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Leipzig im Polizeigriff

Repressionen gegen die Proteste nach dem Antifa-Ost-Urteil(1)

Doreen Blasig-Vonderlin

1.321 Verfahren gegen mehrheitlich friedliche Demonstrierende: Das ist die Bilanz des »Leipziger Kessels«. In diesen hat die Polizei Menschen getrieben, die am 3. Juni gegen das Urteil im Antifa-Ost-Verfahren gegen die Antifaschistin Lina E. und andere demonstriert haben. Details zum Ablauf und den vielfachen Rechtsverstößen der Behörden sowie einige Kuriositäten haben wir hier für Euch zusammengefasst. Jetzt werden dringend Rechtsanwält*innen gesucht, die die Betroffenen aus dem Kessel verteidigen.

Als wäre das Antifa-Ost-Verfahren nicht skandalös genug gewesen, beobachten wir seit der Urteilsverkündung in Leipzig eine erschütternde Welle der Repression.
Zur Erinnerung: Am Oberlandesgericht (OLG) Dresden war seit Anfang September 2021 ein Verfahren gegen vier Antifaschist*innen geführt worden. Der Hauptangeklagten Lina E. wurde vorgeworfen, mit drei weiteren Menschen mehrerer Angriffe auf Neonazis verübt zu haben. Den Angeklagten wurden unter anderem die Bildung beziehungsweise Unterstützung einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB sowie mehrere gefährliche Körperverletzungen vorgeworfen. Schon früh hatte die Bundesanwaltschaft die Ermittlungen an sich gezogen, da sich die Vereinigung der Bundesanwälte »an der Schwelle zum Terrorismus« befinden würde. Lina E. wurde nach ihrer Verhaftung am 5. November 2020 medienwirksam per Hubschrauber zum Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof (BGH) nach Karlsruhe geflogen und saß seit November 2020 in Untersuchungshaft.
Im September 2021 begann dann im Hochsicherheitssaal des OLG Dresden die Hauptverhandlung. Diese endete nach fast 100 Verhandlungstagen mit Verurteilungen: Lina E., die an allen abgeurteilten Taten beteiligt gewesen sein soll, soll eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren und drei Monaten verbüßen; sie wurde am Tag der Urteilsverkündung am 31. Mai 2023 wegen nunmehr fehlender Fluchtgefahr von der weiteren Untersuchungshaft verschont. Die Mitangeklagten erhielten Freiheitsstrafen zwischen zwei Jahren und fünf Monaten sowie drei Jahren und drei Monaten; die Urteile sind noch nicht rechtskräftig.

Der »Tag X« am 3. Juni 2023: Halb Leipzig wird zum »Kontrollbereich«

Bereits Wochen vor der Urteilsverkündung vom Mittwoch, den 31. Mai 2023, war bundesweit für eine Demonstration für den Samstag, den 3. Juni, nach Leipzig mobilisiert worden. Dieser wurde als »Tag X« bezeichnet. Auch Polizei und Staatsanwaltschaft bereiteten sich darauf vor: Für vermeintlich besonders gefährdete Gebäude wurden die Schutzvorkehrungen verstärkt, eine große Polizeipräsenz war eingeplant.
Die Stadt Leipzig erließ bereits am Dienstag, den 30. Mai, eine Allgemeinverfügung, mit der das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit quasi außer Kraft gesetzt wurde und verbot für den Samstag und Sonntag nach der Urteilsverkündung jegliche öffentliche Versammlung unter freiem Himmel, die sich auf den »Antifa Ost-Prozess« oder die dort Angeklagten bezieht und die nicht bis Mittwoch, den 31. Mai, um 0 Uhr angemeldet wurde.
Am Mittwoch erklärte das sächsische Innenministerium zudem halb Leipzig zum Kontrollbereich. Das heißt, die Polizei durfte dort von Freitag, dem 2.6., an, für 48  Stunden verdachtsunabhängige Personenkontrollen durchführen. Die Polizei richtete Kontrollen an allen größeren Zufahrtsstraßen ein. Bahnmitarbeitende sollen aufgefordert worden sein, »verdächtig links« aussehende Personen in den Zügen nach Leipzig umgehend der Polizei zu melden.
Schon am Abend nach der Urteilsverkündung sollte im Leipziger Osten eine nicht verbotene Demonstration unter dem Motto »Freiheit für alle Antifaschist*innen« stattfinden. Die Auftaktkundgebung war im Lene-Voigt-Park geplant, anschließend war beabsichtigt, auf der mit der Behörde abgestimmten Route das Recht auf Versammlungsfreiheit wahrzunehmen.
Doch dazu kam es nicht. Die Polizei hat den Demonstrationszug gestoppt und die Versammlungsbehörde entschied unter Angabe fadenscheiniger Begründungen, dass die Versammlung nur als stationäre Kundgebung durchgeführt werden darf. Die Versammlungsleitung beendete daraufhin die Versammlung.
Am Donnerstag, den 1. Juni, fand in Leipzig anlässlich des Internationalen Kindertages eine Demonstration statt, angemeldet von der Landtagsabgeordneten Jule Nagel (Die Linke). Es waren etwa 170  Teilnehmende vor Ort, die Polizeipräsenz massiv. Schätzungen zufolge kamen wohl mindestens drei Beamt*innen auf ein*en Demonstrant*in.
Die Anmelderin beobachtete dabei einen kontrollierenden Polizeibeamten, wurde dann selber von einem Beamten zur Seite gestoßen und anschließend rüde festgenommen. Der Abgeordnetenstatus von Jule Nagel wurde dabei ignoriert. Die Staatsanwaltschaft (StA) Leipzig hat mittlerweile ein Ermittlungsverfahren gegen die Abgeordnete wegen des Vorwurfs der Körperverletzung eingeleitet.
Noch am selben Abend entschied die Versammlungsbehörde, die für Samstag angemeldete Großdemonstration »Tag X – United we stand – Trotz alledem, autonomen Antifaschismus verteidigen« zu verbieten. Das Verwaltungsgericht Leipzig und das Oberverwaltungsgericht Bautzen bestätigten das Verbot, eine Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.
Insgesamt wurden acht Versammlungen verboten, unter anderem die der Gefangenengewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO) unter dem Motto »Freiheit für alle politischen Gefangenen«. Zwanzig weitere Anmeldungen wurden seitens der Anmelder*innen zurückgenommen.
Aufgrund der massiven Einschränkungen der Versammlungsfreiheit erfolgten im Laufe des Freitags Aufrufe zum dezentralen Cornern, also sich auf den Straßen und Plätzen zu versammeln. In der Nacht zum Samstag kam es dann zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, unter anderem im Stadtteil Connewitz; in diesem Zusammenhang wurden am Samstag fünf Personen festgenommen.

Polizeiliches Kesseltreiben

Eine durch den Verein Say it Loud e.V.  für den 3. Juni angemeldete Demonstration unter dem Motto »Die Versammlungsfreiheit gilt auch in Leipzig« wurde dagegen nicht verboten. Diese sollte ab 16:30 Uhr mit einer Auftaktkundgebung am Alexis-Schumann-Platz im Stadtteil Südvorstadt beginnen. Zu diesem Zeitpunkt sollen ca. 1.500 Personen unter starker Polizeipräsenz vor Ort gewesen sein.
In langen Gesprächen des Versammlungsleiters mit Polizei und Versammlungsbehörde kam keine Einigung über die Demoroute zustande. Die Versammlungsbehörde drängte auf eine stationäre Kundgebung, die Versammlungsleitung suchte nach einer Konfliktlösung und Wegen, die Demonstration durchführen zu können. Laut Innenministerium erfolgte jedoch die Beendigung der Versammlung, bevor eine abschließende behördliche Beschränkung auf eine stationäre Versammlung ergangen war.
Bereits um 17:10 Uhr begann die Polizei, eine Kette an der Kreuzung der Karl-Liebknecht-Straße und der Kurt-Eisner-Straße zu ziehen. Spätestens ab 17.30 Uhr standen an allen Ecken der Versammlungsfläche und der angrenzenden Parkanlagen Polizeikräfte. Es erfolgten Durchsagen, in denen Demonstrierende aufgefordert wurden, Vermummungen abzunehmen. Hierzu waren nicht alle Teinehmer*innen bereit. Später stellte sich heraus, dass sich unter den Vermummten auch Zivilpolizist*innen befanden.
Während der Verhandlungen des Versammlungsleiters mit der Versammlungsbehörde löste sich eine Gruppe von circa 30-50 Leuten aus der Demonstration und begann um 18:06 Uhr, die Polizeikräfte auf der Karl-Liebknecht-Straße südlich des Versammlungsgeschehens mit Steinen, Flaschen und Pyrotechnik zu bewerfen.
Aufgrund der Eskalation löste die Versammlungsleitung die Versammlung auf. Um 18:13 Uhr stürmte die Polizeikette aus Süden auf die Gruppe der 30-50 Personen zu und drängte sie auf den Heinrich-Schütz-Platz. Diese versuchte, sich in Richtung Kant-Gymnasium und Kochstraße zu entfernen, wurden jedoch sofort von allen Seiten durch Polizist*innen umstellt.
Hunderte unbeteiligte Personen zogen sich unterdessen in Richtung Heinrich-Schütz-Platz und den davorliegenden Fußweg zurück. Um 18:24 Uhr erfolgte eine weitere Ansage der Polizei: Unter Berufung auf das mit der Allgemeinverfügung ausgesprochene generelle Demonstrationsverbot forderte sie die Versammlungsteilnehmer*innen auf, »sich unverzüglich in Kleingruppen in Richtung Connewitz, Wolfgang-Heinze-Straße, zu entfernen.«
Um 18:28 Uhr befanden sich dann alle anwesenden Personen auf dem Heinrich-Schütz-Platz. Die gesamte Demonstration, bestehend aus überwiegend friedlichen Personen, war von der Polizei in einem Kessel umschlossen.

Polizeiwillkür, Schikanen und ein vermummter Staatsanwalt

Zur Verdeutlichung: Sämtliche Straßenkreuzungen waren mit Polizist*innen besetzt; über 1.500 Personen sollten also innerhalb von vier Minuten den Platz verlassen. Dies war objektiv unmöglich. Um 19:02 Uhr wurde den eingekesselten Personen per Durchsage dann mitgeteilt, dass Sie jetzt Beschuldigte in einem Strafverfahren seien. »Ihnen wird schwerer Landfriedensbruch unterstellt bzw. vorgeworfen. Dadurch werden sie zeitnah in die Abarbeitung durch die Kriminalpolizei zugeführt werden«.
Es folgte der Hinweis, dass die Maßnahmen gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs durchsetzen wurden, die Personen in der Maßnahme alle Rechte als Beschuldigte im Strafverfahren haben und einen Anwalt konsultieren könnten. Gleichzeitig wurden die Anwälte*innen vor Ort jedoch massiv behindert und Gespräche mit den Personen im Kessel durch die Polizei überwiegend unterbunden.
In einer Antwort des sächsischen Innenministers Armin Schuster (CDU) auf eine Anfrage eines SPD-Landtagsabgeordneten zum »Tag X« heißt es, dass »zur Bearbeitung und Sicherung der Einschließung weitere Polizeikräfte sowie zwei Teams des Einsatzabschnittes Kriminalpolizeiliche Maßnahmen und ein Staatsanwalt zum Ort entsandt (wurden)«.
Nach Abstimmung mit dem Leiter der Abteilung 6a der StA Leipzig und dem Polizeiführer wurden die Personen zum Zwecke der Identitätsfeststellung gemäß § 163b StPO vor Ort festgehalten (Verdacht schwerer Landfriedensbruch). Der von der StA Leipzig kontaktierte Bereitschaftsrichter bestätigte um 20:50 Uhr die Maßnahme und stellte nach § 163c StPO fest, dass aufgrund der Umstände (»Massen-Identitätsfeststellung«) eine richterliche Vorführung nicht möglich sei und die Dauer der Identitätsfeststellung übersteigen würde.
Bei dem Bereitschaftsrichter, der die Anordnung traf, handelte es sich um einen Richter einer Zivilkammer des Landgerichts. Ebenfalls fragwürdig erscheint die Tatsache, dass der anwesende Staatsanwalt es vorgezogen hat, seiner Tätigkeit vermummt nachzugehen.

Kälte, Durst und keine Toilette

Der Kessel wurde mehr als zehn Stunden lang aufrechterhalten, die letzten Personen konnten diesen erst gegen 5:05 Uhr morgens verlassen. Während des Kessels gab es – entgegen der offiziellen Verlautbarungen aus dem Innenministerium – keine menschenwürdige Versorgung der umschlossenen Personen: Die Polizei soll zum einen den Zugang zum Wasserwagen beschränkt haben.  Betroffene berichteten, dass die Abgabe von Wasser von der Bereitschaft zu einer ED-Behandlung abhängig gemacht wurde. Ein Wasserversorgungsanhänger der Stadtwerke wurde zunächst nicht durch die Polizeiabsperrung gelassen.
Erst nach 21:00 Uhr konnte durch die Sanitäter*innen eine notdürftige Wasserversorgung installiert werden; die Beamt*innen machten jedoch keine Anstalten, das Wasser selbst zu verteilen oder den eingekesselten Personen einen Zugang zum Wasser zu ermöglichen. Während der Nacht wurde die Wasserversorgung immer wieder unterbrochen; die Begründung lautete: »Das sind alles Straftäter, die bekommen kein Wasser«.
Zum anderen musste ein Toilettenwagen, der ab 20:15 Uhr vor Ort gewesen sein soll, wohl gegen 1 Uhr nachts wieder abrücken, da laut Polizei sonst die Lenkzeiten überschritten worden wären. Urinieren und der Wechsel von Hygieneprodukten sei nur in einem Busch unter Beobachtung von Polizei und anderen Anwesenden möglich gewesen.
Die Demo-Sanitäter*innen berichteten von katastrophalen Zuständen: Die Polizei habe sich keine Gedanken über die Versorgung der eingeschlossenen Personen gemacht; auch die Bereitschaft, Ansprechpartner*innen für die Sanitäter*innen zu benennen, fehlte.
Wichtig ist dabei zu bedenken: Der 3. Juni war ein warmer Tag. Die meisten Personen sind in sommerlicher Kleidung auf der Demonstration erschienen; viele trugen nur T-Shirts und kurze Hosen. Als offensichtlich wurde, dass die polizeilichen Maßnahmen nicht zeitnah zu einem Ende kommen würden, teilten die Demo-Sanitäter*innen der Einsatzleitung bereits gegen 20:00 Uhr mit, dass es Bedarf an vielen Rettungsdecken geben werde.
Erst nach mehreren Nachfragen und längerem Hinhalten wurden gegen 23.00 Uhr etwa hundert Wärmedecken von der Polizei zur Verfügung gestellt, angesichts der Anzahl von mehreren hundert festgesetzten Personen war diese Anzahl völlig unzureichend. In der Nacht sanken die Temperaturen auf etwa sieben Grad.
Eine polizeiliche Versorgung mit Lebensmitteln fand zu keinem Zeitpunkt statt. Die Demo-Sanitäter*innen kauften daraufhin selbst ein und riefen öffentlich zu Spenden von Nahrungsmitteln auf; beim Verteilen wurden sie immer wieder durch die Polizei behindert.

Kessel und Kriminalisierung gegen 1.321 Menschen

In dem Kessel befanden sich 1.323 Personen. Darunter befanden sich zwei Kinder, 104 Jugendliche und 276 Heranwachsende. Bis auf die beiden Kinder wurden gegen alle anderen 1.321 Personen Verfahren wegen des Verdachts der Beteiligung an schwerem Landfriedensbruch nach § 125 a StGB eingeleitet (Stand Oktober 2023).
Den minderjährigen Personen wurde vielfach der Kontakt zu den Erziehungsberechtigten verweigert. Anwesende Eltern durften nicht zu ihren Kindern. Das Jugendamt wurde – entgegen der gesetzlichen Verpflichtung aus dem Jugendgerichtsgesetz – von den Maßnahmen nicht informiert. Die Jugendlichen wurden auch nach dem Ende der Maßnahme nicht an ihre Eltern übergeben, sondern größtenteils nach Sicherstellung der mitgeführten Mobiltelefone sich selbst überlassen; oft wurde ein Platzverweis ausgesprochen ohne Prüfung, ob der Wohnort von dem Platzverweis erfasst sein könnte. Amnesty International kritisierte die Behandlung der eingeschlossenen Personen als Missachtung der Menschenwürde und als eine Verletzung des Verbots der Folter.
Nach der Festnahme der Landtagsabgeordneten Nagel am 1. Juni wurde durch das Netzwerk »Leipzig nimmt Platz« am nächsten Tag um 1:29 Uhr eine am Herderpark beginnende Versammlung am 04.06.2023 ab 19 Uhr mit dem Motto: »Gegen jede Polizeigewalt!« durch die Versammlungsbehörde unter Berufung auf die Allgemeinverfügung verboten. Als Begründung wurde
angegeben, dass diese Versammlung im Zusammenhang mit dem Antifa Ost-Verfahren stünde.
Als sich am Sonntag, den 4. Juni, Menschen mit den in den zentralen Polizeigewahrsam verbrachten Personen solidarisch zeigen wollten, wurden diese kurzerhand vor der Polizeidienststelle eingekesselt; ungeachtet der Tatsache, dass Demonstrationen nicht genehmigt werden müssen, nannte die Polizei als Grund für den Kessel die Teilnahme »an einer nicht genehmigten Demonstration«.

Was bleibt? Die Bilanz des Wochenendes

Der Kessel wurde aufgelöst, doch dieses Wochenende im Juni 2023 wird Demonstrierende und Justiz noch lange beschäftigen. Als Bilanz festzuhalten sind:

  • Es gibt mindestens 1.321 Ermittlungsverfahren wegen Landfriedensbruch im besonders schweren Fall.
  • Bis zum 8. Juni wurden insgesamt 112  Personen in den Zentralen Polizeigewahrsam (ZPG) verbracht, davon 82  Personen zur Gefahrenabwehr; hier erfolgten 5 richterliche Vorführungen.
  • 30 Personen wurden vorläufig festgenommen, gegen mehrere Beschuldigte wurden Haftanträge gestellt.
  • Wegen der Ausschreitungen am Freitagabend wurden 5 Haftbefehle erlassen, einer wurde am 5. Juni wieder außer Vollzug gesetzt.
  • Im Zusammenhang mit dem Kessel am Samstag wurden 6 Haftanträge gestellt, gegen 3 Beschuldigte wurde der Haftbefehl erlassen und in Vollzug gesetzt, gegen 2 Beschuldigte wurde der Haftbefehl erlassen und außer Vollzug gesetzt, einer wurde nicht erlassen. Zwischenzeitlich sind alle Haftbefehle außer Vollzug gesetzt worden.
  • Ein Lichtblick: Das OLG Dresden hat am 18. September auf eine weitere Beschwerde einer Kollegin den Haftbefehl gegen ihren Mandanten aufgehoben und stellt fest, dass angesichts der dem Senat vorliegenden Aktenbestandteile kein dringender Tatverdacht vorliegt.
  • Es wurden 20 Platzverweise / Aufenthalts­verbote ausgesprochen.
  • Wegen Ausschreitungen am Samstagabend in Connewitz wurden zwei weitere Haftbefehle erlassen.
  • Es wurden 383 Handys, 202 Bekleidungsstücke, 133 Vermummungsgegenstände, 31 Brillen, 1 Banner, 1 Btm, 310  Aufkleber/Stícker/Patches, 8 Stück elektronisches Zubehör, 3 Bauchtaschen, 11 Pyrotechnische Erzeugnisse, 2 Dokumente, 1 Mal Bargeld, 1 Rucksack und 18 sonstige Gegenstände sichergestellt/ beschlagnahmt. Bis zum 14.08.23 erfolgte keine Rückgabe.
  • An den eingerichteten Kontrollstellen fanden über 300 Identitätsfeststellungen statt, dabei wurden in über 70 Fällen Sachen, mitgeführte Gegenstände und etwa ein Dutzend Personen durchsucht.
  • Es wurden (jenseits des Kessels) mehr als 100 Straftaten registriert.
 

Nach Auskunft des sächsischen Innenministers vom 5. Juli waren rund um den »Tag X« 4.600 Polizeibeamte aus 12 Bundes­ländern und der Bundespolizei, vier Polizeihubschrauber, 17 Wasserwerfer, neun Sonderwagen (Räumpanzer) sowie zwölf Polizeipferde im Einsatz.

Was jetzt? Anwält*innen gesucht!

Dies ist eine kurze Zusammenfassung der Ereignisse. Eine politische, gesellschaftliche und juristische Aufarbeitung ist zwingend erforderlich. Das Auftreten der Behörden am Wochenende um den »Tag X« in Leipzig zeigt eindeutig die fortschreitende Repression gegen Antifaschist*innen. Legitimer Protest wird unmöglich gemacht, Grundrechte immer weniger beachtet. Der Staat legitimiert eigenes Fehlverhalten mit dem Erfordernis der Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung, in Sachsen offensichtlich um jeden Preis.
Zum Zeitpunkt der Fertigung dieses Beitrages (22. September 2023) ist festzuhalten: Außer dem OLG Dresden halten Staatsanwaltschaft Leipzig und Amtsgericht Leipzig (der Verfasserin sind landgerichtliche Entscheidungen nur im Zusammenhang mit dem OLG Verfahren bekannt) den Anfangsverdacht nach § 125 a StGB und § 28 SächsVersG (Vermummung) für gegeben, mit der Folge, dass gegen alle 1.321 Personen ermittelt wird. Das Sächsische Innenministerium lässt verlauten:
»Aufgrund der polizeilichen Erkenntnisse und der vorliegenden Videos zu dem Geschehen handelt es sich bei den von der Umschließung Betroffenen um die Personen, die nicht bloße Unbeteiligte sind, sondern um die Personen, gegen die aufgrund der polizeilichen Feststellungen ein Anfangsverdacht besteht.«
Rechtsanwält*innen aus Leipzig versuchen, Betroffene zu unterstützen und an andere Kolleg*innen zu vermitteln, wenn Anfragen nach anwaltlicher Unterstützung an sie herangetragen werden. Die StA Leipzig nimmt § 146 StPO (Verbot der Mehrfachverteidigung) sehr ernst; sollten die Verfahren weitergeführt werden (wonach es zurzeit tatsächlich aussieht), wird weitere Unterstützung benötigt werden. Bislang hat das Amtsgericht Leipzig alle Beiordnungsanträge positiv entschieden, da die Staatsanwaltschaft von einer Mindeststrafe, die über einem Jahr Freiheitsstrafe liegen wird, ausgeht.

Doreen Blasig-Vonderlin ist Rechtsanwältin und Fachanwältin für Strafrecht aus Leipzig und Mitglied im RAV

Endnote

(1)   Der Beitrag ist in abgewandelter Form in der Straßenzeitung Megaphon 3/23 veröffentlicht worden.