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Wie die Polizei dominiert

Neue Studie zu Körperverletzung im Amt(1)

Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein

Vieles, was die Polizei tut, ist rechtswidrig. Das Forschungsprojekt »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen« (KviAPol) liefert erstmals umfassende wissenschaftliche Befunde zur übermäßigen Gewaltanwendungen durch Polizist*innen in Deutschland und zur strafrechtlichen Aufarbeitung solcher Geschehen. Dieser Beitrag fasst die Kernbefunde für Euch zusammen.

Hintergrund des Projekts

Polizist*innen dürfen unter engen Voraussetzungen unmittelbaren Zwang anwenden, um polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen. Dabei kommt es immer wieder auch zu Fehlern, Grenzüberschreitungen und Missbrauch. Diese werden von Betroffenen und ihren (anwaltlichen) Vertreter*innen bereits seit langem thematisiert. Für Deutschland gab es bisher jedoch kaum systematisch erhobene empirische Daten.
Das DFG-Forschungsprojekt »Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen« (KviAPol) liefert diese nun. Seit 2018 wurde es zunächst an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt, seit 2022 ist es an der Goethe-Universität in Frankfurt a. M. angesiedelt. Im Mai 2023 wurden die Ergebnisse des Forschungsprojekts in dem Buch »Gewalt im Amt« veröffentlicht, welches im Campus Verlag (Open Access) erschien.(2)

2. Forschungsdesign

Im Rahmen des Projektes wurde zunächst eine quantitative Online-Befragung von Personen realisiert, die polizeiliche Gewalt erfahren hatten, die sie als rechtswidrig bewerteten. Die Befragten wurden durch ein Schneeballverfahren mithilfe von Gatekeeper*innen sowie einem öffentlichen Teilnahmeaufruf rekrutiert; insofern ist die Stichprobe nicht bevölkerungsrepräsentativ. Nach Abschluss der Befragung fand ein Datenbereinigungsprozess inklusive Plausibilitäts- und Kohärenzkontrollen statt, an dessen Ende 3.373 Fälle die Analysestichprobe bildeten.
Im nächsten Schritt wurden 63 qualitative Interviews mit Expert*innen aus Polizei, Justiz und Zivilgesellschaft geführt, um die verschiedenen und teils kontroversen Sichtweisen auf die Thematik einzubeziehen. Die 22 leitfadengestützten Interviews mit Polizeibeamt*innen aus Führung, Ermittlungs- und Vollzugsdienst, 21 Interviews mit zivilgesellschaftlichen Organisationen (z.B. Beratungsstellen) sowie 20 Interviews mit Rechtsanwält*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen wurden zum größten Teil im Jahr 2019 geführt, anschließend transkribiert und ausgewertet.
Angesichts der Größe der Stichprobe und der daraus resultierenden Bandbreite der geschilderten Fälle können grundlegende Erkenntnisse über die Bedingungen und den Verlauf von Situationen gewonnen werden, in denen polizeiliches Handeln als übermäßig bewertet wurde, sowie über das Anzeigeverhalten der Betroffenen und die anschließende juristische Aufarbeitung solcher Vorfälle. Gemeinsam mit den Erkenntnissen aus den qualitativen Interviews ergibt sich so ein umfassendes Bild, welches die Sichtweisen der beteiligten Akteur*innen einbezieht.
Bei der Bewertung polizeilicher Gewalt ringen oftmals verschiedene subjektiv geprägte Perspektiven miteinander um die Deutungshoheit. Unter übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendung verstehen wir insofern Handlungen, die aus Perspektive der sie bewertenden Personen die Grenzen des Akzeptablen überschritten haben. Dies fällt nicht zwangsläufig zusammen mit einer Bewertung der Gewalt als rechtswidrig, bedeutet aber, dass die Gewalt aus mindestens einer Perspektive als unangemessen bewertet wird. Eine juristische Prüfung einzelner Fälle ist nicht das Ziel einer solchen kriminologisch-sozialwissenschaftlichen Forschung. Vielmehr untersucht diese die Bewertungsprozesse aus den Perspektiven der verschiedenen Beteiligten.

3. Ergebnisse

Im Folgenden werden die Kernergebnisse der Untersuchung dargestellt.

3.1 Häufigkeit, Situationen, Formen und Folgen

Nach der Staatsanwaltschaftsstatistik des Statistischen Bundesamts wurden im Jahr 2021 in Deutschland 2.790 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamt*innen wegen rechtswidriger Gewaltausübung von den Staatsanwaltschaften erledigt. Neben diesen durch die Behörden registrierten Verdachtsfällen im Hellfeld besteht nach unseren Befunden ein großes Dunkelfeld. In der Betroffenenbefragung des Projekts gaben nur 14 Prozent der Befragten an, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe. Die übrigen 86 Prozent der Fälle verblieben demnach im Dunkelfeld.
Übermäßiger Einsatz polizeilicher Gewalt wurde in der Befragung besonders häufig für Einsätze bei Großveranstaltungen (Demonstrationen, Fußballspiele etc.) geschildert. Aber auch Einsatzsituationen außerhalb von Großveranstaltungen, wie Konfliktsituationen oder Personenkon­trol­len, spielten eine erhebliche Rolle (20 Prozent). Am häufigsten berichteten junge Männer, polizeiliche Gewalt erfahren zu haben. Nach Angaben der Betroffenen wurde die Gewalt auch am häufigsten von männlichen Beamten bis 30 Jahre ausgeübt. Die Befragungsdaten sowie die Interviews zeigen zudem, dass marginalisierte Personen in besonderer Weise von übermäßiger polizeilicher Gewalt betroffen sind.
Bei den Formen der Gewalt waren nach Angaben der Befragten Schläge und Stöße am häufigsten, bei Großveranstaltungen spielten Reizgas (Pfefferspray) und Wasserwerfer ebenfalls eine erhebliche Rolle. 19 Prozent aller Befragten berichteten von schweren Verletzungen (etwa an Gelenken und Sinnesorganen, Knochenbrüche etc.). Die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffene schwere Verletzungen davontrugen, war in Fällen mit Würgen sowie mit Fesselungen und Fixierungen erhöht.
Je schwerer die Verletzungen, desto schwerer waren auch die psychischen Folgen für die Betroffenen. Thematisiert wurden insbesondere Vertrauensverlust in Polizei und Staat, Ohnmachtsgefühle und Vermeidungsverhalten. Nicht-männliche Betroffene berichteten von schwereren physischen und psychischen Folgen. Auch ältere Personen hatten häufiger schwere Verletzungen. PoC trugen keine schwereren körperlichen Verletzungen als weiße Personen davon, waren jedoch psychisch stärker belastet.

3.2 Interaktion und Eskalation

Anhand der Betroffenenbefragung und der Interviews mit Polizist*innen und Beratungsstellen konnten verschiedene Umstände herausgearbeitet werden, die in besonderer Weise zu einer Eskalation beitragen können.
Für eine Anwendung übermäßiger Gewalt können sowohl individuelle als auch situative und organisationale Faktoren eine Rolle spielen. Auf polizeilicher Seite können aus Sicht der Befragten und der Interviewpartner*innen vor allem mangelhafte Kommunikation, Stress, Überforderung, diskriminierendes Verhalten und inadäquate Einsatzplanungen eine Eskalationswirkung haben. Dabei wurde von interviewten Polizeibeamt*innen sowohl von einzelnen »Widerstandsbeamt*innen« berichtet, die häufiger mit Gewaltanwendungen in Erscheinung träten, als auch von Anweisungen durch Einsatzleitende, die eine übermäßige Gewalteskalation begünstigen könnten.
Auf Seiten der Betroffenen scheinen Fragen zur Rechtmäßigkeit der jeweiligen Maßnahme, Diskussionen, Beleidigungen und Respektlosigkeiten sowie Weigerungshaltungen übermäßige polizeiliche Gewalt zu begünstigen. Insbesondere die polizeiliche Sorge vor einem Kontrollverlust in der jeweiligen Situation kann das Eskalationsgeschehen beeinflussen. Wenn Betroffene anders als von den Polizeibeamt*innen erwartet reagieren, wie etwa im Falle einer psychischen Beeinträchtigung oder bei Intoxikation durch Alkohol oder andere Drogen, sind unter Umständen besondere Handlungskompetenzen erforderlich, um die Situation ohne weitergehende Eskalation zu klären.
Insgesamt fühlte sich ein Drittel der Befragten (33 Prozent) während des geschilderten Vorfalls diskriminiert, weitere 15 Prozent bejahten dies zumindest teilweise. Nicht-männliche Befragte und People of Color (PoC) berichteten häufiger von Diskriminierung. Marginalisierte Gruppen wie rassifizierte Personen, LGBTIQ*, Wohnungslose oder andere subalterne Gruppen unterliegen den Interviews zufolge in der Interaktion mit der Polizei einem besonderen Diskriminierungsrisiko und haben zugleich eine geringere Beschwerdemacht. Interviews und Betroffenenbefragung konnten zeigen, dass es sich dabei nicht unbedingt um gewollte oder bewusste Benachteiligungen handeln muss, vielmehr können auch rassistische Wissensbestände und unbewusste Stereotype, die in der Polizei u.a. in Form von Erfahrungswissen verankert sind und sich aus spezifischen Aufgaben und Praxen der Organisation ergeben, die Interaktion beeinflussen.

3.3 Bewertungen polizeilicher Gewalt

Polizeiliche Gewaltanwendungen werden in den jeweiligen Situationen wie auch im Nachgang dazu von den verschiedenen Beteiligten und von Beobachtenden bewertet. Betroffene, Polizeibeamt*innen oder Zeug*innen vereindeutigen die in der Regel mehrdeutigen Situationen für sich und ziehen daraus Schlüsse. Dabei können die verschiedenen Perspektiven zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen.
In den Interviews zeigen sich verschiedene Bewertungsmaßstäbe, die als normative Sets die individuellen Bewertungsprozesse prägen. Dazu gehören zum Beispiel die rechtlichen Vorgaben für polizeiliche Gewaltanwendungen. In Anschluss an die US-amerikanische Forschung von Stoughton, Alpert und Noble zur Bewertung von polizeilicher Gewalt hat unsere Untersuchung gezeigt, dass neben diesem rechtlichen auch noch ein gesellschaftlicher und ein polizeilicher Maßstab mit jeweils unterschiedlichen Bewertungsschwerpunkten existieren.(3) Diese werden von den unterschiedlichen Beteiligten und Beobachtenden in divergierender Weise zur Bewertung einer polizeilichen Gewaltanwendung herangezogen.
Das Recht konzipiert polizeiliche Gewalt als Ausnahmebefugnis, die nur in sehr engen Grenzen erlaubt ist. Auch wenn Polizeibeamt*innen in den Interviews immer wieder betonten, dass das Recht handlungsleitend für sie sei, zeigte sich, dass Gewaltanwendungen zum polizeilichen Berufsalltag gehören und entsprechend – etwa bei der Beschreibung der Anwendung von Schmerzgriffen – normalisiert werden. Zugleich wurde sichtbar, dass bezüglich der Bewertung der Rechtmäßigkeit einer Gewaltanwendung auch in der Polizei Unsicherheiten und divergierende Vorstellungen bestehen. Die Schwelle für Polizeibeamt*innen, polizeiliche Gewaltanwendungen als übermäßig zu beschreiben, liegt vergleichsweise hoch. In den Interviews wurde eine solche Bewertung für einzelne Fälle vorgenommen, in denen Kolleg*innen »über die Stränge« geschlagen hätten.
Neben dem Recht spielten für die Polizeibeamt*innen bei der Bewertung von polizeilicher Gewalt auch die Fragen eine Rolle, inwiefern eine Gewaltanwendung legitim erscheint und insbesondere, ob sie sich aus Praktikabilitätsgründen als notwendig darstellt. Aus polizeilicher Sicht sind bei der Bewertung in diesem Sinne Aspekte der Eigensicherung, der Effizienz und der Effektivität von zentraler Bedeutung. Solche pragmatischen Erwägungen können rechtliche Aspekte überlagern. In den Interviews mit der Justiz zeigte sich, dass solche polizeilichen Praktikabilitätserwägungen und Deutungsweisen auch die justizielle Entscheidungspraxis beeinflussen können, wenn sie von Staatsanwält*innen und Richter*innen übernommen werden.
Für die Betroffenen war neben der Legalität der Gewalt vor allem ihre Legitimität zentral, das heißt, ob das polizeiliche Handeln als fair und gerecht wahrgenommen wurde, und ob die Polizei aus Sicht der Befragten ihren Schutzauftrag erfüllte. Nur etwa ein Fünftel der befragten Betroffenen (19 Prozent) kritisierte den zugrundeliegenden Einsatz der Polizei an sich. Die meisten bemängelten den Zeitpunkt der Gewalt (22 Prozent), etwa dass die Gewalt zu schnell eingesetzt worden sei, die Art der Durchführung (Erhöhung einer Gefahrenlage oder das Vorgehen gegen Unbeteiligte; 19 Prozent), die Intensität der Gewaltanwendungen (17 Prozent) oder angenommene individuelle illegitime Motive der Beamt*innen (15 Prozent).

3.4 Umgangsweisen mit polizeilicher Gewalt

Nur ein geringer Teil der befragten Betroffenen (9 Prozent) erstattete Anzeige gegen die Polizeibeamt*innen. Gründe gegen eine Anzeigeerstattung waren insbesondere die mangelnden Erfolgsaussichten im Strafverfahren, Schwierigkeiten bei der Identifizierbarkeit der Polizeibeamt*innen, Sorge vor Repressionen, fehlende objektive Beweise, und dass ihnen von anderen Personen von einer Anzeige abgeraten wurde. Auch Personen, die anwaltlich beraten wurden, entschieden sich in der Regel gegen eine Anzeigeerstattung und wählten teilweise andere Umgangsweisen (etwa Beratungsstellen, Bekanntenkreis). Rechtsanwält*innen gaben in den Interviews an, dass sie aus den genannten Gründen und aus Sorge vor einer Retraumatisierung der Betroffenen häufig von einer Anzeige abrieten. PoC gaben mit 51 Prozent anteilig betrachtet häufiger als weiße Personen an, ihnen sei von der Anzeigeerstattung abgeraten worden. Sowohl von Betroffenen, als auch von Polizeibeamt*innen wurde berichtet, dass die Aufnahme von Strafanzeigen gegen Polizeibeamt*innen in Polizeidienststellen mitunter verweigert werde.
Auf polizeilicher Seite spielt neben Einsatznachbereitungen und informellen Besprechungen vor allem das polizeiliche Berichtswesen eine wesentliche Rolle. In den Interviews wurde diesbezüglich ein Kontinuum sichtbar, das von professionellen Darstellungen aus polizeilicher Perspektive bis hin zu bewussten Falschdarstellungen reicht (sogenanntes »Geradeschreiben«). Zugleich zeigten sich für Polizeibeamt*innen hohe Hürden, Gewaltanwendungen durch Kolleg*innen zu kritisieren oder gar zur Anzeige zu bringen.

3.5 Strafjustizielle Aufarbeitung

Bei den Verdachtsfällen rechtswidriger polizeilicher Gewaltanwendung, die ins Hellfeld gelangen, ist eine spezifische Erledigungspraxis durch die Staatsanwaltschaften zu beobachten. Ausweislich der Staatsanwaltschaftsstatistik sind diese Verfahren durch eine äußerst niedrige Anklagequote von etwa 2 Prozent (durchschnittliche Quote aller Ermittlungsverfahren: 22 Prozent) sowie eine sehr hohe Einstellungsquote gekennzeichnet. Im Jahr 2021 wurden danach 93 Prozent der abschließend erledigten Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen wegen rechtswidriger Gewaltausübung mangels hinreichenden Tatverdachts nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. In 4 Prozent stellten die Staatsanwaltschaften die Verfahren trotz hinreichenden Tatverdachts gegen die Polizeibeamt*innen gegen Auflagen oder wegen Geringfügigkeit ein.
Unsere Ergebnisse zeigen, dass diese ungewöhnliche Erledigungspraxis nicht nur auf unberechtigte Anzeigen bzw. die Bewertung der polizeilichen Gewaltanwendungen als juristisch gerechtfertigt zurückzuführen ist, sondern dass Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen strukturelle Besonderheiten aufweisen. Für die spezifische staatsanwaltschaftliche Erledigungspraxis in diesem Deliktsbereich ergeben sich aus dem empirischen Material vor allem fünf Umstände:
Die Beweislage in diesen Verfahren ist häufig kompliziert oder widersprüchlich. So können in vielen Verfahren bereits die tatverdächtigen Polizeibeamt*innen nicht identifiziert und daher auch nicht verfolgt werden. Dies stellt zum einen für die Betroffenen einen wesentlichen Grund dar, schon keine Strafanzeige zu erstatten. Zum anderen zeigte sich in der Betroffenenbefragung auch, dass 40 Prozent der Verfahrenseinstellungen nach § 170 Abs. 2 StPO erfolgt waren, weil die Tatverdächtigen nicht ermittelt werden konnten. Darüber hinaus fehlt es in diesen Verfahren oft an objektiven Sachbeweisen, so dass sich die widersprechenden Aussagen von Polizeibeamt*innen und Betroffenen gegenüberstehen.
Vor diesem Hintergrund haben polizeiliche Zeug*innen in einschlägigen Strafverfahren eine ambivalente Position. Einerseits sind sie angesichts ihrer Rolle und oft auch der sozialen Nähe zu den Beschuldigten keine neutralen Beobachter*innen. Insofern finden sich in den Interviews Hinweise auf Solidarisierungseffekte zwischen Polizeibeamt*innen, wenn ein*e Kolleg*in angezeigt wird. Andererseits erfahren polizeiliche Zeug*innen durch die Justiz häufig eine besondere Behandlung und werden von Staatsanwält*innen und Richter*innen nicht selten als besonders glaubwürdig eingeschätzt. Dies lässt sich auch damit erklären, dass es Polizeibeamt*innen aus ihrer Alltagspraxis gewohnt sind, als Zeug*innen in Strafverfahren aufzutreten. Sie kennen als »Berufszeug*innen« die Gepflogenheiten bei Ermittlungen und vor Gericht und das in der Justiz gebräuchliche Vokabular, so dass ihre Aussagen besonders professionell erscheinen.
Auch in Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen werden die Ermittlungen trotz der Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft im Wesentlichen von der Polizei durchgeführt. Für die ermittelnden Polizeibeamt*innen stellt diese Situation des Vorgehens gegen Kolleg*innen im Hinblick auf die notwendige Neutralität eine erhebliche Herausforderung dar, wie auch der EGMR betont.(4) Diese Problematik ist weitestgehend auch in der Polizei anerkannt. Entsprechend zentralisieren einige Bundesländer die Ermittlungen in solchen Fällen, spezialisieren die Ermittler*innen und streben nach einer (teilweisen) organisatorischen Verselbständigung der ermittelnden Dienststellen. Die Interviews mit Polizei und Justiz geben indes Hinweise darauf, dass diese Schritte angesichts präreflexiver Vorannahmen bei den Ermittler*innen nicht ausreichend sind, um hinreichend neutrale Ermittlungen in solchen Fällen zu garantieren.
Für Staatsanwaltschaften sind Verfahren gegen Polizeibeamt*innen in verschiedener Hinsicht besondere Verfahren. Erstens bedeuten diese Verfahren einen besonderen Ermittlungsaufwand bei gleichzeitig hoher Arbeitsbelastung und mangelhafter Ausstattung der Justiz. Vor diesem Hintergrund greifen Staatsanwält*innen, wie in den Interviews berichtet wurde, auch in Verfahren gegen Polizeibeamt*innen intensiv auf die internen polizeilichen Ermittlungen zurück. Zweitens sind die Staatsanwaltschaften bei der Bearbeitung solcher Verfahren mitunter mit besonderen Erwartungen aus Polizei und Öffentlichkeit konfrontiert, etwa derartige Verfahren zügig zu erledigen.
Polizei und Justiz verbindet ein institutionelles Näheverhältnis, das durch eine alltägliche Kooperation bei der gemeinsamen Aufgabe der Kriminalitätsbearbeitung gekennzeichnet ist. Angesichts dessen besteht in der Justiz ein bestimmtes Bild von der Polizei und von Polizeibeamt*innen, das in Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt herausgefordert wird. Bei der Bearbeitung solcher Verfahren kann sich dies in bestimmten Vorannahmen über Polizeibeamt*innen einerseits und Betroffene polizeilicher Gewaltanwendung andererseits niederschlagen, wie in den Interviews sichtbar wurde. Solche Vorannahmen können zum Beispiel dazu führen, dass die Glaubwürdigkeit polizeilicher Zeug*innen und Beschuldigter per se unterstellt wird. Für Staatsanwält*innen und Richter*innen erscheint es oftmals naheliegender, die polizeiliche Sicht- und Deutungsweise zu übernehmen. Dies zeigte sich etwa in einer skeptischen Grundhaltung gegenüber von polizeilicher Gewalt Betroffenen sowie in der Übernahme polizeilicher Bewertungsmaßstäbe zur Praktikabilität von Gewaltanwendungen.

3.6 Gegenläufige Verfahren

Insgesamt ein Drittel (31 Prozent) der Befragten in der Betroffenenbefragung gab an, selbst angezeigt worden zu sein. 70 Prozent der so eingeleiteten Strafverfahren wurden wegen § 113 und/oder § 114 StGB geführt. Zwar zeigten die Betroffenen übermäßiger polizeilicher Gewalt selbst nur selten die gewaltanwendenden Polizeibeamt*innen an. Von denjenigen, die Anzeige erstattet hatten, wurden jedoch 65 Prozent ihrerseits durch die Polizei angezeigt.
Von der Justiz werden die gegenläufigen Verfahren unterschiedlich gehandhabt – teilweise werden die Verfahren zusammengeführt, teilweise werden die Anzeigen voneinander getrennt bearbeitet. Vor allem im Zusammenführungsmodell scheint es aufgrund der beschriebenen Vorannahmen über die Glaubwürdigkeit der polizeilichen Perspektive in der Justiz eine Tendenz dazu zu geben, Verfahren wegen Körperverletzung im Amt bei unklarem Sachverhalt eher einzustellen und in Verfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen u.ä. eher Anklage zu erheben. Teilweise ist ministerial vorgegeben, dass Verfahren wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamt*innen nicht aus Opportunitätsgründen eingestellt werden sollen.

3.7 Dominanz und Definitionsmacht der Polizei

Der Polizei kommt in der Gesellschaft eine besondere Definitionsmacht zu, die als funktionale Dominanz beschrieben werden kann, denn es ist gerade Aufgabe der Polizei, Situationen verbindlich zu klären und bestimmte Normen, Interessen und Deutungsweisen durchzusetzen. Diese Dominanz wird einerseits situativ durch polizeiliche Gewaltausübung hergestellt und reproduziert. Andererseits hat die Polizei, wie gezeigt, auch bei der nachträglichen Bewertung und Aufarbeitung polizeilicher Gewaltanwendungen eine besondere Definitionsmacht. Die Tendenz in der Justiz, polizeiliche Sicht- und Bewertungsweisen als besonders plausibel wahrzunehmen, setzt die Dominanz polizeilicher Deutungen in Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen fort.
Auf diese Weise führt die Dominanz polizeilicher Deutungsweisen zu einer spezifischen Vereindeutigung von gewaltvollen Einsätzen, die prinzipiell mehr Deutungen und verschiedene Bewertungen zulassen würden. Polizeiliche Gewalt wird somit strukturell einer Infragestellung entzogen. Dies ist für die Tätigkeit der Polizei zwar funktional, erweist sich aber dort als besonders problematisch, wo sich die Definitionsmacht der Polizei zu Unrecht durchzusetzen vermag. Die Beschwerdemacht der Betroffenen begrenzt die polizeiliche Deutungsmacht. Diese ist jedoch aufgrund gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse unterschiedlich verteilt. Viele Betroffene übermäßiger polizeilicher Gewaltanwendungen kommen so in der Praxis kaum zu ihrem Recht.

Laila Abdul-Rahman ist Kriminologin und Diplom-Juristin sowie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt KviAPol (»Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt:innen«) an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt
Hannah Espín Grau ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kriminologie und Strafrecht der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt
Luise Klaus ist Promovendin am Institut für Humangeographie der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und war Mitarbeiterin im Forschungsprojekt KviAPol. Gemeinsam mit den anderen drei Autor*innen hat sie den Sammelband »Gewalt im Amt« herausgegeben
Tobias Singelnstein ist Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie am Fachbereich Rechtswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt und Mitglied im RAV

Endnoten
(
1)   Die vier Autor*innen haben dieses Jahr gemeinsam den Sammelband herausgegeben: Abdul-Rahman, Laila; Espín Grau, Hannah; Klaus, Luise; Singelnstein, Tobias (2023). Gewalt im Amt. Übermäßige polizeiliche Gewaltanwendung und ihre Aufarbeitung. Frankfurt, New York: Campus. Online verfügbar unter http://www.content-select.com/index.php?id=bib_view&ean=9783593454382.
(2)   Der Beitrag stellt eine gekürzte Version der Zusammenfassung der Ergebnisse dar, die, ebenso wie das Buch, auf der Projektwebsite heruntergeladen werden kann, https://kviapol.uni-frankfurt.de/.
(3)   Stoughton, S. W., Noble, J. J. & Alpert, G. P. (2020). Evaluating police uses of force. New York University Press.
(4)   Basu gegen Deutschland, Nr. 215/19, Urteil vom 18.10.2022, Rn. 36.