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Ausreise in die Utopie

In eine bessere Welt flüchten – nur durch welche Tür?

Junis Mustafa

Er war des Kämpfens müde. Er kämpfte eigentlich gerne, das war nicht das Problem. Er wusste nur nicht mehr, ob der Kampf noch zu gewinnen war, ob er sich noch lohnte.

Die Situation im Land wurde immer unübersichtlicher, die Bedrohungen immer konkreter. Keine Seite schien der anderen noch wirklich zuhören zu wollen. Der Einsatz der Mittel wurde immer stumpfer und brutaler. Der Bürgerkrieg schien unausweichlich.

Er war sich daher sicher. Sein Land war einfach schon von Anfang an falsch konzipiert. Seine staatstheoretischen und philosophischen Grundlagen waren nicht ausgereift. Es war letztlich nicht die Frage, ob alles zusammenbricht, sondern nur wann. Warum sollte er sich opfern – für eine Gesellschaft, die nicht mehr zu retten war? Sein Entschluss stand fest. Er wollte weg, er musste raus.

Aber wohin. Die Welt bot so viele Möglichkeiten. Eine konkrete Vorstellung hatte er zwar nicht, klar war für ihn nur, er wollte einen Neuanfang. In einem anderen System, einer grundlegend neu gedachten Gesellschaftsordnung. Also los.

Nach einer kurzen Reise erreichte er die Hauptstadt. Angekommen im Botschaftsviertel, im magischen Theater. Hinter jeder Eingangstür eine neue Welt.

Also wohin? Sein erster Gedanke war: Sicherheit. Er wollte in größtmöglicher Sicherheit leben, abgesichert in alle Richtungen. Da sah er eine gepanzerte Tür. Die war ihm gleich sympathisch. Vor der Tür wurde er jedoch aufgehalten und darauf hingewiesen, dass er eine Eintrittskarte, ein Visum brauche, um diesen Teil der Welt zu betreten.

Zur Erlangung des Visums hatte er zahlreiche Hürden zu überwinden. Neben den formalen waren insbesondere die materiellen Voraussetzungen schier endlos und kaum zu erfüllen: Die Sprache des Landes hinter der gepanzerten Tür musste auf muttersprachlichem Niveau beherrscht werden. Die Sicherung des Lebensunterhalts war für die nächsten fünf Jahre vollständig nachzuweisen, ebenso wie eine ausreichende Altersvorsorge. Extrem aufwändig war der Nachweis einer akademischen Qualifizierung.

Für deren Anerkennung mussten nicht nur die Abschlüsse, sondern auch das gesamte Lehrprogramm übersetzt und legalisiert werden. All dies wurde dann von einer inländischen Anerkennungsstelle geprüft. Ein Arbeitsvertrag für eine Stelle, die seiner Qualifikation entspricht, musste bereits vorliegen, wobei von den dortigen Behörden geprüft wurde, ob dieser Beruf nicht besser von einem Inländer ausgeübt werden könne.

Darüber hinaus musste er monatlich ein Gehalt in Höhe der Beitragsbemessungsgrenze der dortigen Rentenversicherung verdienen. Ein Mietvertrag musste vorliegen, ebenso war ausreichender Krankenversicherungsschutz nachzuweisen. Selbstverständlich durften von ihm keine Gefahren für die öffentliche Ordnung, innere Sicherheit und die internationalen Beziehungen ausgehen. Abschließend wurde ihm mitgeteilt, dass auch während seines Aufenthalts das Fortbestehen aller Voraussetzungen streng überprüft werden würde.

Erste Zweifel kamen in ihm auf. Er kannte zwar ähnliche Vorschriften aus seinem Land, aber diese hier waren vollends überhöht. Gab es denn kein Recht auf Gastfreundschaft, kein Recht auf Zugehörigkeit?

War die fast vollständige Einschränkung der Freiheit notwendig, um sowohl physische als auch soziale Sicherheit zu erlangen? Für umfassende Sicherheit würde er diese Einschränkungen allerdings in Kauf nehmen. Nach einem guten Jahr hatte er alle Papiere für die Einreise zusammen. Nach seiner Ankunft musste er jedoch feststellen, dass etwas nicht stimmte. Er traf auf keine anderen Menschen. Er war alleine.

Die Mauern der Sicherheit waren so hoch gezogen worden, dass sie niemand mehr überwinden konnte oder wollte und auch die Freiheit der Menschen innerhalb der Mauern war so weit eingeschränkt, dass es offensichtlich schon lange keiner mehr dort aushielt.
Schnell reiste er wieder zurück. Für die vollständige Sicherheit jedwede Freiheit aufgeben, war also nicht die Lösung.

Kurze Zeit später unternahm er einen neuen Anlauf, er ging auf eine zweite Tür zu. Auch sie versprach Sicherheit, aber durch einen Staat, dessen Tätigkeit allein auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit beschränkt war. Eine Polizei schützte vor Gewalt im Innern, eine Armee schützte vor Gewalt von außen. Hierfür brauchte er lediglich ein paar wenige seiner Rechte an den Staat abtreten.

Erforderlich war auch hier ein Visum. In der Botschaft hatte er jedoch nur ein aktuelles polizeiliches Führungszeugnis ohne Eintrag abzugeben. Weitere Bedingungen gab es nicht. Nach Vorlage war er auf dem Weg.

Als er ankam, wollte er sich zunächst einen Überblick verschaffen. Er spazierte durch die Stadt, welche sich nicht zu sehr von den Städten in seinem Herkunftsland unterschied. Doch sehr schnell fiel ihm auf, dass es nur zwei Bevölkerungsgruppen zu geben schien. Eine kleine Gruppe lebte im Überfluss, eine große Gruppe lebte am Existenzminimum.

Die Gesellschaft war zwar frei von physischer Gewalt, aber Verhandlungen zwischen zwei Parteien ganz ohne einen rechtlichen Rahmen führen selten zu einem fairen Ergebnis, wenn diese sich nicht auf Augenhöhe begegnen. Dieser Rahmen war hier nicht vorhanden.

In solch einer Welt wollte er nicht leben. Enttäuscht kehrte er also auch dieser Welt den Rücken. Zu Hause angekommen war er verunsichert. Eine Welt mit zu vielen Regeln schien nicht zu funktionieren, eine Welt mit zu wenig Regeln aber auch nicht. Machte das Sinn? Und was war die Konsequenz?

Es gab noch eine weitere Tür. Er hatte sie schon gleich zu Beginn gesehen. Aus dem Augenwinkel. Sie stand einfach weit offen. Aber so wirklich traute er sich nicht… Obwohl: War es jetzt nicht einen Versuch wert?

Er war schon durch die Tür, da überkam ihn eine Angst, wahrscheinlich mehr eine Angst vor der eigenen Courage. Er wusste nicht, ob er den Menschen den Umgang mit vollständiger Freiheit zutraute. Es klang zu schön, um wahr zu sein. Hatte er nicht in seinem Leben unzählige Verhaltensweisen erlebt, die dagegen sprachen, dass Menschen mit Freiheit umgehen können, oder waren diese auch nur Auswüchse einer staatlichen Organisation?

Klar war ihm, dass die schrankenlose Freiheit des Individuums nur zwei Ergebnisse hervorbringen konnte. Was erwartete ihn also auf der anderen Seite – der anarchistische Machtmensch oder der gewaltlose Kinderkönig?

Er entschied sich gegen die Reise. Die Gefahr der überhandnehmenden Gewalt schien ihm zu groß. Vielleicht wollte er die Welt auch gar nicht kennenlernen. Vielleicht war sie als Idee in seinem Kopf besser aufgehoben.

Er verzichtete aber auch deshalb auf die Reise, weil er das Gefühl bekam, bei ihm zu Hause sei vielleicht doch nicht alles verloren, war doch nicht alles grundlegend falsch. Klar, es waren unzählige Dinge zu verbessern, aber er hatte jetzt wieder das Gefühl, der Kampf sei zu gewinnen, zumindest, dass er sich lohne.

Er kehrte an seinen Kampfplatz zurück und griff zu Stift und Papier. Sein nächster Klagegegner war, wie so häufig, die Bundesrepublik.

 

Junis Mustafa (LL.M.) ist als Fachanwalt für Migrationsrecht in Osnabrück tätig und Mitglied im RAV.

Zum Weiterlesen:
1.    Hermann Hesse, Der Steppenwolf, Fischer, Berlin, 1927.
2.    Aufenthaltsgesetz/Visumhandbuch des Auswärtigen Amtes
3.    Seyla Benhabib, Die Rechte der Anderen, Suhrkamp, Frankfurt, 2008.
4.    Hugo von Hofmannsthal, Der Turm, Uraufführung München, 1928.