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Tag der bedrohten Anwältin und des bedrohten Anwalts – Afghanistan
Kundgebung vor dem Auswärtigen Amt

Pressemitteilung, 23.1.23

24. Januar: Tag der bedrohten Anwältin und des bedrohten Anwalts – Afghanistan
Kundgebung vor dem Auswärtigen Amt um 15:30 h
Hunderte von Jurist*innen mit dem Tod bedroht

Der Sturz der afghanischen Regierung im August 2021 hat zwei Jahrzehnte des Fortschritts fast über Nacht zunichtegemacht. Das gesamte Rechtssystem des Landes ist im Wesentlichen zusammengebrochen. Die ab August 2021 geltenden Gesetze, einschließlich der afghanischen Verfassung aus dem Jahr 2004, wurden ihrer Wirkung beraubt. Jetzt werden die Grundsätze der Sharīʿa angewandt, und viele der von der De-facto-Regierung erlassenen Richtlinien stellen Einschränkungen der grundlegenden Menschenrechte dar, einschließlich der Presse- und Meinungsfreiheit, der Gleichbehandlung, der Freizügigkeit und des Rechts auf Privatsphäre. Der diesjährige Tag der verfolgten Anwält*innen widmet sich daher der Lage der Jurist*innen in Afghanistan.

Richter*innen und Staatsanwält*innen, die vor der Machtübernahme im August 2021 in der afghanischen Regierung tätig waren, sowie afghanische Anwält*innen müssen mit Repressalien rechnen, sowohl von Seiten der Taliban selbst als auch von den Tausenden verurteilter Straftäter, die freigelassen wurden, als die Taliban bei ihrer Machtübernahme die Türen der Gefängnisse im ganzen Land öffneten. Mitglieder der Taliban machen ihre ehemaligen Verteidiger*innen, Richter*innen oder Staatsanwält*innen für ihre Verurteilungen verantwortlich.
Darüber hinaus haben es Taliban auf Anwält*innen abgesehen, insbesondere auf Anwältinnen, die Opfer in Fällen vertreten, in denen Taliban-Mitglieder verurteilt wurden. Anwält*innen werden auch von den De-facto-Behörden verfolgt, weil sie in der Vergangenheit ihren Mitbürger*innen, insbesondere Frauen, Zugang zur Justiz gewährten und ihre Grundrechte und -freiheiten schützten. Da ihr Leben und das ihrer Familien in großer Gefahr war, waren viele afghanische Richter*innen und Staatsanwält*innen sowie Rechtsanwält*innen gezwungen, entweder aus dem Land zu fliehen oder unterzutauchen. Viele befinden sich nach wie vor in Lebensgefahr.

Entrechtung der afghanischen Anwaltskammer

Am 22. November 2021 erließ das Justizministerium der Taliban ein Dekret, mit dem die Afghanische Anwaltskammer (AIBA) ihrer Unabhängigkeit beraubt wurde, einschließlich ihrer Befugnis, Lizenzen an Rechtsanwält*innen zu vergeben. Einen Tag nach dem Erlass stürmten Taliban-Kräfte den Hauptsitz der AIBA in Kabul, bedrohten die Mitarbeiter*innen und Mitglieder der Vereinigung mit Gewalt und forderten sie auf, das Gebäude zu verlassen. Die Taliban verschafften sich Zugang zu den Datenbanken der AIBA, einschließlich der Daten von über 2.500 Anwält*innen und nichtanwaltlichen Mitarbeiter*innen. Diese Datensätze enthielten Informationen über die Personalien der Anwält*innen, die Namen von Familienangehörigen, Wohnadressen und Telefonnummern sowie Informationen über bearbeitete Fälle und die Verbindungen der Anwält*innen zu staatlichen und internationalen Organisationen sowie Informationen über Staatsanwält*innen und Richter*innen.
Die Taliban übernahmen auch die Kontrolle über die Bankkonten und Gelder der AIBA. Seitdem war die AIBA gezwungen, ihre Tätigkeit im Land einzustellen und wurde de facto dem Justizministerium der Taliban unterstellt.

Hunderte Kolleg*innen erwerbslos, auf der Flucht oder ermordet

In dem Erlass vom 22. November 2021 heißt es außerdem, dass nur von den Taliban zugelassene Anwälte vor Gericht auftreten dürfen. Ehemalige AIBA-registrierte Anwält*innen müssen daher eine neue Lizenz erwerben und eine Reihe von Kriterien erfüllen, die vom De-facto-Justizministerium festgelegt wurden. In der Praxis werden die Anwält*innen auf der Grundlage ihrer früheren Tätigkeiten und ihres Verständnisses der Sharīʿa-Grundsätze geprüft.
Wer früher auch nur im Entferntesten im Bereich der Menschenrechte tätig war oder Beziehungen zu internationalen Organisationen unterhielt, dem wird automatisch die Zulassung verweigert, so dass er nicht mehr praktizieren darf. Und obwohl vor dem Sturz der Taliban 25 Prozent der AIBA-Mitglieder Frauen waren, haben die Taliban bis heute nur Männern Lizenzen erteilt. Dies hat zur Folge, dass die überwiegende Mehrheit der Anwält*innen, die rechtmäßig bei der AIBA registriert waren, nun mit einem Berufsverbot belegt sind und damit keine berufliche Perspektive mehr haben.
Nach Angaben der AIBA wurden seit ihrer Auflösung sieben Anwälte getötet und 146 Anwält*innen verhaftet, oder es wurde gegen sie ermittelt. Viele ihrer Kolleg*innen sahen sich gezwungen, aus dem Land zu fliehen oder sich mit ihren Familien zu verstecken, um den Verfolgungen zu entgehen.

Die Bundesregierung muss jetzt handeln

»Wenn die Bundesregierung tatsächlich eine konsequente Menschenrechtspolitik verfolgen will, so muss schnellstmöglich und unbürokratisch dafür gesorgt werden, dass die betroffenen Kolleginnen und Kollegen nach Deutschland einreisen und hier einen Aufenthalt bekommen können«, so Rechtsanwalt Dr. Peer Stolle, Bundesvorsitzender des RAV.

Gemeinsam mit der Rechtsanwaltskammer Berlin, der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen, der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen und der Europäischen Vereinigung von Juristinnen und Juristen für Demokratie und Menschenrechte ruft der Republikanische Anwältinnen‐ und Anwälteverein auf zu einer

Kundgebung
24.01.23 um 15:30 Uhr
Auswärtiges Amt
Werderscher Markt 1, 10117 Berlin

An diesem Tag wird seit 2010 weltweit der ›Tag der bedrohten Anwältin und des bedrohten Anwalts‹ begangen. Dieses Jahr ist der ›Tag der bedrohten Anwältin und des bedrohten Anwalts‹ den Kolleginnen und Kollegen in Afghanistan gewidmet, denen das Recht auf freie Advokatur durch das Taliban‐Regime systematisch entzogen wird. Mehrere hundert Kolleg*innen befinden sich aktuell auf der Flucht oder versuchen das Land zu verlassen.

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Hintergrund zur Lage der Anwält*innenschaft

Bis 2001 hatten mehrere Jahrzehnte Krieg und andere Konflikte die Infrastruktur Afghanistans dezimiert. Auch das Rechts- und Justizsystem war davon nicht verschont geblieben. Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im November 2001 wurde jedoch eine breite Palette von Programmen zur Aufstockung des Personals und zum Wiederaufbau, zur Reform und zur Modernisierung der afghanischen Regierung, einschließlich der Gerichte, sowie des Rechtswesens durchgeführt.
Das neue System, das nach dem Sturz der Taliban eingeführt wurde, trennte das Recht von der Religion (Sharīʿa) und die Justiz vom Klerus oder der Stammes-Dschirga, d. h. dem Urteil der lokalen Ältesten.
Die Unabhängige Afghanische Anwaltskammer (AIBA) wurde 2008 auf der Grundlage des afghanischen Anwaltsgesetzes gegründet. Mit mehr als 6.000 Mitgliedern (darunter rund 1.500 Frauen) beaufsichtigte die AIBA die Zulassung und Regulierung von Anwält*innen, förderte die Chancengleichheit im Rechtsberuf, bildete künftige Anwält*innen aus und setzte sich für Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit ein. Die AIBA hatte sich als unabhängige Institution etabliert, die sich für Grundrechte, ordnungsgemäße Verfahren, richterliche Unabhängigkeit, Rechtsstaatlichkeit und demokratische Werte einsetzte. Seit ihrer Gründung war es der AIBA trotz kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Zwänge gelungen, die Rolle von Strafverteidiger*innen zu fördern und sich im Bereich der sozialen Gerechtigkeit zu engagieren, insbesondere bei der Verteidigung der Rechte von Opfern von Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Zu den weiteren Investitionen in das Justizsystem nach 2001 gehörte der Aufbau eines geschulten, unabhängigen Justizwesens, zu dem (zum ersten Mal) mehr als 270 Richterinnen gehörten. Auch für Staatsanwält*innen wurde eine umfassende Ausbildung bereitgestellt. Auch ihre Reihen wurden diversifiziert, so dass dort etwa 400 Frauen in ihnen tätig waren.

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