Die Leipziger Prozesse
Bekanntlich war bereits nach dem ersten Weltkrieg von den damaligen Siegern ein internationales Tribunal geplant worden. Später war im Versailler Friedensvertrag zumindest Prozesse der deutschen Justiz vorgesehen worden (vgl. Hankel, Teil 1: Vorgeschichte - Vom Kriegsende bis zum Beginn der Verfahren 1918-1921, S. 19ff.). Kaiser Wilhelm II. als der Hauptverantwortliche war ohnehin der Strafverfolgung entkommen, da die Niederlande ihm Asyl gewährte und im Februar 1920 endgültig seine Auslieferung gegenüber den alliierten Mächten verweigerte (a.a.O., S.74ff, wo sich insbesondere interessante Ausführungen zu der damaligen - und auch heute höchst aktuellen - französischen Rechtsposition finden, dass der Kaiser angesichts der ihm zur Last gelegten Verbrechen weder durch seine Immunität als Staatsoberhaupt noch wegen des Rückwirkungsverbotes vor dem internationalen Strafanspruch geschützt sei). Gegen 890 Offiziere und Soldaten der Reichswehr wurde wegen zahlreicher Kriegsverbrechen wie die Misshandlung von Zivilpersonen, die Erschießung von Gefangenen und Verwundeten, Deportation und Zwangsarbeit sowie Kriegsverbrechen im Seekrieg, wie die Versenkung neutraler Schiffe und von Lazarettschiffen wie insbesondere die Versenkung der britischen Lusitania mit 12.000 Toten, zunächst die Auslieferung durch die Alliierten verlangt, später gegen mehrere hundert von ihnen ermittelt.
Gerd Hankels Buch ist allein schon deshalb als Dokument lesenswert, weil er zahlreiche Kriegsverbrechen der deutschen Reichswehr materialreich beschreibt und so mit der Vorstellung aufräumt, Deutschland sei auch nur Opfer dieser technologischen Materialschlacht gewesen, bei der es allenthalben zu Grausamkeiten gekommen sei. Auch wenn es auf allen Seiten zu Kriegsverbrechen gekommen sein mag, waren die Deutschen schon damals die Haupttäter (vgl. u.a. die Schilderung von Misshandlungen von - auch minderjährigen - Zivilpersonen in Belgien, allein 1914 sollen es fünfeinhalbtausend gewesen sein; a.a.O. s. 105ff.). Es überrascht nicht, dass die reaktionäre und nationalistische deutsche Justiz am wenigsten in der Lage war, internationale Standards über Kriegsverbrechen in den Leipziger Prozessen anzuwenden. Dabei sei angesichts des geradezu grassierenden Antiamerikanismus der heutigen Zeit nur daran erinnert, dass es vor allem die USA waren, die sich um eine Verrechtlichung der internationalen Beziehungen Ende des 19. und Anfang der 20. Jahrhunderts bemühten. Dabei sind nicht nur die Gründung des Völkerbundes, sondern auch die Kodifizierungsprozesse des humanitären Völkerrechts zu nennen. Deutschland jedenfalls befand sich damals auf einem "völkerrechtlichen Sonderweg" (Michael Stolleis, SZ 16.05.2003).
Die juristische Bilanz der Leipziger Prozesse ist dünn: Vor dem Reichsgericht in Leipzig fanden ab dem Frühjahr 1921 bis 1927 17 Gerichtsverfahren statt, von denen zehn mit einer Verurteilung und sieben mit einem Freispruch endeten. Hunderte weitere Verfahren wurden durch Beschluss oder vom Oberreichsanwalt durch Verfügung eingestellt. In seinem Schlusswort geht daher Gerd Hankel auf die Verbindungen zwischen dem deutschen Verhalten in Belgien 1914 und der Sowjetunion ab 1941 ein und stellt zwar vor allem in völkisch-ideologischer Hinsicht und den Kriegszielen große Unterschiede fest, konstatiert aber trotzdem: "Dennoch gibt es Parallelen in der Bereitschaft zur Hinnahme rechtlich entgrenzter Kriegsgewalt, und sie findet sich auch dort, wo der Krieg ein erklärter Vernichtungskrieg war". Diese Schlussfolgerung belegt noch einmal nachdrücklich, wie wichtig die aktuellen Bemühungen sind, die Einhaltung internationaler Normen, vor allem des humanitären Kriegsvölkerrechts, in den kriegerischen Auseinandersetzungen zu erzwingen und deren Verletzungen strafrechtlich zu ahnden, auch wenn die aktuellen Bemühungen vor der bundesdeutschen Justiz im Falle der Folterstraftaten von US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und anderen bei der Bundesanwaltschaft und die zivilen Schadensersatz-Forderungen von NATO-Bombenopfern von der jugoslawischen Kleinstadt Varvarin vorläufig gescheitert sind, darf der Effekt solcher öffentlich geführter Verfahren für das Bewusstsein und das Rechtsbewusstsein der Gesellschaft nicht unterschätzt werden. Sie zeigen nachdrücklich auf, dass im Krieg eben keine eigenen Gesetze gelten dürfen, sondern internationale rechtliche Standards auf kriegerische Auseinandersetzungen anwendbar sein müssen. Gerd Hankel. Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem ersten Weltkrieg. Hamburger Edition, Hamburg 2003.