Kraftvoller Kongress in finsteren Zeiten
Doreen Blasig-Vonderlin, Franziska Nedelmann und Ulrich v. Klinggräff
Am 16. und 17. Juni 2023 tagte der RAV in den Räumen der Universität Leipzig unter dem Motto »Recht für alle – Solidarische Rechtskämpfe in Krisenzeiten«. Das war der erste Kongress seit Jahrzehnten. Zu unserer großen Freude nahmen 350 Menschen teil und das Feedback fiel überwältigend positiv aus. Welche Eindrücke, welche Bilder, welche Inhalte werden es sein, die wir in Erinnerung behalten? Und was können wir nächstes Mal noch besser machen? Eine Bilanz der Orga-Gruppe.
Woran werden wir uns erinnern, wenn wir in zehn Jahren auf den Kongress zurückblicken? Wird es der Auftakt am Freitagabend sein, als 350 Menschen in Zeiten der Entsolidarisierung, der Hetze gegen Migrant*innen sowie der Abschaffung von grundlegenden Asyl- und Menschenrechten, in einer Schweigeminute der Menschen gedachten, die auf der Flucht im Mittelmeer gestorben sind? Oder werden es die Schilderungen über den Leipziger Polizeikessel sein und damit über den aktuellen Hintergrund, vor dem dieser Kongress stattfand – die dramatische gesellschaftliche und politische Verschiebung nach rechts?
Womöglich auch die Verabschiedung der Resolutionen am Samstagabend zum Europäischen Asylrecht, zur Verfolgung unserer Kolleg*innen im Iran und zur Kriminalisierung der Klimagruppe Letzte Generation, wobei deutlich wurde, in welch zugespitzten gesellschaftlichen Rechtskämpfen wir alle uns derzeit befinden? Oder wird es doch die Aufstellung zum Gruppenfoto sein, welches unseren Zusammenhalt und unsere Stärke aufzeigen soll?
Werden es die Eindrücke aus den insgesamt 26 Veranstaltungen sein, die Intensität dieser zwei Tage, die inhaltliche Dichte und Vielfalt, die Art und Weise, wie wir solidarisch miteinander ins Gespräch gekommen sind? Oder ist es nicht doch vielleicht das Bild, wie wir gemeinsam in den Pausen und diesen lauen Sommertagen am Buffet stehen oder unter den Sonnenschirmen sitzen, uns kennenlernen, die Diskussionen weiterführen…?
Von der Idee zum Event: Wie wunderbar wir zusammengearbeitet haben
Als einige von uns etwa 18 Monate zuvor die ersten Gedanken entwickelten, ob es 2023 nicht endlich an der Zeit wäre, dass der RAV möglichst viele Mitglieder zusammenbringen und die ganze Breite unserer täglichen anwaltlichen Kämpfe sichtbar machen sollte, war die Skepsis, die Sorge vor einem Flop, groß. Wir befürchteten: Es fehle uns an organisatorischer Erfahrung, einer soliden Einschätzung der Kosten, des Aufwandes und insbesondere an einer Prognose, ob solch ein Kongress überhaupt auf Interesse stoßen würde oder ob wir am Ende nicht viel zu groß gedacht hätten und uns dann mit wenigen Menschen in leeren Räumen wiederfinden würden.
Das spürbare Zögern vom Anfang wich im Laufe der Monate vorfreudiger Betriebsamkeit. Entscheidend dafür dürfte gewesen sein, dass sich eine stabile Gruppe von Anwält*innen und Referendar*innen aus Leipzig und anderswo bildete, die vertrauensvoll, gleichberechtigt und pragmatisch zusammengearbeitet hat. Unser Voluntarismus und unsere fehlende Professionalität bei der Planung einer derartigen Großveranstaltung erwiesen sich eher als Vor- statt als Nachteil. Denn so haben wir alles von Grund auf gemeinsam und kollektiv entwickeln können. Wir wuchsen immer enger zusammen.
Das Ziel, einen inhaltlichen roten Faden zu finden, der alle einzelnen Veranstaltungen verbindet, konnte am Ende sicher nicht umfassend erfüllt werden. Zu vielfältig waren die Ideen, die in überraschend kurzer Zeit von den Mitgliedern des RAV entwickelt wurden. Als grobe Linie verstanden werden können am ehesten die beiden großen Abendveranstaltungen über solidarische Rechtskämpfe aus der Geschichte im Spiegel der Entwicklung des RAV (»Meine Freiheit – Deine Freiheit« am Freitag) und der rechtspolitische Ausblick in die Zukunft bei der Podiumsdiskussion (»Recht für alle – Wie geht es weiter?« am Samstag).
Neue Rechtsgebiete: Wie der RAV wächst
Die Vorträge, Workshops, Fachgespräche, die den ganzen Samstag über stattfanden, haben gezeigt, dass der RAV dabei ist, sich inhaltlich deutlich über seine traditionellen Rechtsgebiete – Strafrecht, Migrationsrecht und Mietrecht – hinaus zu erweitern. So gab es auch Panels zu Sozialrecht, Arbeitsrecht und Klimagerechtigkeit.
Konzipiert und durchgeführt wurden die Veranstaltungen vielfach nicht nur von Jurist*innen, sondern auch von Akteur*innen der progressiven Zivilgesellschaft. Unseren Anspruch, dass der Kongress insgesamt die enge Verbundenheit des RAV mit zivilgesellschaftlichen Bewegungen abbilden solle, konnten wir aber nur begrenzt umsetzen. Die Zahl der teilnehmenden Nicht-Jurist*innen blieb überschaubar. Vielleicht auch aufgrund der doch sehr starken anwaltlichen Perspektive. Einzelne Kongressthemen werden in diesem InfoBrief aufgegriffen. Das Programm ist noch unter www.rav-kongress.de abrufbar.
Neben den inhaltlichen Zielen ging es uns bei diesem Kongress darum, dass wir für zwei Tage die Vereinzelung und das Gefühl der politischen Einsamkeit, die die Arbeit am Einzelfall für uns Anwält*innen im Alltag mit sich bringt, wenigstens kurz aufheben und Zeit finden, uns kennenzulernen, uns zu vernetzen und aus der Gemeinsamkeit neue Kraft zu schöpfen. Gerade für die vielen jüngeren Kolleg*innen und bei denjenigen, die aus Regionen kommen, in denen keine oder nur rudimentäre solidarische anwaltliche Strukturen bestehen, waren diese beiden Tage in Leipzig eine gute Erfahrung.
Überraschend großes Interesse und was wir erkannt haben
Überrascht hat uns das große Interesse von Studierenden und Referendar*innen. Leider mussten wir aufgrund der begrenzten Kapazitäten auf dem wunderbaren Sport-Campus der Universität Leipzig etlichen Menschen, die am Kongress teilnehmen wollten, absagen. Wir freuen uns über den Zulauf des Nachwuchses, den wir, wo immer möglich, unbedingt einbeziehen wollen, doch der Schwerpunkt des Kongresses sollte auf dem anwaltlichen Austausch liegen.
Was bleibt, ist die Freude über einen gelungenen Kongress und die Erkenntnis, dass der Austausch und der Zusammenschluss gerade in diesen Zeiten, in denen Demokratie und Rechtsstaat massiven Angriffen ausgesetzt sind, in der viele unserer Mandant*innen Ausgrenzung, Entrechtung und Niedertracht erfahren, von außerordentlicher Wichtigkeit sind. Außerdem bleibt die Erfahrung der gegenseitigen Bestärkung, Motivation und Unterstützung.
Insbesondere unseren Leipziger Kolleg*innen ist zu danken für die viele Arbeit und die großartige Organisation. Auch in hektischen Momenten, etwa als uns kurz vor dem Kongress die Partyräume plötzlich wieder abgesagt wurden, zeigtet ihr: Zuversicht, Zuverlässigkeit, Souveränität und Herzlichkeit.
Wir freuen uns schon jetzt auf den RAV-Kongress 2025, der wieder in Leipzig stattfinden wird, und laden Euch alle ein, Euch bei der Vorbereitung und inhaltlichen Ausgestaltung einzubringen.
Doreen Blasig-Vonderlin ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Strafrecht aus Leipzig und Mitglied im RAV
Franziska Nedelmann ist Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Strafrecht in Berlin und stellvertretende Vorstandsvorsitzende des RAV
Ulrich von Klinggräff ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Strafrecht in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV