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Rechtswidriger Einsatz von Zivilbeamt*innen auf Versammlungen

DIE SOG. TATBEOBACHTER*INNEN

Peer Stolle

Es gehört zu der Praxis (nicht nur) der Berliner Polizei, dass auf Versammlungen Polizeibeamt*innen in Zivil, sogenannte Tatbeobachter*innen, eingesetzt werden. Diese nehmen an der Versammlung teil, ohne dass sie als Polizeibeamt*innen erkennbar sind oder sich vorher gegenüber der Versammlungsleitung zu erkennen geben. Ihr Aufgabengebiet ist dabei sehr unterschiedlich. Neben dem allgemeinen Beobachten, dem Mitteilen über allgemeine Vorkommnisse innerhalb der Versammlung, bis hin zu dem Auftrag, bei Gefahren oder Straftaten diese zu beobachten und entsprechende Mitteilungen an die Einsatzleitung zu geben, sind viele Einsatzzwecke möglich. Die Beamt*innen greifen in den seltensten Fällen selbst ein. Das Beobachten und die Informationssammlung ist ihre primäre Aufgabe.

Dieser Einsatz ist höchst problematisch. Das Recht der Bürger*innen, durch Aus-übung der Versammlungsfreiheit aktiv am politischen Meinungs- und Willensbildungsprozess teilzunehmen, gehört zu den unentbehrlichen Funktionselementen eines demokratischen Gemeinwesens.[1] Die Versammlungsfreiheit wird im Wesentlichen von Minderheiten bzw. von Personengruppen, die zu der aktuell herrschenden Politik oder gesellschaftlichen Situation eine abweichende Meinung haben, wahrgenommen. Es ist daher von wesentlicher Bedeutung, dass die Durchführung von Versammlungen möglichst frei von staatlichen Einflüssen vollzogen werden kann. Der Grundsatz der Staatsfreiheit wird nicht gewährleistet, wenn Teilnehmer*innen von Versammlungen damit rechnen müssen, dass die Person neben ihnen möglicherweise ein*e Vertreter*in des Staates ist, gegen dessen Politik sich die Versammlung richtet und die Informationen über die Zusammensetzung und das Verhalten der Versammelten erhebt.

Um die Staatsferne der Versammlung zu gewährleisten, sieht u.a. § 12 Versammlungsgesetz Bund vor, dass sich die Polizeibeamt*innen, die in eine öffentliche Versammlung entsandt werden, der Leitung der Versammlung gegenüber zu erkennen zu geben haben.[2] So hat bspw. das VG Göttingen[3] entschieden, dass die Entsendung von Polizeibeamt*innen in Zivil in eine Demonstration zur »Aufklärung« rechtswidrig ist, wenn diese sich nicht vorher gegenüber der Leitung zu erkennen gegeben haben.

Vor dem VG Berlin sollte nunmehr auch die Frage, ob diese rechtlichen Grundlagen auch für sogenannte Tatbeobachter*innen gelten, verhandelt werden. Gegenstand des Verfahrens (Az: VG 1 K 153.19) war der Einsatz von Tatbeobachter*innen auf der im Oktober 2018 durchgeführten #unteilbar-Demonstration in Berlin. Deren Einsatz ergab sich aus Strafakten im Zusammenhang mit dem Zeigen von bestimmten Transparenten bzw. dem Abbrennen von Pyrotechnik. Nachdem daraufhin der Anmelder der Versammlung beim Verwaltungsgericht Berlin Klage auf Feststellung der Rechtswidrigkeit erhoben hatte, verteidigte sich die Berliner Polizei zunächst mit dem offensichtlich unzutreffenden Vortrag, dass die Beamt*innen erst dann in die Versammlung entsandt worden seien, nachdem Informationen vorgelegen hätten, dass Straftaten begangen worden seien bzw. deren Begehung unmittelbar bevorgestanden hätte. Nachdem dies durch die Klägerseite bestritten wurde – es ist üblich, dass die Beamt*innen bereits zu Beginn der Versammlung anlassunabhängig in die Versammlung entsandt werden –, wurde dann ein Anerkenntnis seitens der Berliner Polizei abgegeben.

Dieses Anerkenntnis ist zu begrüßen, wenn auch Zweifel bestehen, ob sich an der Praxis der Berliner Polizei etwas ändern wird. Zumindest kann aber jetzt davon ausgegangen werden, dass in der Berliner Polizei Kenntnis von der Rechtswidrigkeit eines anlassunabhängigen Einsatzes von Polizeibeamt*en im Rahmen einer Versammlung besteht und deswegen in Zukunft von einem willkürlichen Vorgehen und damit von der Rechtswidrigkeit des Einsatzes ausgegangen werden kann. Die aufgrund des Einsatzes von sogenannten Tatbeobachter*innen erlangten Erkenntnisse dürften somit in einem Strafverfahren einem Verwertungsverbot unterliegen.

Dr. Peer Stolle ist Rechtsanwalt in Berlin und Vorsitzender des RAV. Die Unterüberschrift wurde von der Redaktion hinzugefügt.

[1] Vgl. die Brokdorf-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 69, 1).
[2] Da Berlin noch kein eigenes Versammlungsgesetz hat, gilt das alte Versammlungsgesetz des Bundes weiter fort. Der Ende Mai 2020 vorgelegte Entwurf eines Versammlungsfreiheitsgesetzes enthält zu der derzeitigen Rechtslage keine Änderung.
[3] U. v. 6.11.2013 – 1 A 98/12.