Die erste Stufe der Justizreform der Regierung unter Benjamin Netanjahu ist letzte Woche Montag zur ersten Lesung ins Parlament gekommen. Alles sieht danach aus, als wollte die Regierung die Reform gegen den Widerstand der Zivilbevölkerung durchs Parlament peitschen. An den Protesten gegen die als „Coup“ bezeichnete Reform beteiligen sich Organisationen aus allen Bereichen des zivilen Lebens, Akademiker:innen, Offiziere, Jurist:innen, Gewerkschaften und viele weitere. Seit Dezember 2022 gehen jeden Samstag Hunderttausende in Israel auf die Straße, um für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu demonstrieren. Nachdem die Reform ins Parlament gebracht wurde, haben sich die Proteste noch einmal verstärkt und es kam auch zu Fällen von Polizeigewalt gegen Demonstrierende.
Die Gefahr für die israelische Demokratie ist real. Nicht umsonst hat US-Präsident Biden in aller Deutlichkeit dazu aufgerufen, die Reform zu stoppen. Das Gesetzespaket mit seinen über 189 Einzelgesetzen würde das demokratische Gefüge in Israel aus dem Gleichgewicht bringen. Die Regierung hat die erste Lesung des Gesetzes zur Änderung der Besetzung des Obersten Gerichts hinter sich gebracht. Dieses Verfahren ist deshalb so entscheidend, weil das Gericht in Israel die einzige verfassungsmäßige Institution darstellt, die nicht unmittelbar von der Regierung kontrolliert wird.
Zurecht warnte Amnesty International:
„Sollte das Gesetz verabschiedet werden, wird der Oberste Gerichtshof Israels nahezu bedeutungslos, da die Regierung dessen Richterinnen und Richter ernennen würde und die Prüfung von Gesetzen durch den Obersten Gerichtshof umgehen könnte. Das heißt, die Rechte von Minderheiten und Einzelpersonen werden keinerlei Schutz mehr erfahren. Israel wird im besten Fall zu einer Pseudodemokratie werden, in der nur diejenigen bestimmen, die die Mehrheit bilden. Die Rechte aller Menschen – insbesondere aber die der Palästinenserinnen und Palästinenser – werden stärker gefährdet sein.“
Insbesondere für deutsche Juristen:innenorganisationen war diese Entwicklung Veranlassung, sich in Israel in Gesprächen mit Partnerorganisationen ein Bild zu verschaffen. Vertreter:innen der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung e.V. (DIJV), der Bundesrechtsanwaltskammer (BRAK) und des Bundesgerichtshofes (BGH) haben mit hochrangingen Repräsentanten aus Anwaltschaft, Justiz sowie Wissenschaft und Forschung in Tel Aviv und Jerusalem gesprochen. Sie kamen dabei zu der Schlussfolgerung:
„Die Justizreformen würden das Gleichgewicht zwischen Legislative, Exekutive und Judikative radikal verschieben und die Gewaltenteilung in Israel faktisch aufheben.“
Die Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e.V. (VDJ) hat den ehemaligen Dekan der juristischen Fakultät der Universität in Haifa, Prof. Dr. Eli Salzberger, zu einer Vortragsreihe nach Deutschland eingeladen. In der Diskussion mit Herrn Salzberger kam noch einmal deutlich heraus, wie gefährlich die Reform für die Demokratie in Israel ist. Gleichzeitig war Prof. Salzberger überzeugt, dass die Einflussnahme auf israelische Politiker:innen durch ihre deutschen Amtskolleg:innen möglich ist.
Die BRAK hat schon sehr früh den deutschen Justizminister aufgefordert, auf die israelische Regierung einzuwirken, damit sie Abstand von ihrem demokratiefeindlichen Projekt nimmt.
Diese Aufforderung trifft nun alle deutschen Ministerien, insbesondere das Auswärtige Amt, und alle Parlamentarier:innen mit Kontakt nach Israel. Angesichts der unmittelbaren Drohung der Verabschiedung der Reform sind Politiker:innen auf allen Ebenen gefordert, ihre Ablehnung der Reform unzweideutig und mit Nachdruck gegenüber ihren israelischen Amtskolleg:innen zu formulieren. So könnte beispielsweise das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Israel unter die Bedingung gestellt werden, dass die israelische Regierung die Reform aufgibt.
Solidarität kann es in der aktuellen Situation nur mit der demokratischen Protestbewegung in Israel geben. Mit ihr muss es unsere Bemühung sein, die rechtsstaatlichen Strukturen in Israel zum Schutz der Bürger- und Menschenrechte, insbesondere auch der Minderheiten in Israel, zu bewahren.
Der offene Brief als PDF