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Licht ins "sächsische Dunkel" bringen

DRESDEN OFFENBART EINE NEUE QUALITÄT STAATLICHER EINGRIFFE

VON DER REDAKTION

Am 19. Februar 2011 haben zum zweiten Mal in Folge Tausende Menschen in Dresden Europas größten Naziaufmarsch blockiert und verhindert. Was in anderen Städten Erleichterung auslösen würde, weil dadurch die Dynamik des Naziaufmarsches, die sich durch immer höhere Teilnehmerzahl ausdrückte, gebrochen worden ist, führt in Dresden zu einer umfangreichen Repressionswelle. Von dieser neuen Qualität staatlicher Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nicht nur Personen betroffen, denen Straftaten gegen PolizeibeamtInnen und/oder Neonazis vorgeworfen werden, sondern alle, die sich an den Protesten beteiligt haben. BürgerInnen, die gegen den alljährlichen Aufzug protestiert haben, sehen sich mit staatlichen Verfolgungsmaßnahmen konfrontiert, die evident unverhältnismäßig sind und den Maßstab für die Zulässigkeit staatlicher Grundrechtseingriffe zu verschieben drohen. Die rechtspolitische Debatte und Bedeutung dessen reicht daher weit über Dresden und Sachsen hinaus.

Insbesondere die Anordnung einer Funkzellenabfrage im Zusammenhang mit dem umfangreichen Demonstrationsgeschehen hat bundesweit Aufsehen erregt und für heftige Proteste gesorgt. Mittlerweile ist auch bekannt, dass Funkzellenabfragen nicht nur im Zusammenhang mit den Demonstrationen rund um den 13. Februar im Jahre 2010 und 2011 richterlich angeordnet worden sind, sondern beispielsweise auch im Zusammenhang mit anderen Demonstrationen und zur Aufklärung eines Brandanschlages auf Bundeswehrfahrzeuge im Jahr 2009 vorgenommen wurden. Es scheint, als ob die Funkzellenabfrage - Wolf Wetzel hat sie treffend als "elektronischen Polizeikessel" bezeichnet - zu einer Standardmaßnahme der sächsischen Strafverfolgungsbehörden geworden ist.

ERHEBLICHER NACHSCHULUNGSBEDARF

Rechtstaatliche Grundsätze und grundrechtsschützende Prinzipien werden bei der Strafverfolgung weitgehend ignoriert, zum Teil scheinen sie auch unbekannt zu sein. So wird von dem Sächsischen Datenschutzbeauftragten Andreas Schurig in seinem Prüfbericht über die Funkzellenabfragen vom 8. September 2011 ein Gespräch dokumentiert, das er mit BeamtInnen der Staatsanwaltschaft Dresden sowie des Landeskriminalamtes (LKA) Sachsen geführt hat. Demnach seien sich die BeamtInnen des Sondercharakters von Funkzellenabfragen, der sich aus der Betroffenheit aller in einer Funkzelle sich aufhaltenden Dritten ergibt, nicht hinreichend bewusst gewesen. Bei ihm sei der Eindruck entstanden, dass die Funkzellenabfrage als ein "normales" Mittel unter anderen angesehen werde. Auf seine Frage an die VertreterInnen der Staatsanwaltschaft und des LKA, unter welchen Umständen sie sich eine Unverhältnismäßigkeit einer Funkzellenabfrage vorstellen könnten, habe er keine Antwort erhalten. (1) In Sachen Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit gibt es in Sachsen offenbar "erheblichen Nachschulungsbedarf". (2)

Welche Bedeutung der Repression in Sachsen gegen die Proteste am 19. Februar 2011 eingeräumt wird, beweist ein Interview mit dem Dresdner Oberstaatsanwalt Haase. Er vergleicht die Maßnahmen gegen die DemonstrantInnen vom 19. Februar 2011 mit dem Kampf gegen die Mafia in Sizilien. Zitat: "Um Strukturen krimineller Gruppen aufklären zu können, sind umfangreiche Ermittlungen notwendig (...) Wenn man in Palermo mafiöse Strukturen durchleuchten will, dann muss man in die Breite ermitteln." Mittlerweile wurde sogar die Immunität der Fraktionsvorsitzenden der Partei Die Linke in Thüringen und Sachsen aufgehoben, weil sie sich am 13. Februar 2010 an den Protesten gegen den Naziaufmarsch beteiligt hatten. Ein bisher wohl einmaliges Vorgehen in der Nachkriegsgeschichte, dass Abgeordnete ihrer Immunität aufgrund ihres zivilgesellschaftlichen Engagements gegen die extreme Rechte beraubt werden.

Dass die Sicherheitsbehörden bei ihrem Vorgehen gegen linkes, antifaschistisches und zivilgesellschaftliches Engagement immer wieder rechtsstaatliche Grenzen überschreiten und die Grundrechte der Betroffenen missachten, ist hinlänglich bekannt und in jüngerer Zeit im Zusammenhang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm 2007, gegen Stuttgart 21 und gegen die Castortransporte im Wendland öffentlich geworden. In Sachsen wird nicht nur jede Kritik an dem rechtsstaatswidrigen Vorgehen der Strafverfolgungsbehörden ignoriert, sondern es wird mit beeindruckender Vehemenz versucht, die KritikerInnen mundtot zu machen.

So hat der Sächsische Richterverein per Pressemitteilung vom Datenschutzbeauftragten gefordert, er habe sich für seine Kritik am Zustandekommen von ermittlungsrichterlichen Entscheidungen zu entschuldigen. Dabei hatte der Sächsische Datenschutzbeauftragte überhaupt nicht die richterliche Entscheidung, sondern nur das Vorgehen der Polizeidirektion Dresden, des LKA Sachsen und der Staatsanwaltschaft Dresden beanstandet. Eine Bewertung der richterlichen Anordnung der Funkzellenabfrage hat er - entgegen der Unterstellung des Sächsischen Richtervereins - ausdrücklich nicht vorgenommen. Anderswo hätten RichterInnen dieses Thema zum Anlass genommen, mehr Stellen zu fordern, um dem allgemein bekannten und wissenschaftlich belegten Missstand entgegenzutreten, dass der sogenannte Richtervorbehalt in der Praxis keine effektive Kontrolle polizeilicher und staatsanwaltschaftlicher Ermittlungstätigkeit darstellt.

Konsequenterweise fordert der Sprecher der Dresdner Staatsanwaltschaft im Zusammenhang mit der Mobilfunkdaten-Affäre mehr Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft von politischer Einflussnahme. Der Versuch von politischer Seite, Einfluss auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungsmaßnahmen zu nehmen, sei, so seine Argumentation, nicht hinnehmbar. Strafverfolgungsbehörden würden sich an Recht und Gesetz halten - diese Aufgabe könnten sie nur nachkommen, wenn sie frei von politischer Einflussnahme agieren könnten. Demokratische Kontrolle von staatlichem Handeln, so die Quintessenz, werde sich verbeten, da die Behörden bestimmen, was Recht und Gesetz sei.

Doch dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Gegen einen Rechtsanwalt in Dresden, der unter anderem einige BlockiererInnen verteidigt und die Partei Die Linke erfolgreich wegen der Razzia im Haus der Begegnung am 19. Februar 2011 vertreten hat, wird strafrechtlich ermittelt. Dem Kollegen wird vorgeworfen, ein Schreiben aus einer Ermittlungsakte, aus dem der Einsatz eines IMSI-Catchers am 19. Februar 2011 hervorgeht, an die Presse weitergegeben zu haben.

Auskunftsanfragen von Betroffenen nach der Strafprozessordnung und dem Sächsischen Datenschutzgesetz werden von den zuständigen Behörden mit inhaltslosen Formularschreiben abgewiesen. Dass umfangreiche Datenerhebungen auch entsprechende Benachrichtigungs-, Auskunfts- und Informationsrechte der Betroffenen auslösen, spielt bei der Staatsanwaltschaft und den Polizeibehörden nur eine marginale Rolle.

Gegen viele BlockiererInnen vom 19. Februar 2011 wurden mittlerweile Strafbefehle erlassen bzw. wurde Anklage erhoben, obwohl das damals in Kraft gewesene Sächsische Versammlungsgesetz im April 2011 wegen formeller Fehler vom Sächsischen Verfassungsgerichtshof für nichtig erklärt worden ist und die Anwendung des Bundesversammlungsgesetzes wegen des Rückwirkungsverbots nicht anwendbar ist. Die ersten Strafverfahren wurden mittlerweile auch ausgesetzt.

EIN KONZERTIERTES VORGEHEN TUT NOT

Das Vorgehen der sächsischen Strafverfolgungsbehörden hat zwar in der bundesdeutschen - und zum Teil auch in der sächsischen - Öffentlichkeit Empörung ausgelöst. Vonseiten der Bürgerrechtsorganisationen ist es bislang aber erstaunlich still geblieben. Zwar sind nicht wenige Mitglieder des RAV in diverse Verfahren involviert, beraten und vertreten die OrganisatorInnen der Anti-Nazi-Proteste in versammlungsrechtlichen Fragen, verteidigen Beschuldigte in Strafverfahren und engagieren sich auf anderem Wege, um Licht ins "sächsische Dunkel" zu bringen. Allerdings ist aufgrund der Vielzahl der bisher bekannt gewordenen rechtswidrigen Vorgehensweisen auch ein konzertiertes Vorgehen der Bürgerrechtsorganisationen dringend angezeigt.

Erfreulicherweise hat sich auf Initiative des Komitees für Grundrechte und Demokratie Anfang Oktober eine unabhängige "Untersuchungskommission 19. Februar" gegründet, an der auch Mitglieder des RAV beteiligt sind und deren Ziel es ist, die Umstände der Repression rund um den 19. Februar 2011 zu beleuchten. Angesichts der Gefahr, dass das sächsische Beispiel bundesweit Schule machen könnte, wollen wir den Zustand der "Sächsischen Demokratie" auch im RAV stärker zum Thema machen und haben uns daher im Vorstand entschlossen, darüber auf unserer im November in Berlin stattfindenden Mitgliederversammlung zu diskutieren und gemeinsam Strategien - auch für 2012 - zu entwickeln.

Dazu haben wir Constanze Kurz vom Chaos Computer Club (CCC) eingeladen, die anhand der Dresdner "Handygate"-Affäre die technischen Möglichkeiten der Erhebung und Verwendung von Verbindungsdaten näher erläutern soll. Des Weiteren werden die Berliner Vorstandsmitglieder Sönke Hilbrans und Peer Stolle über die Hintergründe der aktuellen Ermittlungen und die Möglichkeiten anwaltlicher Gegenstrategien berichten. In der Diskussion soll es vorrangig darum gehen, wie sich der RAV nicht nur in der jetzt anstehenden rechtspolitischen Diskussion engagieren kann, sondern inwieweit auch eine Beteiligung und Unterstützung von und an den Protesten gegen den Naziaufmarsch, die für den Februar 2012 zu erwarten sind, aussehen könnte.

Fußnoten:

1      Bericht des Sächsischen Datenschutzbeauftragten vom 8.9.2011, Drucksache des Sächsischen Landtages 5/6787, abrufbar unter edas.landtag.sachsen.de.

2          So Martin Heiming, Vorsitzender des RAV, in der Pressemitteilung des RAV vom 14.9.2011.