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Eine Welt mit weniger Polizei

Wie wir Konflikte anders lösen könnten

Tobias Singelnstein und Benjamin Derin

Die Polizei prügelt, tötet und bricht Gesetze – oft ohne dafür belangt zu werden. Selbst wenn es heißt, man nehme diese Fälle ernst und die Institution würde modernisiert: Im Kern ist die heutige Polizei eine hierarchische Institution, in der Befehl und Gehorsam herrschen, die extrem Rechte besonders anzieht und vor der viele Menschen mehr Angst haben als Schutz erwarten zu dürfen. Doch das müsste nicht so sein! Fünf Szenarien, in denen wir auf bewaffnete Uniformierte verzichten könnten.

Aufgaben, Befugnisse, Ausstattung und Personal der Polizei sind in der Bundesrepublik stetig gewachsen. Die Behörden, die sich unter diesem Label heute versammeln, sind so vielfältig und einflussreich wie nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik.1 Sie bearbeiten viele Themen, für die es nicht unbedingt einer bewaffneten Organisation mit Gewaltbefugnis bedürfte.

Eine einzelne Organisation, die Tag und Nacht überall zuständig ist, die konkrete Konflikte zwar selten lösen, aber immer verbindlich an Ort und Stelle beenden kann – im Zweifel mittels Gewalt – und die zumindest theoretisch einem bekannten Set an Regeln unterworfen ist, mag angesichts der vielen Konflikte in der Welt verlockend und als einfache Lösung für alles erscheinen. Alternativlos ist sie jedoch nicht. Wie lässt es sich über eine Gesellschaft ohne Polizei nachdenken und diskutieren – können wir uns eine solche Welt überhaupt vorstellen? Es folgt ein kurzer Test dieser mentalen Kapazitäten anhand alltäglicher Situationen.

Der Autounfall: Leitstelle Verkehrssicherheit statt Polizei

Die Vollbremsung kommt zu spät, die beiden Unfallfahrzeuge bleiben mitten auf der Kreuzung stehen, der Verkehr kommt zum Erliegen. Die Fahrerin des einen Fahrzeugs steigt wütend aus, der Fahrer des anderen bleibt benommen sitzen. Der Krankenwagen, der kurz darauf ankommt, kümmert sich um die Beteiligten. Zeitgleich trifft die von der Leitstelle2 informierte Verkehrssicherheit ein. Die Mitarbeitenden sperren die Unfallstelle ab, leiten den Verkehr um, fotografieren und protokollieren die Schäden an den Fahrzeugen sowie weitere Spuren. Sie nehmen die Daten der beiden Fahrenden und weiterer Anwesenden auf, weil sie möglicherweise Zeug*innen des Geschehens waren.

Es gelingt ihnen, die aufgebrachte Fahrerin zu beruhigen; sie sind genau für solche Situationen geschult. Da die Fahrzeuge stark beschädigt sind, organisieren sie die Verbringung der PKW auf das Gelände der Verkehrssicherheit. Nach Räumung der Unfallstelle wird der Verkehr wieder freigegeben. Die Versicherungen regulieren die Schäden. Beide Fahrzeuge werden repariert und sind bald wieder einsatzbereit.

Psychischer Notfall: Mobiler Krisendienst statt Polizei

Aus der Wohnung oben dringt wieder einmal furchteinflößender Lärm. Offenbar wird die Einrichtung demoliert, Gläser zerschmettert. Man weiß, dass der Nachbar dort allein lebt, unter Schizophrenie leidet und manchmal seine Medikamente absetzt. Dann kann es passieren, dass er zu Hause randaliert. Um zu verhindern, dass er sich selbst verletzt, wird nach einiger Zeit über den Notruf der mobile Krisendienst alarmiert. Dieser ist mit Leitstellen vernetzt, rund um die Uhr erreichbar und mit genügend Personal und Fahrzeugen ausgestattet. So kann er jedes Jahr in tausenden Fällen schnell reagieren. Als die drei Mitarbeiter*innen eintreffen (eine psychiatrische Expertin, ein spezifisch ausgebildeter Sozialarbeiter und eine medizinisch geschulte Kollegin, alle mit langjähriger Erfahrung im Krisendienst) gelingt es ihnen, die Situation zu beruhigen. Weil sie genau für solche Situationen ausgebildet sind, erreichen sie dies, ohne dass der Betroffene sie während der Ausnahmesituation angreift.

Die Ruhestörung: Quartiers­verwaltung statt Polizei

Erneut feiert die WG unten im Haus eine Party. Bis weit in die Nacht hämmern die Bässe durch das Treppenhaus – und auch durch die Nachbarwohnungen. Eine dort wohnende Familie bittet die Feiernden mehrfach, etwas leiser zu sein und Rücksicht zu nehmen. Normalerweise genügt das, aber heute scheint nichts zu helfen. Deshalb kontaktiert die Familie die Quartiersverwaltung, die zwei der in der heutigen Nachtschicht zuständigen Mitarbeitenden vorbeischickt. Diese sprechen mit den Leuten aus der WG und man einigt sich auf weniger Lärm und ein Ende zu einer festen Uhrzeit. Sollte die Abmachung nicht eingehalten werden, kann die Sache – wie auch jetzt schon – durchaus mietrechtliche Konsequenzen haben.

Drogen: Sozialarbeiter statt Polizei

Ein Mann liegt in einem Hausflur. Er wirkt verwahrlost, ist kaum bei Bewusstsein. Vorübergehende verständigen den mobilen Krisendienst, der einen Sanitäter und eine auf Suchtfragen und Wohnungslosigkeit spezialisierte Sozialarbeiterin entsendet. Die beiden können den Mann medizinisch erstversorgen und ihn überzeugen, sich zur Stärkung in ein soziales Notfallzentrum bringen zu lassen. Dort kann er für einige Tage in einer Übergangswohnung bleiben. Während dieser Zeit werden ihm Hilfsangebote zu den Themen Drogenabhängigkeit und Obdachlosigkeit gemacht. Für die Strafbarkeit der von ihm mitgeführten Betäubungsmittel oder die Frage, ob er Hausfriedensbruch begangen haben könnte, interessieren sich die Mitarbeitenden des Krisendienstes nicht.

Die Verkehrserziehung: Verkehrssicherheit statt Polizei

Die Kinder der Grundschulklasse stehen an der Straße vor ihrem Schulgebäude und lauschen der Mitarbeiterin der Verkehrssicherheit, die ihnen mit einem eingängigen Reim beibringt, wie man am sichersten eine Fahrbahn überquert. Sie ist weder bewaffnet noch uniformiert, kennt aber die Verkehrsregeln sehr genau und ist speziell für den Umgang mit Kindern fortgebildet. Dabei stehen ihr die über die letzten Jahrzehnte gewonnenen Erkenntnisse der Verkehrserziehung zur Verfügung. Nicht nötig sind für ihre Arbeit die üblichen Kompetenzen der Polizei, zum Beispiel die Beherrschung von Selbstverteidigungs- und Festnahmetechniken, Kenntnisse im Umgang mit Schusswaffen oder die Befugnis zur Anwendung unmittelbaren Zwangs.

Die Polizei ist ein Phänomen unserer Zeit

Diese Szenen verdeutlichen: Es ist nicht schwer, sich einen Alltag vorzustellen, in dem nicht immer zuerst die Polizei gerufen wird. Ein Alltag, in dem andere Stellen bisherige polizeiliche Aufgaben übernehmen. Ein Alltag, in dem das Auftreten der Polizei von der Regel zur absoluten Ausnahme wird. Es wäre eine Gesellschaft, in der eine allzuständige Behörde mit Gewaltbefugnis kaum eine Rolle spielt, ähnlich etwa wie in den vergangenen Jahrzehnten das Militär.

In der Debatte über Gewalt, Diskriminierung, Rassismus und Rechtsextremismus in bzw. durch die Polizei wird auf der einen Seite zunehmend die Notwendigkeit einer Polizei hinterfragt oder gar ihre Abschaffung gefordert, auf der anderen Seite eine polizeilose Gesellschaft von vielen als apokalyptisches Szenario angesehen oder schlicht für unmöglich gehalten: Die Polizei wird heute weithin als selbstverständlich empfunden; für die meisten Menschen ist sie aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Dabei wird häufig übersehen, dass eine »Welt ohne Polizei« noch vor nicht allzu langer Zeit historische Wirklichkeit war und es in Teilen der Welt heute noch ist.3

Tatsächlich handelt es sich bei ihr um eine relativ moderne Erscheinung. Noch bis vor 200 Jahren gab es die Polizei, wie wir sie heute kennen, nicht. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts begann in Europa die flächendeckende Verbreitung dieser Institution. Es handelt sich hierbei also um ein spezifisches Phänomen unserer Zeit, das in seiner heutigen Erscheinungsform früher oder später durch etwas anderes ersetzt werden oder sich grundlegend verändern könnte.

Auch ohne Polizei würde poliziert

Nun besagt diese Feststellung über die Kontingenz der Polizei weder etwas darüber, wann und wie sich dieser Wandel vollziehen wird, noch sollte sie darüber hinwegtäuschen, dass hinter der vergänglichen behördlichen Form das wesentlich tiefergehende Konzept des Polizierens – im Sinne der Gesamtheit gesellschaftlicher Praktiken zur Herstellung von Sicherheit und Ordnung – steht und das Polizieren die Polizei als Institution unweigerlich überdauern wird. Gäbe es keine Polizei mehr, würde das Polizieren nicht verschwinden, nur seine aktuelle Gestalt. Das ist zwar keineswegs unbedeutend, denn gerade diese Gestalt ist es, deren Arbeit als hierarchischer Apparat mit Zwangsbefugnissen stark von Macht, Diskriminierung und Gewalt geprägt ist.

Die zugrundeliegenden Probleme wären damit noch nicht gelöst. Und die gesellschaftliche Bearbeitung sozialer Konflikte wäre auch ohne die Polizei und in einer anders organisierten Welt von Machtverhältnissen und Diskriminierungspotenzialen durchzogen[p6] . Wären eine Verkehrssicherheit, ein mobiler Krisendienst oder eine Quartiersverwaltung weniger rassistisch, parteiisch oder für rechtes Gedankengut anfällig als die Polizei? Wären sie transparenter und offener für Kritik? Wie weit gingen ihre Befugnisse und wer würde sie kontrollieren? Wie effektiv wären sie wirklich?

Einer Abkehr von dem, was wir Polizei nennen, müssten wesentlich breitere soziale Veränderungen vorangehen. Diese aber setzen, wie so viele Utopien, eine andere Gesellschaft voraus oder müssten in einen langfristigen Prozess hin zu einer solchen eingebettet sein.
Aussagen darüber, wie diese Gesellschaft aussehen könnte, sind nicht das Metier der Polizeiforschung. Was sich aus deren Perspektive allerdings wagen lässt, ist der Blick in eine zumindest teilweise entpolizeilichte, ansonsten aber unbestimmte Zukunft. Dies fällt auch deshalb vergleichsweise leicht, weil der Polizei infolge der fortschreitenden Versicherheitlichung derart viele Aufgaben zugewiesen worden sind, für deren Bearbeitung ihre besonderen Befugnisse überhaupt nicht erforderlich wären, dass es keiner besonderen visionären Fähigkeiten bedarf, sich eine andere Herangehensweise vorzustellen – wie wir oben gesehen haben.

 

Tobias Singelnstein ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied im RAV.

Benjamin Derin ist Rechtsanwalt in Berlin und insbesondere in den Bereichen Strafverteidigung und Verfassungsrecht tätig. Er ist langjähriger wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Tobias Singelnstein und beschäftigt sich dort v.a. mit Forschung zu Polizei, Strafrecht und Gesellschaft. Außerdem ist er RAV-Mitliged.

1    Derin/Singelnstein, Die Polizei, 2022, S. 249 ff.
2    Jobard KrimJ 2022, 298.
3    Jobard KrimJ 2022, 298.