Herausforderung, Chance oder mission impossible?
Die Nebenklage vor den Extraordinary Chambers of the Courts of Cambodia (ECCC)
Die juristische Aufarbeitung der Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha (1975-79), in deren Verlauf ungefähr zwei Millionen Menschen1 umgekommen sind, hat jetzt nach fast dreißig Jahren begonnen.2 Auf Grundlage des 2003 geschlossenen Vertrages zwischen Kambodscha und den Vereinten Nationen (UN) wurden die Extraordinary Chambers of The Courts of Cambodia (ECCC) geschaffen, die für die Verfahren gegen die Angehörigen der Roten Khmer wegen der von ihnen begangenen Verbrechen zuständig sind.
In dem folgenden Artikel soll ein kurzer Abriss über die bisherige Arbeit der Chambers gegeben werden, ihre rechtliche Struktur erläutert und vor allem auf die im Kontext internationalisierter und internationaler Strafgerichte bisher einmalige prozessuale Institutionalisierung der Nebenklage eingegangen werden.
1. Einleitung
Gegenwärtig sitzen fünf Mitglieder der damaligen Staatsführung in Untersuchungshaft. Die Ermittlungen im Verfahren3 gegen Kaing Guek Eav alias Duch sind gerade abgeschlossen wor den. In der Anklageschrift werden ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verletzung der Genfer Konventionen sowie Mord und Totschlag nach kambodschanischem Strafgesetz vorgeworfen.
Unter seiner Leitung wurden in dem Gefängnis Tuol Sleng (S 21) und Cheung Ek (Killing Fields) mindestens 12.380 Männer, Frauen und Kinder4 gefoltert, verhört, unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten und auch getötet. Die Hauptverhandlung gegen Duch wird voraussichtlich nicht vor Januar 2009 beginnen.
Die Ermittlungen gegen Nuon Chea, den Stellvertreter Pol Pots, gegen Ieng Sary, den früheren Außenminister, seine Frau Ieng Thirith, die ehemalige Sozialministerin, und gegen den früheren Staatspräsidenten Khieu Samphan dauern noch an.5 Allen vier Beschuldigten wird vorgeworfen, gemeinschaftlich Zwangsevakuierungen, Massentötungen, Zwangsarbeit, Folter, willkürliche Verhaftungen und Versklavungen organisiert und durchgeführt zu haben.
Die Genozide gegen buddhistische Mönche, Cham Muslime und VietnamesInnen sind zwar auch Bestandteil der Introductory Submission6; sie wurden aber von den Co-Investigating Judges nicht in die Haftbefehle mit übernommen. Ermittlungen wegen sexueller Gewaltstraftaten haben bisher überhaupt noch nicht stattgefunden, obwohl die bisher veröffentlichten Studien zu der Herrschaft der Roten Khmer Grund zu der Annahme geben, dass gender-based violence ein Bestandteil der in der damaligen Zeit begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit und möglicherweise auch Genozide gewesen ist. ´
2. Die ECCC – Gerichtsstruktur und rechtliche Grundlagen
Die ECCC basieren auf einer vertraglichen Übereinkunft7 zwischen den Vereinten Nationen und dem Königreich Kambodscha, die durch das ECCC-Gesetz8 in nationales Recht umgesetzt wurde. Bei den ECCC handelt es sich um nationale kambodschanische Kammern, die allerdings nicht in die allgemeine kambodschanische Gerichtsverwaltung integriert sind.
Das in Kambodscha und damit am Ort der Verbrechen angesiedelte nationale Gericht ist in einigen Aspekten vergleichbar mit internationalen Gerichten. So bestehen die Pre-Trial Chamber, Trial Chamber, Supreme Court Chamber, Co-Investigating Judges, Staatsanwaltschaft und sämtliche administrative Gerichtseinheiten sowohl aus nationalem als auch aus internationalem Personal.
Die KambodschanerInnen stellen die Mehrheit unter den MitarbeiterInnen. Für alle Gerichtsentscheidungen ist jedoch eine einfache Mehrheit plus 1 (Supermajority) erforderlich, so dass keine Entscheidung getroffen werden kann, ohne dass sie zumindest von einer Stimme der internationalen RichterInnen unterstützt wird.
Ein weiteres Merkmal der ECCC ist, dass internationale Verbrechenstatbestände angeklagt werden und internationales Recht angewendet wird. Sie werden als ein internationalisiertes Gericht, auch Mixed Court/Tribunal, bezeichnet. 9 Gegenstand der Verfahren sind Massenverbrechen mit einer großen Anzahl von Victims10 , die nicht nur die Organisation von Nebenklage vor neue Aufgaben stellt. Als Arbeitssprachen wurden Khmer, Englisch und Französisch festgelegt – eine Herausforderung, welcher sich bisher kein anderes internationalisiertes oder internationales Gericht angenommen hat.
Von den UN werden zumindest das internationale Personal bezahlt und die Kosten für die Verteidigung der Angeklagten, für Zeugenentschädigung und Sicherheitsvorkehrungen über 11 nommen.
Die prozessuale Rolle der Victims und ihrer rechtlichen Vertretung wird im Agreement und im ECCC-Gesetz nicht näher erwähnt. Allerdings enthält das Gesetz Regelungen zu Schutzmaßnahmen für Victims12 und das dann doch überraschend erscheinende Recht der Victims, das Urteil anzufechten.13
Vor den ECCC gilt in erster Linie kambodschanisches Prozessrecht.14 Dadurch haben die Victims zunächst einmal denselben Status wie im nationalen Recht. Erst wenn das kambodschanische Recht eine Rechtsfrage nicht behandelt, Unsicherheiten bezüglich seiner Auslegung oder Anwendung bestehen oder ein Widerspruch zu geltenden internationalen Rechtsstandards auftritt, sind internationale prozessuale Regeln ergänzend heranzuziehen.15
Zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Agreements und des ECCC-Gesetzes sah das gültige kambodschanische Recht16 schon die Teilnahme von Victims als Co-Plaintiffs vor, die die Möglichkeit haben, Entschädigung im Strafverfahren einzuklagen.17 Ferner konnten sie sich anwaltlich vertreten lassen und sogar das erstinstanzliche Urteil anfechten.18
Im August 2007 ist der Code of Criminal Procedure of Cambodia19 (CPC) in Kraft getreten, der nun auch die maßgebliche rechtliche Grundlage für die ECCC bildet. Der neue CPC regelt in aller Ausführlichkeit die Rechte der Victims und eröffnet für diese die Möglichkeit, als NebenklägerInnen (Civil Parties) im Verfahren aufzutreten.20 NebenklägerInnen haben einen gleichberechtigten Parteistatus wie die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung. Zu ihren Rechten gehört folglich das Recht auf anwaltliche Vertretung, auf Teilnahme und auf Stellungnahme sowie das Recht auf Akteneinsicht. Ferner können sie Beweisanträge stellen und das Fragerecht ausüben. Darüber hinaus steht ihnen die Möglichkeit offen, »Moral and Collective Reparations « geltend zu machen und nicht zuletzt das Urteil erster Instanz anzufechten.21
Am 19. Juni 2007 traten sodann die Internal Rules22 in Kraft, die gemäß der Präambel dazu dienen, das kambodschanische Prozessrecht zu konsolidieren. Sie bilden neben dem CPC die tägliche Arbeitsgrundlage für die am ECCC tätigen JuristInnen. Erstmals in der Geschichte der internationalen Strafjustiz erhalten so Victims als NebenklägerInnen weitreichende Rechte23 vor einem internationalisierten Gericht, vor dem internationale Massenverbrechen verhandelt werden. Über erste Erfahrungen mit der Nebenklage soll im Folgenden berichtet werden.
3. Nebenklage – Erste Erfahrungen in den ECCC
Zu nennen sind zunächst rein praktische Schwierigkeiten bei der Organisation der Nebenklage vor dem ECCC. Die Bedingungen, unter denen eine Nebenklagevertretung in Kambodscha stattfindet, sind nicht einfach. Die Arbeit wird durch technische Probleme, wie schlechtem Internetzugang, häufigen Stromausfällen, das Nichtvorhandensein einer Bibliothek24 für Recherche und durch Sprachbarrieren und damit zusammenhängenden Übersetzungsproblemen25 erschwert.
Auch leben die Victims teilweise in relativ großer Entfernung von Phnom Penh oder in ab gelegenen Gegenden, die während der Regenzeit vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten und ohne regelmäßige Stromversorgung und ohne Internet- und Postzugang sind. Die NebenklägerInnen tatsächlich an diesem Verfahren zu beteiligen, sie laufend mit Informationen zu versorgen, ihre Bedürfnisse zu identifizieren und diese in das Verfahren einzuführen, stellen ständige Herausforderungen dar.
Die Arbeit ist darüber hinaus durch mangelnde finanzielle und personelle Ressourcen gekennzeichnet. Derzeit sind neben der Autorin noch fünf kambodschanische AnwältInnen als NebenklagevertreterInnen tätig, die allerdings über keine internationale Gerichtserfahrung verfügen. Dem gegenüber stehen fünf Verteidigungsteams für die Beschuldigten. Vor diesem Hintergrund eine effektive Nebenklage zu organisieren, grenzt schon an die Realisierung des Unmöglichen.
Bisher sind 14 Victims als NebenklägerInnen anerkannt,26 davon werden zwei nicht anwaltlich vertreten. Alle anderen haben jeweils einen kambodschanischen Anwalt und eine internationale Anwältin. Die ersten Anerkennungen von NebenklägerInnen erfolgten am 16. Januar 2008, unmittelbar vor der öffentlichen Anhörung vor der Pre-Trial Chamber über die Haftbefehlsbeschwerde im Fall gegen Nuon Chea.27 Die Verteidigung problematisierte die Anwesenheit der NebenklägerInnen in einer den Haftbefehl betreffenden Anhörung und vertrat die Auffassung, dass NebenklägerInnen in diesem Verfahrensstadium noch keine Beteiligungsrechte hätten.
Die Pre-Trial Chamber entschied dann am 20. März 2008 in einer Grundsatzentscheidung28 über die Teilnahmerechte der NebenklägerInnen. Sie räumte ihnen volle Beteiligungsrechte in Anhörungen über Haftbefehlsbeschwerden29 vor der Pre-Trial Chamber30 ein. Abgeleitet von dem generellen Recht auf Teilnahme in den Proceedings, das in Rule 23 (4) der Internal Rules kodifiziert ist, stellte die Pre-Trial Chamber weiterhin fest, dass seitens der NebenklägerInnen kein spezifisches Interesse zur Begründung für ihre Teilnahme dargelegt werden muss31 – im Unterschied zum ICC32 – und dass die Beteiligungsrechte für das gesamte Verfahren gelten.
In ihrer Entscheidung wies die Pre-Trial Chamber den Einwand der Verteidigung, dass in der Zukunft bei einer ansteigenden Zahl von NebenklägerInnen die Rechte des Angeklagten nachteilig beeinträchtigt werden, mit dem Argument zurück, dass die Pre-Trial Chamber nicht über spekulative zukünftige Fallgestaltungen zu entscheiden habe.33 Diese Grundsatzentscheidung stellte zwar einen großen Fortschritt für die Rechte von NebenklägerInnen vor einem internationalisierten Strafgericht dar; allerdings wurden diese zugestandenen Rechte Schritt für Schritt wieder eingeschränkt.
A. Die Möglichkeit persönlicher Stellungnahme durch NebenklägerInnen
In den ersten Anhörungen in den Verfahren gegen Nuon Chea und Khieu Samphan hatte die Pre-Trial Chamber keine Einwände dagegen, dass eine einzelne Nebenklägerin persönlich eine Stellungnahme abgibt. Am Vorabend der Anhörung über die Haftbefehlsbeschwerde von Ieng Thirith beschloss34 die Pre-Trial Chamber jedoch, dass NebenklägerInnen, die anwaltlich vertreten sind, kein Rederecht haben. Sie bezog sich in ihrer Entscheidung auf Rule 77 (10)35 der Internal Rules, in der das Verfahren bei mündlichen Anhörungen vor der Pre-Trial Chamber kodifiziert ist. Dort heißt es, dass die AnwältInnen der Parteien Stellung nehmen dürfen. Die Parteien selbst (also auch die Beschuldigten) sind dort nicht gesondert genannt.
Gegen Entscheidungen der Pre-Trial Chamber gibt es kein Rechtsmittel, so dass lediglich die Möglichkeit blieb, General Observations36 im nächsten Beschwerdeverfahren gegen Ieng Sary an die Pre-Trial Chamber zu richten und in einer Gesamtschau sämtliche Benachteiligungen der NebenklägerInnen – sowohl direkter als auch indirekter Natur – aufzuführen. Die Pre-Trial Chamber wurde darauf hingewiesen, dass diese Einschränkungen weder vom CPC noch vom Postulat der gleichberechtigten Parteistellung gedeckt sind.
In der nächsten viertägigen mündlichen Anhörung über die Beschwerde gegen den Haftbefehl im Fall gegen Ieng Sary bat eine Nebenklägerin darum, dass ihr das Wort erteilt werde. Die Pre-Trial Chamber wies diesen Antrag zurück und bezog sich dabei auf die zuvor ergangene Anordnung.37 Am nächsten Tag entzog die Nebenklägerin dann ihrem Anwalt das Mandat und teilte mit, nunmehr nicht mehr anwaltlich vertreten zu sein und bat erneut um das Wort. Sie wies darauf hin, dass sie selbstverständlich in dem gesetzten Zeitlimit38 bleiben und zu dem vorgesehenen Thema sprechen werde.
Überraschenderweise wies die Pre-Trial Chamber diesen Antrag mit Supermajority zurück. Lediglich Richter Downing sprach sich in seiner abweichenden Meinung 39 aus Fairness- gründen dafür aus, der nunmehr unvertretenen Nebenklägerin ein Rederecht zu gewähren. Die Beschränkung der Teilnahmerechte der NebenklägerInnen erfolgte, ohne dass hierfür eine Notwendigkeit dafür bestanden hätte, da die betroffene Nebenklägerin sich im vorgegebenen zeitlichen und thematischen Rahmen bewegte.
Die Mehrheitsentscheidung der Pre-Trial Chamber wurde erneut auf den Wortlaut von Rule 77 (10) gestützt, in der die NebenklägerInnen nicht neben ihren AnwältInnen aufgeführt werden. Die Pre-Trial Chamber vertritt ferner die Auffassung, dass NebenklägerInnen mit der Erteilung einer Vollmacht ihre eigenen Rechte aufgeben würden. Dabei übersieht die Chamber aber, dass sie sich mit dieser Entscheidung in Widerspruch setzt zu der Stellung der Nebenklage vor den ECCC und zu ihrer eigenen Entscheidung vom 20. März 2008 40 zu den Beteiligungsrechten der Nebenklage.
Da NebenklägerInnen nach den Internal Rules und auch dem CPC das Recht41, aber nicht die Pflicht haben, anwaltlich vertreten zu sein, müssen ihnen auch sämtliche Beteiligungsrechte in Person zustehen. Des Weiteren widerspricht die Entscheidung der Pre-Trial Chamber, anwaltlich vertretenen NebenklägerInnen das Rederecht zu verweigern, dem Grundgedanken der »Nebenklage Beteiligung«. NebenklägerInnen geben durch die Erteilung einer Vollmacht natürlich nicht ihre eigenen Rechte auf oder ab, sondern behalten diese Rechte weiter – neben den Rechten, die der jeweiligen anwaltlichen Vertretung zustehen. Diese Rechtsansicht würde ansonsten zu dem – unerwünschten – Effekt führen, dass NebenklägerInnen ihren AnwältInnen kündigen, um ihr Rederecht auszuüben, und diese danach erneut beauftragen würden. Die Pre-Trial Chamber sollte ein Interesse daran haben, dass NebenklägerInnen anwaltlich vertreten sind, damit ihre Beteiligung im Verfahren sinnvoll gelenkt und geleitet werden kann. Offensichtlich ist die Entscheidung Ausdruck der von der Pre-Trial Chamber gehegten Befürchtung, dass ansonsten eine in Zukunft steigende Anzahl von NebenklägerInnen nicht zu managen wäre.
Nach der Entscheidung vom 1. Juli 2008 erhob die betroffene Nebenklägerin Gegenvorstellung, die die Pre-Trial Chamber nach Beendigung der Anhörung als einen Antrag auf Wiedereröffnung42 der Anhörung auslegte. Angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der zu erwartenden Entscheidung gewährte die Pre- Trial Chamber allen anderen Parteien und Mitbeschuldigten sowie den bisher unvertretenen NebenklägerInnen, rechtliches Gehör.43
B. Zeitlimit
Die Pre-Trial Chamber reguliert das Verfahren unter anderem dadurch, dass sie allen Beteiligten zeitliche Begrenzungen für mündliche Stellungnahmen setzt. In den ersten Anhörungen erhielt die Nebenklage regelmäßig kürzere Redezeit als die Staatsanwaltschaft und die Verteidigung. Erst nach unserer kritischen Stellungnahme in den General Observations44 war zumindest ein Teilerfolg zu verzeichnen: In der Ieng Sary Anhörung erhielt die Nebenklage in zwei der drei zu verhandelnden Themen dieselbe Redezeit wie die anderen Parteien. Davon betroffen war einerseits die Frage nach der gerichtlichen Zuständigkeit, die sowohl im Hinblick auf eine schon erfolgte Verurteilung des Beschuldigten Ieng Sary von 197945 als auch hinsichtlich der Reichweite des Prinzips ne bis in idem eine Rolle spielt, als auch die Problematik, ob die von König Norodom Sihanouk im Jahre 1996 gewährte »Amnestie und Pardon« wirksam sind und eine Verfolgung vor den ECCC ausschließen. Unser erneuter Versuch, vollkommen gleiche Redezeit zu erhalten, wurde allerdings von der Pre-Trial Chamber zurückgewiesen.46 Sie führte aus, dass NebenklägerInnen von den grundsätzlichen Zuständigkeitsfragen weitreichender betroffen seien und deshalb in diesen Punkten gleiche Redezeit erhalten. Hingegen habe die Frage der Untersuchungshaft und ihrer Fortdauer weniger einschneidende Bedeutung für die Nebenklage, da auch im Falle einer Änderung der Haftverhältnisse die Nebenklage Entschädigung im Hauptverfahren noch geltend machen kann. Deshalb sei eine geringere Redezeit gerechtfertigt. 47 Die Pre-Trial Chamber lässt dabei außer Acht, dass die Seite der Nebenklage zahlreiche Interessen und Gesichtspunkte bündeln muss und natürlich auch die Haftfrage von außerordentlicher Bedeutung für die Victims sein kann.
C. Änderungen der Rules und Practice Directions 48
Mindestens zwei Mal im Jahr tagt die Plenary Session49 aller RichterInnen, ReserverichterInnen, der Staatsanwaltschaft, der Defence Support Section, der Victims Unit und der Verwaltung, um die Internal Rules und Practice Directions zu diskutieren und bei Bedarf anzupassen. Die Nebenklage (wie auch die Verteidigung) haben kein Teilnahme- und Vorschlagsrecht. Die einzige Möglichkeit besteht darin, über die Victims Unit Änderungsvorschläge in die Plenary Sessions einzubringen.
Die letzte Sitzung fand im September 2008 statt, auf der massive Einschränkungen für die Nebenklage und ihre Beteiligungsrechte beschlossen. Die wesentlichen Änderungen bezüglich der NebenklägerInnen sind folgende: Anträge auf Nebenklagezulassung müssen spätestens zehn Tage vor Prozessbeginn bei der Victims Unit eingereicht werden. Diese Frist kann im Ermessen des Gerichts verkürzt oder verlängert werden. Zudem kann das Gericht künftig anordnen, dass die NebenklägerInnen sich in Gruppen zur gemeinsamen Vertretung zusammenschließen. Darüber hinaus sind die Anforderungen an die Parteien, weitere ZeugInnen zu benennen, spezifiziert worden. Künftig muss das Beweisthema im Einzelnen, die erwartete Länge der Aussage und zu welchen Anklagepunkten im Einzelnen, der oder die Zeugin aussagen wird, dargelegt werden.
Das Klima ist mittlerweile auf allen Seiten deutlich von der Angst geprägt, dass Hunderte oder auch Tausende von Victims Anträge auf Zulassung als NebenklägerInnen stellen könnten, so dass die Verfahren aufgrund ihrer quantitativen Dimension nicht mehr bewältigt werden könnten. Dabei gibt die bisherige Erfahrung überhaupt keinen Anlass zu dieser Annahme, da die Nebenklage bisher grundsätzlich gemeinsa me Stellungnahmen für alle NebenklägerInnen einreichte und damit unter Beweis gestellt hat, dass sehr wohl die Interessen der NebenklägerInnen fokussiert und organisiert eingeführt werden können. Um derartige beabsichtigte Änderungen zu verhindern, die nicht in Übereinstimmung mit dem CPC sind, bedarf es einer engagierten Lobbyarbeit.
4. Schlussbemerkung
Die erstmalige Beteiligung von zahlreichen Victims als NebenklägerInnen mit vollen prozessualen Rechten in einem internationalisierten Strafgericht stellt eine ungeheuere Herausforderung dar, zumal bisher50 keinerlei finanzielle Ressourcen für rechtliche Vertretung vorhanden sind. Sollte dieses experimentelle Projekt gelingen, könnte Kambodscha eine Vorreiterrolle für künftige internationalisierte und internationale Tribunale spielen, in denen Massenverbrechen von großem Ausmaß verhandelt werden.
Silke Studzinsky ist internationale Rechtsanwältin vor den ECCC in Kambodscha, tätig im Rahmen des Programms »Ziviler Friedensdienst« des DED (Deutscher Entwicklungsdienst).
Fußnoten
1 Die Schätzungen schwanken zwischen 1,3 und 3,3 Mio. Opfern, da keine verlässlichen Zahlen über die Bevölkerungsgröße Kambodschas 1975 vorhanden sind.
2 Zum geschichtlichen Hintergrund gibt es wenig deutschsprachige Literatur. Heinz Kotte und Rüdiger Siebert geben einen ersten Einblick in »Der Traum von Angkor. Kambodscha - Vietnam - Laos« (Bad Honnef 2000) und ebenso Alexander Goeb in »Kambodscha-Reisen in einem traumatisierten Land. Von den Roten Khmer zum Tribunal der späten Sühne« (Frankfurt am Main 2007). Umfassendere Darstellungen liefern Elisabeth Becker in »When the war was over. Cambodia and the Khmer Rouge Revolution« (New York 1998), Ben Kiernan in »The Pol Pot Regime: Race, Power and Genocide in Cambodia under the Khmer Rouge, 1975-79« (New Haven 2002) und David Chandler in »Brother Number One. A political Biography of Pol Pot« (Boulder 1999). Details zum aktuellen Verfahren finden sich auf der Homepage des Gerichts: www.eccc.gov.kh. Vgl. auch Jürgen Weber: Angakar hat die vielen Augen der Ananas. Kambodscha: Historische Gerichtsprozesse gegen die Roten Khmer. In: ak – analyse und kritik, Nr. 531 vom 19.9.2008
3 Case 1.
4 Ermittlungsergebnis der Staatsanwaltschaft.
5 Case 2.
6 Im Text werden englische Worte verwendet, wenn es kein geeignetes deutsches Äquivalent gibt. Die Introductory Submission vom 18.7.2007 ist die Zusammenfassung der Ermittlungsergebnisse durch die Staatsanwaltschaft, auf deren Grundlage die Eröffnung von Ermittlungen durch die Co-Investigating Judges und die Haftbefehle beantragt wurden.
7 »Agreement between the United Nations and the Royal Government of Cambodia concerning the prosecution under Cambodian Law of Crimes during the period of Democratic Kampuchea«, vom 6.6.2003; www.eccc.gov.kh/english/ cabinet/agreement/5/Agreement_between_UN_and_RGC. pdf (Seite besucht am 3.8.2008).
8 »Law on the establishment of the Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia for the prosecution of crimes committed during the period of Democratic Kampuchea«, vom 6.6.2003, veröffentlicht am 27.10.2004, NS/RKM/1004/006; www.eccc.gov.kh/english/cabinet/law/4/KR_Law_as_amended_27_Oct_2004_Eng.pdf.
9 Antonio Cassese: International Criminal Law, Oxford 2008, S. 333 und Cesare P.R. Romano/André Nollkaemper/Jann K. Kleffner: Internationalized Criminal Courts, Oxford 2004, S. 16.
10 Das Wort »Victim« wird anstelle des Wortes »Opfer« gebraucht wegen der weiteren Konnotation des englischen Begriffes.
11 Article 17 des Agreement; weitere gesonderte Übereinkommen hinsichtlich des Rahmens der UN-Unterstützung können getroffen werden.
12 Siehe Agreement, Article 23. Danach können aus Schutz- gründen in-camera-Verfahren durchgeführt und die Identität geheim gehalten werden.
13 Art. 36 und 37 ECCC-Gesetz.
14 Article 12 des Agreement und Article 33 ECCC-Gesetz.
15 Siehe Fn. 14
16 Cambodian Law on Criminal Procedure (8 February 1993), veröffentlicht in Selection of Laws currently in force in Cambodia, United Nations (2002).
17 Art. 9, ibid.
18 Art. 161, 162, ibid.
19 Der neue Criminal Procedure Code of Cambodia liegt erst seit dem 1.3.2008 in einer inoffiziellen unveröffentlichten englischen Übersetzung vor und kann bei der Autorin eingesehen werden. Er ist sehr eng an die französische Strafprozessordnung angelehnt.
20 Die Stellung von Civil Parties ist vergleichbar mit der Nebenklage in Deutschland. Im weiteren Text wird deshalb Nebenklage für den Begriff Civil Parties benutzt.
21 Nach Rule 105 (1) (c) (Internal Rules) ist der Appeal für NebenklägerInnen nur eröffnet, wenn die Staatsanwaltschaft das Urteil angreift.
22 Siehe www.eccc.gov.kh/english/cabinet/fileUpload/27/Internal_Rules_Revision1_01-02-08_eng.pdf, zuletzt geändert am 1.2.2008. Die Internal Rules wurden vom Rules and Procedure Plenary Committee geschaffen, das sich aus allen RichterInnen der Pre-Trial Chamber, Trial Chamber, Supreme Court Chamber, Co-Investigating Judges und der Staatsanwaltschaft zusammensetzt. Zwei Mal jährlich tritt das Committee zusammen.
23 Vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag dürfen Victims zwar teilnehmen und auch Entschädigung fordern, aber sie haben keinen gleichberechtigten Parteistatus; Rom Statut Art. 68 (3).
24 Die Gerichtsbibliothek ist seit August 2008 mit Personal besetzt und verfügt über etwa 100 Bücher und ein Budget von 6.000 US-Dollar. Es konnte erreicht werden, dass die Bibliotheken der Staatsanwaltschaft und der Co-Investigating Judges (bestehend aus Büchern im UN-Besitz) nun in die Zentralbibliothek integriert werden.
25 Jedes Dokument muss mindestens auf Khmer und in einer der anderen beiden Gerichtssprachen innerhalb der Fristen eingereicht werden.
26 Stand 10.8.2008. Bisher sind über 1.800 Anträge gestellt worden, die jedoch nicht alle darauf gerichtet sind, den Status als NebenklägerIn zu erlangen, sondern auch nur eine Strafanzeige enthalten können. Die Anträge werden über die Victims Unit der ECCC an die Co-Investigating Judges oder nach Anklageerhebung an die Trial Chamber weitergeleitet, die dann entweder die NebenklägerInnen ohne gesonderten Bescheid zulassen und zur Akte nehmen oder im Falle einer Ablehnung diese begründen müssen (Rule 23 (3) bzw. Rule 23 (4) Internal Rules).
27 Bis jetzt (Stand 1.10.2008) befindet sich Case 2 im Ermittlungsverfahren und sämtliche mündliche Anhörungen betrafen die Haftbefehle. Die Ermittlungen in Case 1 sind abgeschlossen. Anklage wurde erhoben. Die Staatsanwaltschaft hat gegen die Anklage Beschwerde eingelegt mit dem Ziel auch die Verletzung kambodschanischer Strafrechtsbestände mit einzubeziehen und als Zurechnungsform »Joint Criminal Enterprise« anzuwenden.
28 Siehe Case of Nuon Chea. www.eccc.gov.kh/english/ cabinet/courtDoc/53/PTC_decision_civil_party_nuon_chea_ C11_53_EN.pdf.
29 Appeals sind zulässig gegen Entscheidungen der Co-Investigating Judges (siehe Rule 74 der Internal Rules).
30 Auch wenn die Entscheidung der Pre-Trial Chamber auf Appeals gegen Haftbefehle gerichtet ist, dürften die Beteiligungsrechte sich auf sämtliche Beschwerden im Ermittlungsverfahren beziehen.
31 Para 49 der Entscheidung vom 20.3.2008, Fn. 19.
32 International Criminal Court.
33 Para 48 der Entscheidung vom 20.3.2008, Fn 19.
35 www.eccc.gov.kh/english/cabinet/fileUpload/27/Internal_ Rules_Revision1_01-02-08_eng.pdf.
36 Die General Observations sind nicht auf der Homepage der ECCC veröffentlicht worden, obwohl das Dokument als öffentlich eingereicht wurde. Hingegen hat die Pre-Trial Chamber ihren Beschluss zur teilweisen Unzulässigkeit veröffentlicht. Siehe www.eccc.gov.kh/english/cabinet/courtDoc/92/Decision_on_Civil_Party_Observations_ C22_I_41_EN.pdf.
37 Siehe www.eccc.gov.kh/english/cabinet/courtDoc/91/ Decision_on_Preliminary_Matters_C22_I_46_EN.pdf.
38 Das Zeitlimit für jede Partei zu dem infrage stehenden Thema betrug 90 Minuten.
39 Siehe www.eccc.gov.kh/english/cabinet/courtDoc/89/Civil_Party_request_to_address_the_court_C22_I_54_ EN.pdf. Dies war die erste Dissenting Opinion vor der Pre-Trial Chamber.
40 Siehe Fn. 27.
41 Rule 23 (4) Internal Rules.
42 Die Nebenklage beantragte, die Gegenvorstellung als Fortsetzungsfeststellungsantrag auszulegen.
43 Die Entscheidung steht zum Zeitpunkt der Anfertigung des Artikels noch aus. Die Stellungnahmen der Nebenklage und der Staatsanwaltschaft finden sich unter: www.eccc. gov.kh/english/cabinet/courtDoc/102/Joint_civil_parties_colawyers_ observations_on_application_C22_I_60_EN.pdf und www.eccc.gov.kh/english/cabinet/courtDoc/104/ Response_by_Co-prosecutors_on_app_for_reconsideration_ of_PTC_C22_I_61_EN.pdf.
44 Siehe Fn. 39.
45 Ieng Sary wurde (gemeinsam mit Pol Pot, verstorben 1998) am 19.8.1979 in Abwesenheit wegen Genozid zum Tode verurteilt. Das Verfahren wurde unter sehr prekären Umständen nur wenige Monate nach dem Einmarsch Vietnams in Kambodscha durchgeführt und international weder unterstützt noch anerkannt. Siehe auch Howard J. De Nike/ John Quigley/Kenneth J. Robinson: Genocide in Cambodia – Documents from the Trial of Pol Pot and Ieng Sary. Philadelphia 2000.
46 Siehe Fn. 31.
47 Die Redezeit betrug eine Stunde für die Nebenklage und 90 Minuten für die anderen Parteien.
48 www.eccc.gov.kh/english/cabinet/courtDoc/67/PD_Filing_Document_and_Appendic_Revision_02_En.pdf.
49 Siehe Rule 3 und 18 der Internal Rules.
50 Die Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) bewilligte der Victims Unit 2,4 Millionen US-Dollar u. a. für rechtliche Vertretung, die aber bis jetzt noch nicht realisiert werden konnten.