Editorial InfoBrief #126
»We live in capitalism. Its power seems
inescapable. So did the divine right of
kings. Any human power can be resisted
and changed by human beings. Resistance
and change often begin in art, and very
often in our art, the art of words.«
Ursula K. Le Guin
»Wir leben im Kapitalismus. Seine Macht
scheint unausweichlich. Genauso wie einst
das göttliche Recht der Könige. Jede menschliche
Macht kann von Menschen bekämpft
und verändert werden. Widerstand und Veränderung
beginnen oft in der Kunst, sehr oft
in unserer Kunst, der Kunst des Wortes.«
Ursula K. Le Guin
Liebe Mitglieder,
AfD-Wahlsiege, Gesetzesverschärfungen, nicht enden wollende rassistische Stimmungsmache und Gewalt, Kriege in Nahost, der Ukraine und an anderen Orten in der Welt, Armut, Arbeitsdruck, Klimakatastrophe... Die Krisen sind multipel, die Zeiten düster, die Gefahren groß. Viele von uns Anwält*innen sind am Limit.
Es mag überraschen, aber: Wir haben uns mit Utopien beschäftigt. Damit, wie wir uns eine andere, eine bessere Welt vorstellen. Wofür engagieren wir uns noch mal? Was treibt uns an? Nicht nur dagegen zu halten, nicht nur das Schlimmste abzuwehren. Es ist – wie wir es schon bei #unteilbar formuliert haben – die Vision einer freien und offenen Gesellschaft, in der Solidarität statt Ausgrenzung die Grundlage bildet.
Statt sich nur an den Verhältnissen abzuarbeiten, erscheint es uns aktuell wichtiger denn je, dass wir uns an das Positive, unsere Ziele und Träume erinnern. Daran, wie eine bessere Welt aussehen könnte. Und wie kommen wir da hin? Was würde unser aller Leben im Hier und Jetzt besser machen, was langfristig? Und wie können die Mittel des Rechts dazu beitragen? In diesem InfoBrief wagen wir es trotz – oder gerade wegen – all der Verwerfungen und Katastrophen unserer Tage, einen Blick über den Tellerrand zu werfen.
Dabei ist Utopie zwar etwas, das qua Definition nie erreicht werden kann, denn dann wäre es ja Wirklichkeit und nicht mehr Utopie. Sie kann uns aber, auch wenn sie nur in unserer Vorstellung existiert, dabei helfen, unseren Kurs zu bestimmen. Wir erkennen eine rationale Ebene, in der wir scharf analysieren können, welche gesellschaftlichen Zustände wir anstreben und wie wir sie erreichen können. Wir fühlen aber auch eine emotionale Ebene, eine Sehnsucht nach besseren Zeiten, die weniger von Konkurrenz, Ausgrenzung und Gewalt geprägt sind und in denen wir uns durch mehr Solidarität und Gemeinsamkeiten verbunden fühlen können.
Was sind also unsere konkreten Utopien in den verschiedenen Bereichen, in denen wir als Rechtsanwält*innen tätig sind? Wie schön wäre eine Welt, in der wir weniger arbeiten müssten? Wie lebenswert wäre Berlin, wenn es eine autofreie Stadt wäre? Wie demokratisch wäre unser Land, wenn wir über alle Informationen verfügen würden, die wir brauchen, um staatliche Behörden zu kontrollieren? Wie könnte eine Gesellschaft aussehen, in der niemand inhaftiert wird? Was müsste passieren, damit Frauen nach sexualisierter Gewalt besser aufgefangen werden? Und wie könnten wir Konflikte anders lösen als mit Polizei?
Was ist dafür nötig? Welche Schritte in Richtung unserer Utopien könnten wir heute schon gehen? Und wie kriegen wir das gemeinsam hin, immer überlastet, immer dem kapitalistischen Druck unterworfen? Wie und wie viel wollen wir arbeiten? Ist es für Anwält*innen machbar oder völlig utopisch, nur noch vier Tage pro Woche zu arbeiten? Weniger zu arbeiten, dieses Experiment haben wir übrigens schon bei diesem InfoB¬rief gewagt und nur noch drei, statt wie letztes Mal sechs Korrekturschleifen, durchgeführt. Falls also hier oder da mal eine Kursivierung fehlt oder ein anderes Fehlerchen vorkommt, bitten wir um Euer Verständnis.
Nun zu einem anderen Thema: Der Vorstand hatte Euch im Juli 2024 informiert, dass ihn im letzten Jahr ein Konflikt im erweiterten Vorstand sehr stark beschäftigt hat. Die Hintergründe und Konsequenzen wollen wir hier nicht noch einmal aufrollen. Dafür verweisen wir auf den Brief aus der Mitgliedschaft an den Vorstand und die Antwort des Vorstandes darauf. Der RAV ist in die aktuellen Diskussionen über den Nahost-Konflikt eingebunden. Hierzu drucken wir in diesem Heft das Interview »Staatsräson versus Grundrechte« ab, das Peer Stolle aus dem Vorstand im Mai 2024 der Rosa-Luxemburg-Stiftung gegeben hat. Der Inhalt wurde vom gesamten Vorstand abgestimmt.
Und noch etwas Erfreuliches: Die Geschäftsstelle des RAV hat neue Räume, juhu! Nach vielen tollen Jahren im Haus der Demokratie und Menschenrechte wurde ein Umzug fällig. Denn die dortigen Räume wurden zu klein für die viele Arbeit, die mittlerweile von vier Mitarbeiter*innen in der Geschäftsstelle bewältigt wird. Das neue Büro liegt in Berlin-Kreuzberg, es ist nicht nur hell und luftig, sondern bietet auch Platz für kleinere Veranstaltungen und Fortbildungen. Am 25.09.2024, dem Tag des Umzugs, hat die Geschäftsstelle nach getaner Arbeit auf einen Umtrunk und zur Besichtigung eingeladen. Und alle, die da waren, können mit Sicherheit bestätigen: Die neuen Räume sind toll.
Wie ihr vielleicht schon mitbekommen habt, nimmt auch die AfD-Verbotskampagne, in der wir als RAV uns engagieren, immer weiter Fahrt auf. Zu Redaktionsschluss wurde bekannt, dass aus der Mitte des Bundestages ein Verbotsantrag gestellt werden soll. Umso wichtiger ist es, dass sich dazu weiterhin viele informierte Stimmen aus der Zivilgesellschaft zu den Gründen und Zielen eines derartigen Verfahrens äußern.
Was uns besonders freut, ist diese Nachricht aus dem Herbst: Unser iranischer Kollege Amirsalar Davoudi, der wegen seiner engagierten Arbeit als Menschenrechtsanwalt und wegen seiner rechtspolitischen Aktivitäten vom iranischen Regime festgenommen und verurteilt wurde, ist erstmal frei. Der Oberste Gerichtshof hat die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet. Für Davoudi, dessen Patenschaft wir als RAV letztes Jahr übernommen haben, ist das nur ein Zwischenerfolg. Ziel ist sein Freispruch und die Freilassung aller anderen Kolleg*innen im Iran, die in Haft sitzen. Dafür ist weiterhin internationaler Druck erforderlich. Wir werden dran bleiben.
Übrigens: Worauf wir uns auch schon riesig freuen, ist die Neuauflage des RAV-Kongresses in Leipzig vom 13. bis 15. Juni 2025. Wir jedenfalls haben dieses Wochenende schon fett in unseren Kalendern markiert und hoffen, Ihr kommt vorbei. Denn wir wollen mit Euch ins Gespräch kommen!
Wie immer bedanken wir uns herzlich bei unserer lieben Kollegin Sigrid von Klinggräff fürs Korrekturlesen der Beiträge in diesem Heft. Jetzt wünschen wir Euch viel Spaß bei der Lektüre! Über Feedback freuen wir uns, schreibt gern einfach ein paar Zeilen an presse@rav.de
Eure InfoBrief-Redaktion