Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfoBrief #124, 2022 > Der akj und die Causa Vollbrecht

Der akj und die Causa Vollbrecht

Eine Geschichte über mediales Versagen, Demokratieverständnis und Trans*[1]-feindlichkeit

Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der HU

Wahrscheinlich haben die meisten den Pressewirbel und den Aufschrei rund um die vermeintliche Absage eines Vortrages einer Biologin an der HU mitbekommen. Wir als Arbeitskreis kritischer Jurist*innen an der HU (akj) waren in dieser Geschichte sowohl Akteurin als auch Betroffene eines rechten Shitstorms aus TERF-Kreisen (trans*-exclusionary radical feminists). In diesem Text wollen wir die Geschehnisse rund um die Lange Nacht der Wissenschaften und Marie-Luise Vollbrecht aufarbeiten und schlaglichtartig einzelne Aspekte näher beleuchten. Dabei wurden die Abschnitte von verschiedenen kritischen Jurist*innen und Studierendenvertreter*innen des LGBTI-Referats geschrieben und bieten so Raum für mehrere Perspektiven.

Zunächst zum Hintergrund. Am 2. Juli dieses Jahres sollte Marie-Luise Vollbrecht im Rahmen der Langen Nacht der Wissenschaften (LNdW) einen Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit in der Biologie im Senatssaal halten. Soweit vermeintlich unspektakulär. Vollbrecht ist jedoch nicht irgendeine Biologin, sondern Mitverfasserin eines Artikels im Magazin WELT online, der am 1. Juni 2022 unter dem Titel »Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren«[2] veröffentlicht wurde. In dem Artikel empört sich eine Gruppe von Autor*innen über eine vermeintliche Gender-Ideologie, die den Kindern durch den ÖRR oktroyiert werde. Zu diesem Artikel und der dahinterstehenden, rechtsoffenen Verschwörungstheorien wurde schon viel und gut geschrieben[3], deshalb wird hier nicht noch einmal darauf eingegangen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass durch die scheinbar biologisch-wissenschaftliche Argumentation trans*- und queerfeindliche Aussagen ein seriöses Gewand bekommen und durch Medien wie der WELT in die gesellschaftliche Breite getragen werden. Vollbrecht fiel jedoch nicht erst durch diesen Artikel auf, sondern auch durch ihre Twitter Präsenz, auf der sie sich über trans* Studierende lustig machte, trans* Identitäten als Pädophile darstellte und rege Kontakte in das rechtsoffene TERF-Feld pflegte.
Lange wurde das Programm der LNdW ohne die Vortragenden verbreitet. Als publik wurde, dass die offen trans*feindliche Aktivistin Vollbrecht den Vortrag über Zweigeschlechtlichkeit halten sollte, war klar, dass es sich da nicht um eine kritische Einordnung von biologischen Theorien, sondern um eine politisch-aktivistische Verbreitung trans*feindlicher Narrative handeln würde. Und das im Senatssaal der Humboldt Universität. Gegen diese Verbreitung hetzerischen Gedankenguts an unserer Universität wollten wir uns wehren. Dementsprechend haben wir eine Kundgebung gegen die Veranstaltung angemeldet. Diese wurde schnell in gut vernetzten rechten Kreisen verbreitet. Neben einem Shitstorm mit Hassnachrichten eines unglaublichen Ausmaßes, war auch eine TERF-Gegendemonstration die Folge.
Die Universität, die offensichtlich die Veranstaltungen ihrer LNdW nicht geprüft hatte, entzog sich einer inhaltlichen Positionierung. Sie verschob den Vortrag aufgrund von angeblichen Sicherheitsrisiken durch die Proteste. Dieses Verschieben ohne inhaltliche Einordnung war gefundenes Fressen für das laufende Opfer-Narrativ rechter Gruppierungen. Und die Presse zog mit. Der akj wurde tagelang medial verschrien – der rbb war sich auch eines Nazi Vergleiches nicht zu schade. Dabei war auffällig, wie schlecht recherchiert wurde. Schnell wurde die Geschichte der überpolitisierten, woken Aktivist*innen erzählt, die wissenschaftliche Erkenntnisse nicht aushalten würden. Es dauerte ein paar Tage, bis die Medien Wind davon bekamen, dass Vollbrecht nicht irgendeine Wissenschaftlerin war, sondern eben auch trans*feindliche Aktivistin. Diese Erkenntnis hat es natürlich nicht mehr in die Springer Presse geschafft, die auf allen Kanälen gegen den akj gehetzt hatte.
Vollbrecht hatte sich im Vorlauf der Nachholveranstaltung öffentlichkeitswirksam dagegen gewehrt an der im Anschluss geplanten Podiumsdiskussion teilzunehmen. Die Argumentation: Ihr Vortrag sei biologisch-naturwissenschaftlich und brauche keine anderweitige Kontextualisierung. Diese Kontextualisierung nahm die Referentin lieber selber vor. Nachdem sie nach Beendigung ihres Vortrags keine Fragen (weder der Presse noch des Publikums) zugelassen hatte, war sie in einem YouTube-Livestream zu ›Cancel Culture‹ und der universitären Daseinsberechtigung von Gender Studies anzutreffen. Mit Forscher*innen der Sozialwissenschaften oder Gender Studies wollte sie sich hingegen nicht auseinandersetzen.

Die Rolle der Medien

Nach dem Welt-Artikel von Vollbrecht sah sich Springer-Chef Döpfner nach scharfer Kritik schließlich gezwungen, ein Statement für »Vielfalt und Freiheit« zu veröffentlichen, um den Imageschaden für den Springer-Konzern abzumildern; zuletzt wurde der gesamte Konzern wegen des Beitrages von einer queeren Job-Messe ausgeladen.[4] Doch ändern solche Statements nichts an der Strategie solcher Medien, bestehende Ressentiments gegen Minderheiten auszunutzen und Angst und Hass zu schüren, um möglichst viel Klicks und Aufmerksamkeit zu generieren. Auf dieses System springen immer mehr Medien auf, bspw. bezeichnet die NZZ die legitime Kritik an dem Welt-Beitrag als »Cancel Culture«.
Viele Medienhäuser lassen sich bewusst durch trans*feindliche Akteur*innen instrumentalisieren, so auch nach dem verschobenen Vortrag. Noch am Tag unserer Demonstration gegen den Vortrag Vollbrechts veröffentlichte die BILD den Beitrag »Nach Druck von radikalen Aktivisten – Humboldt-Uni sagt Geschlechter-Vortrag von Biologin ab«.[5] Die Strategie des Beitrages ist die Delegitimierung der Kritik und eine bewusste Entkontextualisierung. Schon am nächsten Tag ist der Mythos der eingeschränkten Wissenschaftsfreiheit in aller Munde – ohne dass deren Bedeutung überhaupt erläutert oder diskutiert wird. Denn Wissenschaftsfreiheit bedeutet nicht, dass die Humboldt Universität einer Meeresbiologin für eine populärwissenschaftliche Veranstaltung über ein gesellschaftlich so umkämpftes Thema wie Geschlecht eine Bühne geben muss. Schon gar nicht ihre größte Bühne.
Von da an sprangen die berichtenden Medien nur von einer zur nächsten Schlagzeile, bspw. »Wissenschaftsministerin rügt Humboldt-Universität«. Weder die Ministerin Stark-Watzinger, noch die Medien schienen sich über die inhaltliche Tiefe des BILD-Artikels hinaus mit dem Thema beschäftigt zu haben. Erst spät veröffentlichten die ersten Medien differenzierte Artikel und entdeckten auch die trans*-feindlichen Tweets von Vollbrecht. Die Wissenschaftsministerin & Medien sind der Springer-Presse auf den Leim gegangen, gemeinsam haben sie sich von TERFs instrumentalisieren lassen.

TERF-Ideologien und die Pipeline nach Rechts

Dass uns nach Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung über den Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht eine Welle an trans*feindlichen Hassnachrichten erreichte, war wenig überraschend. Die medialen Echokammern, in denen Diskurse über trans*-Personen zu einer moralischen Panik eskaliert werden, sind seit mehreren Jahren zu einer gefährlichen Alltäglichkeit geworden.
Interessant war jedoch das verstärkte Lautwerden rechter bis rechtsextremer Organisationen und Einzelpersonen, das von Vollbrechts Seite mit dröhnendem Schweigen hingenommen wurde. Vollbrecht selbst positioniert sich stets als explizit linke Feministin, was diese Allianzen auf den ersten Blick umso verwunderlicher machte. In Folge ihrer Co-Autor*innenschaft des bereits erwähnten Welt-Artikels wurde sie vom Autonomie Magazin unter anderem zu ihrer Zusammenarbeit mit Autoren interviewt, die ein verschwörungstheoretisches, rechtes Weltbild verbreiten. Auch gefragt wurde danach, warum sie sich für eine Veröffentlichung in einer Zeitung des Springer-Verlags entschieden hatten. Die Antworten waren so banal wie aussagekräftig: Andere Medienhäuser hatten den Artikel nicht gewollt. Ähnliches dürfte sie wohl über die Wahl ihrer Co-Autor*innenschaft sagen. Es ist bezeichnend, was für ein langes Verhältnis zielorientierter Zusammenarbeit eine Person mit Konservativen und Rechten haben kann, ohne anzuerkennen, dass sie die selben Narrative bedient. Das lange Interview mit dem Autonomie Magazin ist, wenn auch teils schwer zu ertragen, eine wahre Fundgrube für Argumentationsmuster trans*feindlicher ›Feminist*innen‹. Und gleichzeitig ein gutes Analyseobjekt für die Einfallstore, bzw. Bindeelemente, die TERF-Narrative für andere rechte Ideologien bieten.
Wichtigster Anknüpfungspunkt ist das biologistische Geschlechtsverständnis, das Trans*feindlichkeit stets zu Grunde liegt. Deviantes, das sich nicht in geschlechtliche Kategorien einfügen lässt, das normierte Rollen sprengt und die postulierte Binarität eines zweigeschlechtlichen Systems fundamental in Frage stellt, passt nicht in ein bürgerliches, bzw. konservatives Verständnis von Geschlecht. Und das teilen sich TERFs mit Rechten und christlichen Fundamentalist*innen. Sie definieren die Kategorie ›Frau‹ über primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, aus der deterministisch Erfahrungen, wie z.B. Mutterschaft, abgeleitet werden. Frauen auf Gebärfähigkeit und körperliche Differenzen zum Mann zu reduzieren, ist auch stets Grundlage antifeministischer Politiken. Trans*feindlichkeit ist eine höchst effektive Radikalisierungspipeline hin zu anderen rechten Ideologien. So funktioniert Rassismus ebenfalls über einen ordnenden und konstruierten Biologismus, der die Abgrenzung zu einem gefährlichen ›Anderen‹ ermöglicht und somit die denklogische Grundlage für die Verteidigung eines ebenso konstruierten ›Wir‹ bietet.
Hier zeigt sich auch die Bindefunktion, die trans*feindliche Ideologien und dog whistles zwischen einer liberal-feministischen, trans*-exkludierenden ›Mitte‹ der Gesellschaft und der extremen Rechten einnimmt. Diese hat erkannt, dass Forderungen gegen andere LGBTQ-Gruppen nicht mehr besonders gut funktionieren, um breiter gesellschaftlich für queerfeindliche Politik zu mobilisieren. Hetze gegen trans* Personen ist, wie unsere Erfahrungen belegen, hingegen auch in bürgerlichen Kreisen weiter salonfähig. Aus einer radikal queerfeministischen Perspektive sind diese Kämpfe natürlich stets zusammen zu denken, aber es lässt sich nicht leugnen, dass es gesamtgesellschaftlich ein Gefälle der Akzeptanz gibt.
Eine interessante Fallstudie ist die von Luca Hammer für den Verein Fearless Democracy durchgeführte Analyse der Twitter-Interaktionen des EMMA-Magazins. EMMA und seine Gründerin Alice Schwarzer sind zwei der wichtigsten Sprachrohre trans*feindlicher Narrative im deutschsprachigen Raum. Abseits von Angriffen auf trans*-Identitäten aus einer selbsterklärt feministischen Ecke macht die EMMA auch immer wieder mit anti-muslimischem Rassismus und starken Positionen gegen Sexarbeit von sich reden. Ein gefundenes Fressen für Rechte. So war auch bei dem am 14. Juli 2022 nachgeholten Vortrag ein Reporter des (sogar) vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuften Compact-Magazins anwesend und berichtete in hohen Tönen von Vollbrecht, die eine »der wenigen Aufrechten« im Widerspruch gegen »Genderideologen« sei. Gut die Hälfte der Tweets aus dem Jahr 2018, die EMMA-Artikel verlinkten, können dem rechten Spektrum zugeordnet werden.[6] Dass sich diese Entwicklung bereits über mehrere Jahre hinzieht, offenbart eine willige Annahme dieses neuen Publikums seitens der Redaktion. Die Publikationen der EMMA bedienen diese Leserschaft, für die sich die vertretenen Standpunkte nahtlos in ein bereits gefestigtes rechtes Weltbild einordnen lassen.
Wird über trans*-Rechte diskutiert, liegt dem stets als implizite erste Voraussetzung eine Skepsis darüber zugrunde, dass trans*-Identitäten, insbesondere nichtbinäre trans*-Identitäten überhaupt existieren. Gesprochen wird also nicht über Zugänglichkeiten von gesellschaftlichen Räumen oder die Verteilung von Ressourcen, sondern es wird die gelebte Realität von trans*-Personen zur Debatte gestellt. Wie könnte ein derartiges Gespräch jemals emanzipatorisch sein, wenn es doch die erste Voraussetzung jeden Diskurses verletzt: Die Anerkennung des Gegenübers als Subjekt, das auf die Welt blickt und Autonomie über die eigene Identität innehat.
Debatten, wie die an unserer Universität sind vor allem eins: Ablenkung. Sie sind langwierig, belastend und verhindern es, über emanzipatorische, queerfeministische Forderungen zu sprechen; über die Erfahrungen, die tatsächlich materiell die Leben von trans*-Studierenden im Spezifischen und trans*-Personen außerhalb der Universität im Allgemeinen prägen. Mit trans-, nichtbinären- und inter-Identitäten gehen spezifische Diskriminierungserfahrungen einher, aber nichtsdestotrotz lassen sich viele gemeinsame Kämpfe formulieren; innerhalb queerer Bewegungen, aber auch darüber hinaus. Bezahlbarer und vergesellschafteter Wohnraum ist ein trans*-Thema, ebenso wie ein gut finanzierter Sozialstaat, ein bedürfnisorientiertes Gesundheitssystem, ein kollektiver und emanzipatorischer Umgang mit patriarchaler Gewalt oder Polizei- und Gefängniskritik und Abolitionismus. Eine Analyse von Toni Morrison zur Funktion von Rassismus lässt sich auch hier nur zu gut anwenden:
»The function, the very serious function of racism is distraction. It keeps you from doing your work. It keeps you explaining, over and over again, your reason for being. Somebody says you have no language and you spend twenty years proving that you do. Somebody says your head isn’t shaped properly so you have scientists working on the fact that it is. Somebody says you have no art, so you dredge that up. Somebody says you have no kingdoms, so you dredge that up. None of this is necessary. There will always be one more thing«.[7]

Wer lehrt?

Meistens die, die es geschafft haben, sich durch den akademischen Hürdenlauf zu kämpfen, ohne zu fallen. Wer zusätzlich zu dem Stress einer akademischen Laufbahn auch noch mit Diskriminierung und schlechten sozialen und ökonomischen Startbedingungen zu kämpfen hat, ist grundsätzlich im Nachteil. Es gibt etliche Studien dazu, wie der sozioökonomische Hintergrund die berufliche und akademische Laufbahn beeinflussen kann. Die Wissenschaft, wie wir sie kennen, ist zum Großteil von weißen[8] (meist reichen) cis-Männern geprägt worden, da diese über Jahrhunderte die Einzigen waren, die Zugang zu Hochschulen bekommen haben.
Personen, die von Diskriminierung betroffen sind, schaffen es sowohl gesamtgesellschaftlich als auch in akademischen Kreisen selten an die Spitze. Der durchschnittliche deutsche Professor ist weiß, männlich, nicht be_hindert, hat die deutsche Staatsbürgerschaft seit Geburt, ist cisgeschlechtlich und heterosexuell. Auch wenn diese Eigenschaften nicht automatisch dafür sorgen, dass eine Person mehr oder weniger diskriminierendes Verhalten an den Tag legt, müssen wir leider immer wieder feststellen, dass mit mangelnder Betroffenheit auch meistens ein mangelndes Verständnis von Diskriminierung einhergeht. Der bestehende forscherische Kanon wird zumeist von Menschen geprägt, die in ihren Lebenserfahrungen in Bezug auf Diskriminierung relativ homogen sind, insofern, als dass sie kaum Erfahrung damit haben. Andere Perspektiven werden zwar immer häufiger, da auch die akademische Welt sich diversifiziert und Personen mit unterschiedlichen Hintergründen ihren Weg in die Wissenschaft finden. Marginalisierte Perspektiven, ebenso wie die Personen, die sie vertreten, werden dabei oft als ›nicht wissenschaftlich genug‹ abgewertet und somit aus dem Kanon ausgeschlossen.
Es gibt das allgemeine Vorurteil, dass persönliche Betroffenheit dafür sorgt, dass Menschen nicht wissenschaftlich zu Themen arbeiten können, die sie betreffen. Der weiße privilegierte cis Mann wird als Musterbeispiel an Objektivität genommen und als Punkt Null aller Perspektiven gesetzt. Dabei wird komplett ignoriert, dass es so etwas wie komplette Objektivität nicht gibt und dass die Art und Weise, wie wir wissenschaftlich arbeiten, immer auch von unserem eigenen Standpunkt beeinflusst wird. Auch die bisherige Wissenschaft wurde maßgeblich durch individuelle Perspektiven geprägt, nur war diese bisher eine cis-männlich, weiße Perspektive. Unsere persönlichen Biases beeinflussen sehr direkt, wie wir Situationen analysieren, egal ob bewusst oder unbewusst.
Es wird immer wieder behauptet, dass TIN*-Personen die Existenz eines biologischen Geschlechts leugnen oder dass trans*-Personen meinen, sie könnten ihre Chromosomen verändern. Diese Argumente kommen für gewöhnlich nicht von den Betroffenen selbst, sondern von Menschen, die ihnen feindlich gesinnt sind und ihre Glaubwürdigkeit in Frage stellen wollen.
Dass in der Biologie, so wie in anderen Wissenschaften auch, Kategorisierungen vorgenommen werden, mit denen Analysen und Forschung betrieben werden kann, ist nicht das Problem. Das Problem ist, wenn wir Aufgrund dieser Kategorisierungen, die immer eine Vereinfachung der Realität sind, unhinterfragt Urteile über Menschen in unserer Gesellschaft treffen.
Welche Chromosomen eine Person hat, sollte nicht ausschlaggebend dafür sein, ob diese Person respektiert und als Mensch anerkannt wird.
Viele Menschen scheinen zu vergessen, dass diese Kategorien menschengemacht sind. Wir haben Chromosomen, Keimzellen, Organe, Hormone etc., aber die Kategorisierung welche davon ›weiblich‹ und ›männlich‹ sein sollen, wird von Menschen vorgenommen und ist von gesellschaftlichen Geschlechtervorstellungen geprägt.
Was würde also passieren, wenn wir die Kategorien verändern? Wenn wir Merkmale einschließen, die vorher exkludiert wurden, wenn wir uns neue Kategorien ausdenken, oder wenn wir bestimmte Kategorien komplett außen vorlassen? Kategorisierungen und bestehendes Wissen hinterfragen, eröffnet immer Möglichkeiten für neue spannende Forschungen. Es öffnet ebenso den Weg für Erkenntnisse, die wir vielleicht nie erreicht hätten, wären wir bei den alten Kategorien geblieben.
Es ist enorm wichtig, bestehendes Wissen zu hinterfragen, besonders dann, wenn es als naturgegeben dargestellt wird.
Vollbrecht zeigt immer wieder, dass sich ihr Wissenschaftsverständnis auf ›das ist halt so und, wenn ihr mir widersprecht, seid ihr wissenschaftsfeindlich‹ herunterbrechen lässt. Als betroffene Person, aber auch als wissenschaftsbegeisterte Person finde ich diese begrenzte Sicht auf Wissenschaft sehr traurig. Wer weiß schon, welche Erkenntnisse wir verloren haben, weil Personen starrsinnig an althergebrachten Konzepten festgehalten haben? Wie langweilig muss die Welt für Menschen sein, die denken, sie wissen bereits alles, und es ist nicht mehr nötig Fragen zu stellen?

Betroffenenperspektive

Von Diskriminierung betroffene Personen erleben immer wieder, wie ein mangelnder Rückhalt in der Gesellschaft mit aktiv feindlichen Personen zusammenwirkt.
Für nicht Betroffene mag es so aussehen, als wäre das Ganze eine einfache Debatte, die unnötig aufgeblasen wurde. Für Betroffene ist das anders. Wir können nicht still zuschauen, wenn unsere bloße Existenz und unser Recht auf Leben in Frage gestellt und debattiert wird. Gleichzeitig werden wir selten ernst genommen, wenn es darum geht, feindliches Verhalten zu erkennen und als solches zu benennen. Für die meisten Nicht-Betroffenen reicht es, wenn Menschen wie Marie-Luise Vollbrecht sich hinstellen und sagen, dass sie nicht transfeindlich sind. Akte geschlossen. Fall erledigt. Wenn Betroffene dann das Thema nicht ruhen lassen, dürfen wir uns schnell Sachen anhören wie ›die meint das doch nicht böse, was regt Ihr Euch so auf?‹.
Vielen Personen aus der Community war schon vor der LNdW klar, dass Marie-Luise Vollbrecht auf Twitter unter dem Namen Frollein_VogelV seit Jahren transfeindliche Hetze verbreitet und die Lebensrealitäten von inter*-Personen in Frage stellt und pathologisiert. Dass Vollbrecht trotzdem bei einem so prestigeträchtigen Event wie der LNdW eine Bühne zugesagt bekommen hat, um ausgerechnet einen Vortrag mit Titel »Geschlecht ist nicht (Ge)schlecht – Sex, Gender und warum es in der Biologie nur zwei Geschlechter gibt« zu halten, war für viele Betroffene ein Schlag ins Gesicht. Die Angst davor, dass im Senatssaal der HU trans*feindliche Standpunkte einem breiten Publikum als Wissenschaft verkauft wird, war groß. Viele Studierende haben sich eine Einordnung und Kontextualisierung der Thematik gewünscht.
Der gesellschaftliche Diskurs wurde massiv verschoben und oft wurden den Betroffenen Argumente in den Mund gelegt, die diese nie getätigt haben, ohne dass sie sich in relevanter Form rechtfertigen und verteidigen konnten. Es sollte in dieser Debatte nicht um ›biologische Fakten‹ gehen, sondern darum, dass biologische Gegebenheiten keine Grundlage für Vorverurteilung und Diskriminierung sein dürfen. Außerhalb von Social Media-Plattformen waren TIN*-Personen kaum zu hören, und ihre Sicht der Dinge wurde selten in großen Zeitungen dargestellt, während Personen wie Vollbrecht auf allen Kanälen erzählen konnten, dass sie gecancelt werden. Während TIN*-Personen Angst hatten aus dem Haus zu gehen, Angst haben mussten, dass ihre Adressen gegen ihren Willen veröffentlicht wurden und – wie im Fall von Dana Mahr – tatsächlich in ihrem eigenen Zuhause bedroht wurden, konnte Vollbrecht Interviews geben und sich über einen Zuwachs bei ihren Twitter-Follower*innen freuen. Viele Betroffene fühlen sich macht- und hilflos. Sie haben Angst, dass der gesellschaftliche Diskurs so weit verschoben wird, dass selbst die kümmerlichen Reste gesetzlicher Anerkennung und rechtlichen Schutzes verpuffen.
Dass Vollbrecht immer noch an der Humboldt Universität zu Berlin ist und sogar lehren darf, ist für viele Studierende unverständlich. Zwar hat sich die Universitätsleitung im Falle des Welt-Artikels von Vollbrechts Positionen distanziert, Konsequenzen gab es aber scheinbar nicht.
Seit längerem versucht die Universität, Diskriminierung abzubauen und sagt in Pressemitteilungen gern, dass sie gegen jede Diskriminierung sei. Im akademischen Alltag müssen Betroffene leider feststellen, dass da nicht viel hinter steckt. Lehrende sind mangelhaft sensibilisiert, wenn es um Diskriminierung geht, und es gibt keine angemessenen Stellen, an die Studierende sich verlässlich wenden können, wenn sie ein Problem haben. Auch im Fall von Marie-Luise Vollbrecht haben sich Studierende an verschiedene universitäre Stellen gewandt, weil sie sich in der Lehrveranstaltung nicht sicher gefühlt haben. Ein Umstand, über den Vollbrecht sich auf ihrem Twitter-Account sogar noch lustig gemacht hat. Auch an dieser Stelle gab es keine Konsequenzen.
Betroffene Studierende werden wiederholt im Stich gelassen und haben häufig Angst an Lehrveranstaltungen teilzunehmen, wenn sie wissen, dass die Lehrenden menschenfeindliche Standpunkte vertreten. Für viele Student*innen bedeutet Diskriminierung durch Lehrende und/oder Kommiliton*innen eine Verlängerung der Studienzeit, und in einigen Fällen kommt es zum sogar zum Abbruch.
Was soll sich also verändern? Es braucht mehr Sensibilisierung und Bildung zu Diskriminierung. Einfach nur zu sagen ›wir sind gegen Diskriminierung‹, reicht nicht. Es braucht ein allgemeines Verständnis darüber, dass unsere Gesellschaft grundlegend auf diskriminierenden Vorannahmen aufbaut und dass es aktive Arbeit ist, diese Biases zu dekonstruieren und wenn eins so will, zu ›verlernen‹. Es braucht einen konstruktiven und produktiven Umgang mit Antidiskriminierungsarbeit, aber vor allem braucht es den Willen der Menschen, neue Dinge zu lernen und sich selbst zu hinterfragen.

Der arbeitskreis kritischer jurist*innen an der Humboldt Universität zu Berlin sagt in seiner Selbstdarstellung (https://akj.rewi.hu-berlin.de/index.php?id=uber-uns), »Wir halten das Jurastudium für unzureichend, veraltet und autoritär. Deshalb wollen wir Perspektiven bieten, die sowohl über die juristische Ausbildung als auch über die bestehenden Verhältnisse hinausweisen. In einer krisenhaften Gesellschaft verstehen wir unser Studium als Mittel, das Marginalisierten zu ihrem Recht zu verhelfen kann«.

[1]  Das * bei trans* und TIN* schafft Raum für alle Menschen, die aus der Cis-/Endonormativität herausfallen, aber nicht selbst die betreffenden Labels nutzen.
[2]  Rieke Hümpel, Uwe Steinhoff, Antje Galuschka, Alexander Korte, Marie Vollbrecht: Öffentlich-rechtlicher Rundfunk: Wie ARD und ZDF unsere Kinder indoktrinieren. In: welt.de. v. 01.06.2022.
[3]  Vgl. O2.06.2022, https://www.volksverpetzer.de/aktuelles/welt-transfeindlichkeit-sendung-mit-der-maus/.
[4]  Vgl. https://meedia.de/2022/06/04/wie-mathias-doepfner-die-welt-aus-dem-trans-shitstorm-holen-will-und-doppelt-scheitert/.
[5]  https://www.bild.de/politik/2022/politik/biologin-darf-vortrag-ueber-geschlechter-nicht-halten-aktivisten-hatte-zu-demo-a-80578632.bild.html.
[6]  Lucas, ›Emma‹ und der Beifall von Rechts, 02.07.2018, https://uebermedien.de/29269/emma-und-der-beifall-von-rechts/.
[7]  Speech at the Portland State University, 1975.
[8]  Da Weiß-Sein eine soziale Konstruktion ist, auf der Hierarchien aufgebaut wurden, und es nicht um tatsächlich biologische Eigenschaften geht, schreiben wir weiß hier kursiv.