrechtlich garantiert. Die Gesetze verpflichten dabei nicht nur sämtliche staatliche Stellen, sondern auch privatrechtliche Unternehmen, deren Handeln Auswirkungen auf die Allgemeinheit hat. RWE, here we come!
In unserer transparenten Gesellschaft haben Menschen sehr leicht Zugang zu Informationen, der Aufwand ist so gering, in vielen Fällen ist nicht einmal ein Antrag nötig. Denn die informationspflichtigen Stellen müssen in einem von allen kostenfrei nutz- und durchsuchbaren Transparenzportal2 eine ganze Reihe von Informationen von sich aus veröffentlichen. Hierzu zählen Gutachten, Studien, Informationen über Subventionen sowie Verträge informationspflichtiger Stellen. Auch die wesentlichen Daten von Unternehmen, an denen informationspflichtige Stellen beteiligt sind, müssen ohne Antrag veröffentlicht werden, einschließlich der Vergütung der Leitungsebene. Ausnahmen vom Grundsatz der Transparenz gibt es nur bei entgegenstehenden Persönlichkeitsrechten oder zwingenden Sicherheitsbedenken.
Die neue Transparenz hat nicht nur Signalwirkung, sie hat auch klare Präventivwirkung: Da Behördenmitarbeiter*innen damit rechnen müssen, dass die von ihnen getroffenen Maßnahmen grundsätzlich publik werden und Verträge standardmäßig veröffentlicht werden, geht korruptives Verhalten stark zurück. Ob Maskendeals oder LKW-Maut-Desaster: Derart krasse Formen von Steuerverschwendung finden durch die Transparenzvorgaben nicht mehr statt. Wer jetzt noch Korruption mit staatlichen Geldern betreiben will, braucht dazu eine gehörige Menge krimineller Energie und Kreativität – die die meisten Beamt*innen nicht haben.
Aber auch auf der anderen Seite, nämlich für die Bürger*innen, führt die neue Transparenz zu erstaunlichen Veränderungen: Bürger*innen fällt es durch die Bereitstellung wichtiger Weisungen von Sozialbehörden deutlich leichter einzuschätzen, welche staatlichen Leistungen sie in Anspruch nehmen können. Eine gerechtere Verteilung staatlicher Mittel – vor allem auch vermittelt durch Sozialverbände – ist durch Transparenz möglich.
Die offenen Wissensschätze der Verwaltung sind auch ein Segen für den Wissensdurst der Bevölkerung. Ob Baumkataster, rechtliche Gutachten oder Luftdaten: Wer Interesse an einem Thema hat, findet in den virtuellen Aktenschränken der Behörden hilfreiches Material.
Nicht automatisch veröffentlichte Dokumente können Bürger*innen einfach über ein Online-System anfordern, so wie es schon seit Längerem in Norwegen möglich ist: Dort sind sämtliche Aktentitel der Verwaltung online einseh- und durchsuchbar.3 Wer sich dafür interessiert, kann sie in einen Online-Einkaufswagen legen und kostenlos bestellen. Sie werden dann durch die Behörden geprüft und herausgegeben.
Zudem gibt es ein striktes Aktenführungsgesetz: SMS, Whatsapp- und Signal-Nachrichten von Beamt*innen kommen genauso wie offizielle E-Mails in die Akten, wenn sie einen amtlichen Bezug haben. Dies gilt auch dann, wenn sie von privaten Mailadressen und Handys geschickt werden.4 Verstöße gegen das Gesetz werden geahndet, Minister*innen, die an den Transparenzvorgaben vorbei kommunizieren wollen, werden zum Beispiel mit einem temporären Handyverbot belegt.
Keine Angst vor Informationsfreiheit – Neue deutsche Fehlerkultur
Das führt zu einem Kulturwandel in der Verwaltung. Die extrem strengen Vorgaben zur Aktenführung mit strengen Sanktionen bei Missachtung haben dazu geführt, dass sich Behörden daran gewöhnt haben, auch Fehler zu dokumentieren (bzw. sie nicht nachträglich aus Akten zu entfernen).
Die Erkenntnis setzt sich durch: Irren ist menschlich. Aber vertuschen ist schlecht. Beamt*innen sind nicht unfehlbar und kommen manchmal nur über Trial und Error ans Ziel. Sie akzeptieren, dass es Anträge auf Informationszugang gibt und empfinden sie nicht als Bedrohung, sondern als demokratische Selbstverständlichkeit.
Dabei lassen sie sich auch nicht einschüchtern von Skandalisierungen wie den RKI-Files oder AKW-Files, also dem Hochschreiben eigentlich unspektakulärer Dokumente durch Kampagnen- und Verschwörungsblätter. Im Gegenteil: Weil Dokumente schnell und größtenteils ungeschwärzt herausgegeben werden, ist eine sachliche Diskussion über ihre Inhalte besser möglich und die Grundlage für Verschwörungserzählungen kleiner.
Alle machen mit
Nicht nur Leute aus Wirtschaft, Wissenschaft, Journalismus, Politik oder gebildete und gutbetuchte Personen stellen Anträge nach den Informationsfreiheitsgesetzen. Im Gegenteil: Gewerkschaften, NGOs, Menschenrechtsanwält*innen haben die Informationsfreiheit ebenso für sich entdeckt wie Personen, die Bürgergeld beziehen oder in einem Asylverfahren stecken.
Sie nutzen Informationen für gemeinsame Kampagnen, für die Skandalisierung von Missständen und für kraftvolle Recherchen. Dabei kommt ihnen zugute, dass informationspflichtige Stellen Anfragen binnen weniger Tage beantworten – und zwar in einer Sprache, die auch für Personen ohne zwei juristische Staatsexamen verständlich ist. Ablehnungen kommen nur in seltenen und gut begründeten Ausnahmefällen in Betracht. Kosten gibt es für den Informationszugang keine mehr.
Das senkt die Schwelle für die politische Beteiligung enorm. Soziale und politische Teilhabe wird durch den Zugang zu Informationen deutlich vereinfacht (wenngleich es für die Teilhabe noch weitere Hürden gibt, wie etwa die Bräsigkeit von Parteien und das veraltete Wahlrecht).
Gerichtsverfahren muss es daher kaum noch geben – und wenn doch, können die Informationsansprüche in der Regel im einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht werden.5 Denn neben dem Gesetzgeber haben auch die Gerichte verstanden, wie wichtig Transparenz als Grundlage für die Demokratie ist.
Arne Semsrott ist Politikwissenschaftler und leitet das Recherche- und Transparenzportal FragDenStaat in Berlin.
Hannah Vos ist Rechtsanwältin und Head of Legal bei FragDenStaat in Berlin.
1 Konvention des Europarats über den Zugang zu amtlichen Dokumenten, abrufbar unter: www.coe.int/de/web/conventions/full-list.
2 In Bundesländern mit Transparenzgesetz gibt es derartige Portale schon, vgl. etwa Hamburg: transparenz.hamburg.de.
3 Vgl. einnsyn.no.
4 Zur aktuellen Problematik siehe: www.zeit.de/politik/deutschland/2023-10/afghanistan-abzug-angela-merkel-kanzleramt-daten; www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/new-york-times-verklagt-eu-kommission-sie-will-von-der-leyens-sms-zum-impfstoff-kauf-lesen-li.317554; www.lto.de/recht/meinung/m/fragdenstaat-akteneinsicht-behoerden-loeschen-sms/.
5 Das ist bisher kaum möglich, vgl. etwa: gesetze.berlin.de/bsbe/document/NJRE001244272.