Sie sind hier: RAV > PublikationenMitteilungen

Einführung der Pflichtbeiordnung von Anwält:innen in der Abschiebungshaft

Positionspapier, 12.10.22

Zusammenfassung

In der Abschiebungshaft wird einer Person die Freiheit entzogen, ohne dass sie eine Straftat begangen hat. Die Haft sichert lediglich die Abschiebung, also den Vollzug eines Verwaltungsaktes. Mit diesem Freiheitsentzug wird massiv in die Grundrechte der betroffenen Person eingegriffen; in unserem Rechtsstaat werden deshalb an einen Haftbeschluss hohe formale und inhaltliche Anforderungen gestellt. Diesen Anforderungen wird die Praxis in der Abschiebungshaft häufig nicht gerecht; valide Schätzungen gehen von rund 50 % fehlerhaften Inhaftierungen aus. Bei einer derart hohen Fehlerquote drohen rechtsstaatliche Grundsätze ihre generelle Gültigkeit zu verlieren. Eine Ursache für die Fehlerquote ist, dass Betroffene, die oftmals mittellos sind und denen es an System- und Sprachkenntnissen fehlt, ohne professionellen Beistand vor Gericht keine Chance haben, ihre Grundrechte zu verteidigen. Um den Rechtsstaat durchzusetzen und das Leid der Betroffenen zu mindern, braucht es eine Pflichtbeiordnung von Anwält:innen. Sie kann für Waffengleichheit sorgen und eine effektive Kontrolle der Haftanträge und Gerichtsbeschlüsse ermöglichen.

Abschiebungshaft dient allein zur Sicherung der Abschiebung

Nach den Vorschriften des Migrationsrechts (v.a. § 50 Abs. 1 AufenthG) dürfen Ausländer sich nur in Deutschland aufhalten, wenn sie über bestimmte Aufenthaltsrechte verfügen. Haben sie kein explizites Recht zum Aufenthalt, sind sie verpflichtet, das Land zu verlassen. Tun sie dies nicht freiwillig, kann die Ausreisepflicht zwangsweise durchgesetzt werden (Abschiebung). Unter bestimmten Umständen wird allerdings die Abschiebung ausgesetzt (Duldung).

Ist zu befürchten, dass sich eine Person gegen ihre Abschiebung wehrt, oder ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie sich der Abschiebung entzieht, kann die zuständige Behörde gegen sie bei Gericht Abschiebungshaft(1) beantragen (siehe vor allem § 62 Abs. 2 und 3 AufenthG). Ist der Antrag nach Meinung des Gerichts ausreichend begründet, ordnet es die Haft an.

Abschiebungshaft darf daher ausschließlich dem Zweck dienen, die Abschiebung der betreffenden Person zu sichern. Die Menschen werden somit nicht inhaftiert, weil ihnen eine Straftat vorgeworfen würde. Vielmehr soll die Haft sicherstellen, dass sie auch wirklich das Land verlassen.

Abschiebungshaft ist Freiheitsentzug und erfordert die Einhaltung von Verfahrensrechten

Abschiebungshaft stellt eine Freiheitsentziehung und damit einen Eingriff in das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG dar. Sie löst Leid aus: Je länger die Menschen sich in einem solchen Gewahrsam befinden, umso größer wird der seelische und körperliche Schaden.(2) Sind Kinder involviert, weil beispielweise ein Elternteil in Abschiebungshaft genommen wird,(3) kann dies zudem langfristige Folgen für das körperliche und seelische Wohl der Kinder bedeuten und das Familienleben nachhaltig belasten.(4)

Die Freiheitsentziehung stellt das schärfste Schwert unseres Rechtssystems dar. Bei ihrer Anordnung hat deshalb die Wahrung von Verfahrensrechten gemäß Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG Verfassungsrang; Verfahrensrecht ist hier also Verfassungsrecht. Wird das Verfahrensrecht nicht eingehalten, führt dies zur Rechtswidrigkeit der Haft. Die Einhaltung von Verfahrensrechten ist daher grundlegende Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit von richterlichen Entscheidungen. Sie beugt falschen und willkürlichen Entscheidungen vor.

In den Fällen der Abschiebungshaft sind jedoch bei den gerichtlichen Anordnungsverfahren immer wieder schwerwiegende Verfahrensfehler festzustellen,(5) zum Beispiel Haftanordnungen trotz nicht ausreichend begründeter Haftanträge. Deshalb wird eine Vielzahl der gerichtlichen Haftanordnungen im Beschwerdeverfahren als rechtswidrig aufgehoben. Rechtsanwalt Peter Fahlbusch aus Hannover teilt dazu die folgende Statistik (Stand 12.9.2022) mit: „Seit 2001 habe ich bundesweit 2.282 Menschen in Abschiebungshaftverfahren vertreten. 1.197 dieser Menschen (dh 52,5 %) wurden nach den hier vorliegenden rechtskräftigen Entscheidungen rechtswidrig inhaftiert (manche ‚nur‘ einen Tag, andere monatelang). Zusammengezählt kommen auf die 1.197 Gefangenen 31.235 rechtswidrige Hafttage, das sind gut 85 Jahre rechtswidrige Haft. Im Durchschnitt befand sich jede/r Mandant/in knapp 4 Wochen (genau: 26,1 Tage) zu Unrecht in Haft. Rund 100 Verfahren laufen z.Zt. noch.“(6)

Recht auf rechtliches Gehör, Verteidigungsrechte und Waffengleichheit, Recht auf Familienleben und Kindeswohl

Art. 103 Abs. 1 GG begründet eine objektivrechtliche Verpflichtung des Staates, jeder Person, die an einem gerichtlichen Verfahren beteiligt ist oder von einer gerichtlichen Entscheidung unmittelbar betroffen ist, rechtliches Gehör zu gewähren.(7) Dies stellt die Ausprägung des Rechtsstaatsgedankens für das Gebiet des gerichtlichen Verfahrens dar.(8) Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst auch das Recht, sich im Verfahren zu Tatsachen und Rechtsfragen zu äußern.(9) Dieses Anhörungserfordernis dient der vollständigen Erfassung des Sachverhalts durch das Gericht.(10) Auch soll die Anhörung sicherstellen, dass die einzelne Person nicht Objekt der richterlichen Entscheidung wird, sondern vor einer Entscheidung die Möglichkeit erhält, Einfluss auf das Verfahren zu nehmen.(11)

Die Betroffenen kennen sich jedoch mit dem in Deutschland geltenden Rechtssystem nicht hinreichend aus, um sich wirksam gegen die Anordnung oder Verlängerung der Haft wehren zu können. Sach- und Rechtslage sind oftmals sehr komplex, weil hier Unions-, Migrations- sowie Haft(verfahrens)recht zusammenkommen. Wenn die Abschiebungshaft Familienmütter oder -väter betrifft, wird zudem das Recht auf Familie (Art. 6 GG und Art. 8 EMRK) und das Kindeswohl der betroffenen Kinder (Art 3 UN-KRK) meist nicht oder nicht hinreichend berücksichtigt, obgleich dazu eine rechtliche Verpflichtung besteht.(12) Auch kommt es immer wieder zu rechtswidriger Inhaftnahme von Minderjährigen aufgrund fehlerhafter Alterseinschätzungen.(13) Hinzu tritt die oftmals sehr erhebliche Sprachbarriere. Auch eine Akteneinsicht ist ohne Anwält:in nicht möglich. Gegenüber der die Haft beantragenden Behörde sind die Betroffenen somit offensichtlich in einer unterlegenen Position. Ohne eine anwaltliche Vertretung sehen sie sich hilflos einem Verfahren ausgesetzt, das sie nicht verstehen und deshalb auch nicht beeinflussen können, als dessen Ergebnis die Menschen aber ihre Freiheit verlieren. Vollkommen zu Recht empfinden die Menschen das Verfahren oftmals nicht als fair und die Entscheidungen nicht als gerecht.

Die nötige Expertise in diesem Bereich bringen erfahrene Anwält:innen mit. Zur Wahrung des Grundsatzes der Waffengleichheit und der Verteidigungsrechte sowie der Einhaltung von grund- und menschenrechtlichen Garantien in Bezug auf Familienleben und Kindeswohl ist daher zwingend eine Pflichtbeiordnung von Anwält:innen erforderlich. Wegen der essenziellen Bedeutung der gerichtlichen Anhörung in einem Haftverfahren ist auch sicherzustellen, dass die Beiordnung bereits vor der ersten Anhörung stattfindet.

Pflichtbeiordnung gesetzlich regeln!

Da es sich bei der Abschiebungshaft um eine Administrativhaft und nicht um eine Strafhaft handelt, sind die Regelungen in §§ 140, 141 StPO, die eine Pflichtverteidigung im Strafprozess vorsehen, nicht unmittelbar anwendbar.

Eine Beiordnung von Anwält:innen ist andererseits dem FamFG, das auch das Verfahren in Abschiebungshaftsachen regelt, nicht vollständig fremd (siehe § 78 FamFG). Systematisch könnte eine Pflichtbeiordnung im Kontext der Abschiebungshaft etwa in einem § 420a FamFG geregelt werden.

Mittellose Gefangene könnten, so immer wieder das Gegenargument, beantragen, dass der Staat ihre Anwaltskosten übernimmt (sogenannte Verfahrenskostenhilfe). Eine solche Verfahrenskostenhilfe wird aber nur dann gewährt, wenn der Antrag oder die Beschwerde nach Ansicht des Gerichts Aussicht auf Erfolg hat. Das heißt, ein:e Anwält:in muss erst einmal detaillierte Begründungen schreiben, ohne sicher sein zu können, jemals hierfür bezahlt zu werden. Da sie von ihrer Arbeit lebt, kann sie sich das nur selten leisten. Gefangene, die eine:n Anwält:in nicht bezahlen können, sind somit nicht in der Lage, ihre Rechte effektiv wahrzunehmen. Das ist eines Rechtsstaats nicht würdig und sollte unbedingt geändert werden.

Hinzu kommt für viele Betroffene, dass sie unter den Bedingungen der Haft und/oder wegen fehlender Sprachkenntnisse nicht in der Lage sind, eigenständig rechtzeitig eine:n Anwält:in einzuschalten.

Aus diesem Grund fordern wir, dass analog zur Pflichtverteidigung im Strafprozess auch eine Pflichtbeiordnung von Anwält:innen in Verfahren zur Anordnung von Abschiebungshaft schon vor der ersten gerichtlichen Anhörung gesetzlich eingeführt wird.

Amnesty International Deutschland
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Bundesfachverband zur Unterstützung von Menschen in Abschiebehaft
Der Paritätische – Gesamtverband
Deutscher Anwaltverein
Deutscher Caritasverband
Diakonie Deutschland
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Neue Richtervereinigung
Postmigrantischer Jurist*innenbund
Pro Asyl
Rechtsberaterkonferenz
Refugee Law Clinics Deutschland
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein
SOS-Kinderdorf terre des hommes

Bayerischer Flüchtlingsrat Diakonie Hamburg Diakonie Hessen
Flüchtlingsbeauftragte der Ev.-Luth. Kirche in Norddeutschland
Flüchtlingsrat Baden-Württemberg
Flüchtlingsrat Brandenburg
Flüchtlingsrat Bremen
Flüchtlingsrat Niedersachsen
Flüchtlingsrat Nordrhein-Westfalen
Flüchtlingsrat Rheinland-Pfalz
Flüchtlingsrat Sachsen-Anhalt
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein
Flüchtlingsrat Thüringen
Hessischer Flüchtlingsrat
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein – Regionalgruppe NRW
Sächsischer Flüchtlingsrat
Abschiebehaft-Kontaktgruppe Dresden
Amnesty International Oberhausen
Beirat für Flüchtlingsarbeit des Evangelischen Kirchenkreises Oberhausen
Caritas Karlsruhe
Flüchtlinge Willkommen in Düsseldorf
Flüchtlingsbeauftragte des Ev.-Luth. Kirchenkreises Lübeck-Lauenburg
Flüchtlingsrat Oberhausen
fluchtpunkt. Kirchliche Hilfsstelle für Flüchtlinge
Hilfe für Menschen in Abschiebehaft Hof
Law Clinic an der Bucerius Law School, Hamburg
Migrationsrechtliche Legal Clinic Dortmund
Pro Asyl/Flüchtlingsrat Essen
Rechtsberatung für Menschen in Abschiebehaft Hamburg
Refugee Law Clinic Hannover
Refugee Law Clinic Trier
Seebrücke Oberhausen
Seebrücke Stuttgart
STAY! Düsseldorfer Flüchtlingsinitiative

Endnoten:
(1) „Abschiebungshaft“ wird hier als Sammelbegriff für die verschiedenen Formen der migrationsrechtlichen Verwaltungshaft verstanden und schließt damit etwa den Ausreisegewahrsam oder die Überstellungshaft ein.
(2) Siehe dazu jüngst World Health Organisation (WHO), Addressing the health challenges in immigration detention, and alternatives to detention. 2022.
(3) 62.0.5 AVwV-AufenthG.
(4) Siehe dazu bspw. Bail for Immigration Detainees (BID), Fractured Childhoods: the separation of families by immigration detention. April 2013.
(5) J. Schmidt-Räntsch, Freiheitsentziehungssachen gem. §§ 415 ff. FamFG, NVwZ 2014, S. 110 ff. Schmidt-Räntsch war als Richterin beim BGH über Jahre hinweg mit Abschiebungshaftverfahren beschäftigt.
(6) P. Fahlbusch, E-Mail vom 12.9.2022.
(7) B. Remmert, Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz Kommentar, 94. Ergänzungslieferung, Art. 103 I GG Rn. 1.
(8) B. Remmert, Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz Kommentar, 94. Ergänzungslieferung, Art. 103 I GG Rn. 20, 23.
(9) BVerfG, Beschluss v. 7.10.1981 – 2 BvR 1194/80, juris Rn. 36; H. Radtke, BeckOK Grundgesetz, 48. Edition, Art. 103 GG Rn. 7, 11.
(10) B. Remmert, Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz Kommentar, Art. 103 I GG Rn. 21.
(11) BVerfG, Beschluss v. 8.1.1959 – 1 BvR 396/55, Rn. 27.
(12) BGH, Beschluss v. 23.3.2021 - XIII ZB 95/19, Asylmagazin 10-11/2021, 393, Rn. 8 f.
(13) Siehe BGH, Beschluss v. 25.8.2020 - XIII ZB 101/19.

Positionspapier als PDF