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Gesetz zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung

Stellungnahme des RAV zum Referentenentwurf, 22.5.18
Stellungnahme des RAV zum Entwurf des BMJV eines „Gesetzes zur Stärkung des Rechts des  Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ vom 4.4.2018

Verfasser: Rechtsanwalt Prof. Dr. iur. habil. Helmut Pollähne, Bremen.

A. Allgemeine Anmerkungen

Der Entwurf diene „im Wesentlichen [so die allgemeine Begründung – s. dazu u. B. – auf S. 5] der Umsetzung der Richtlinie EU 2016/343“ vom 9.3.2016 über die „Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren“ – bereits der Name des geplanten Gesetzes „zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ lässt erkennen, dass jene Richtlinie im Wesentlichen, oder doch jedenfalls in einem ganz wesentlichen Punkt nicht umgesetzt werden soll: Eine „Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung“ ist nicht beabsichtigt, obwohl Schwerpunkt der gerade auch insoweit durchaus lesenswerten Richtlinie.(1) Dazu heißt es in dem vorliegenden BMJV-Entwurf zunächst lapidar (a.a.O.), da das deutsche Recht „den Vorgaben der Richtlinie weitgehend“ bereits entspreche, seien zur Umsetzung der Richtlinie „nur punktuelle Änderungen erforderlich“; soll wohl heißen: Kein Handlungs- resp. Regelungsbedarf in puncto Unschuldsvermutung – eine ‚steile‘ These!

Vor dem Hintergrund der „weitgehenden“ normativen Abstinenz des nationalen Strafprozess- und -verfassungsrechts zur Unschuldsvermutung erweist es sich als beklagenswertes Versäumnis, dass die durch die EU-Richtlinie 2016/343 unterbreitete Steilvorlage zur rechtspolitischen Nachbesserung vom BMJV ignoriert wird. Weder das deutsche Grundgesetz noch die deutsche Strafprozessordnung erwähnen die Unschuldsvermutung auch nur. Man mag es als Verneigung gegenüber der überragenden Bedeutung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) werten, dass allenthalben auf deren Art. 6 Abs. 2 verwiesen wird, wenn es gilt, die Unschuldsvermutung in ihrer ebenso überragenden Bedeutung als Grundpfeiler des Strafverfahrens(rechts) zu benennen und rechtlich zu verorten. Wenn im Übrigen aber lediglich das allgemeine „Rechtsstaatsprinzip“ als Rechtsgrundlage herhalten kann, wird bereits deutlich, dass es damit nicht getan ist – dass es aber auch mit Art. 6 Abs. 2 EMRK nicht getan ist (ohne dessen Bedeutung schmälern zu wollen), lassen nicht nur die Artt. 47 und 48 der EU-Grundrechte-Charta erkennen (die im deutschen Prozessrecht bisher freilich nicht gelten), sondern gerade auch die vorliegende EU-Richtlinie 2016/343 in ihren Artt. 3 bis 7.

Soweit es in dem vorliegenden Entwurf (unter A. II. 2. b, a.a.O. S. 10/11) demgegenüber heißt, der Grundsatz der Unschuldsvermutung sei im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) verankert, genieße damit „Verfassungsrang“ und sei „zusätzlich auf der Ebene einfachen Bundesrechts“ kodifiziert, womit ‚nur‘ Art. 6 Abs. 2 EMRK gemeint ist, wird das Manko einmal mehr deutlich. Die Abstinenz des vorgelegten Entwurfs in puncto Unschuldsvermutung ist selbst dann nicht akzeptabel, wenn man der Auffassung folgen will, die in den Artt. 3 bis 7 der EU-Richtlinie 2016/343 verankerten Konkretisierungen und Präzisionen zur Unschuldsvermutung seien im deutschen Recht „weitgehend“ bereits verwirklicht (RefE S. 11 ff.). Denn einerseits gilt dies eben – wie dargelegt – „weitgehend“ nur im Recht in seiner richterlichen Ausgestaltung und gerade nicht im positiven Recht der einschlägigen Gesetze, und andererseits gilt dies eben allenfalls „weitgehend“, aber nicht umfassend: Es kann keine Rede davon sein, im deutschen (nicht nur Strafprozess-) Recht und in der deutschen (nicht nur Straf-) Justiz gebe es keine Probleme mit der Unschuldsvermutung, die nicht der Mühe wert gewesen wären, sie auf Veranlassung der EU-Richtlinie legislativ in Angriff zu nehmen.(2)

So aber hat man sich darauf beschränkt, die Richtlinie nur „zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ umzusetzen, und das einerseits auch nur punktuell (s.u. B. und C.) und andererseits – einem verbreiteten deutschen Strafprozessverständnis entsprechend – zugleich zur ‚Stärkung‘ der Pflicht des Angeklagten auf Anwesenheit, wobei zuzugestehen ist, dass auch die Richtlinie selbst vor allem Ausnahmen vom Anwesenheitsrecht, also Abwesenheitsverfahren reglementiert. Die dagegen vorgebrachte Kritik(3) bleibt berechtigt: Eine Richtlinie, die wahrhaftig die „Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung“ fokussierte, wäre ggf. Anlass gewesen bzw,. hätte Anlass sein müssen, die in der deutschen StPO zahlreich verankerten Möglichkeiten der Abwesenheitsverhandlung auf den Prüfstand zu stellen. Da die Richtlinie letztlich aber vor allem auf eine ‚Stärkung des Rechts der Strafverfolgungsbehörden zu Abwesenheitsverhandlungen‘ hinausläuft, mag man geneigt sein, dem BMJV insoweit keinen Vorwurf zu machen. Gleichwohl bzw. so oder so: eine vertane Chance!

Auch der Aufforderung der Richtlinie in Erwägung 42, dafür Sorge zu tragen, dass gerade in puncto Anwesenheitsrecht „die besonderen Bedürfnisse schutzbedürftiger Personen“ berücksichtigt werden müssen, also von Personen, die „aufgrund ihres Alters, ihrer geistigen oder körperlichen Verfassung oder aufgrund irgendeiner möglichen Behinderung nicht in der Lage sind, einem Strafverfahren zu folgen oder daran teilzunehmen“ (wobei in Erwägung 43 „Kinder“ – im internationalen Sprachgebrauch incl. Jugendliche – noch gesondert Erwähnung finden), widmet der RefE keine Zeile.(4)

Des Weiteren ist – selbst vor dem Hintergrund ablaufender Wahlperioden und ‚holpriger‘ Wege zur Regierungsbildung – zu kritisieren, dass die Frist zur Umsetzung der Richtlinie bereits am 1.4.2018 abgelaufen war, also noch bevor auch nur ein RefE vorgelegt wurde. In Anbetracht der hyperaktiven bis hektischen Gesetzgebungstätigkeiten gerade des BMJV in den letzten zwei Jahren, das Gesetzesvorhaben bisweilen binnen weniger Monate bis zur Verabschiedung trieb, ist es nicht nachzuvollziehen, dass die seit dem 9.3.2016 vorliegende (und bereits seit Jahren diskutierte, also absehbare) Richtlinie zwei Jahre ‚brach‘ lag: Eine rechtspolitisch bedenkliche Prioritätensetzung.
Wenn schließlich das beabsichtigte Gesetz (in Art. 1 Nr. 1 und 5 – insoweit ist die Fußnote auf S. 3 unzutreffend – sowie Art. 2 und 3) auch noch dafür herhalten soll, ‚en passant‘ Versäumnisse eines anderen Gesetzgebungsvorhabens (hier: zur elektronischen Akte) zu korrigieren, so schmälert dies den hochtrabenden Anspruch der Umsetzung einer so wichtigen EU-Richtlinie 2016/343 einmal mehr.

B. Weitere Anmerkungen zur Allgemeinen Entwurfsbegründung

Im Zentrum des Entwurfs steht § 350 StPO, mit dem ein „vollwertiges Anwesenheitsrecht des Angeklagten auch in der Revisionshauptverhandlung gewährleistet“ werden soll (S. 6 und Art. 1 Nr. 7), was zu einigen Folgeänderungen führt (Nrn. 2, 3, 8). Daneben treten Detailänderungen zur Abwesenheitsverhandlung gem. § 231 Abs. 2 (Nr.  4) bzw. § 329 StPO (Nr. 6).

Soweit im BMJV im Übrigen in puncto „Anwesenheitsrecht“ (genauer: in puncto „Ausnahmen vom Anwesenheitsrecht“, also: Abwesenheitsverhandlungen) aufgrund der Richtlinie „kein Anpassungsbedarf“ gesehen wird (S. 6 ff.), so wirft dies einerseits ein entsprechendes Licht auf die gerade auch insoweit zu Recht kritisiert Richtlinie (s.o.), andererseits ist z.B. durchaus fraglich, ob das deutsche Strafprozessrecht den Anforderungen des Art. 9 der Richtlinie (Recht auf eine neue Verhandlung) durchweg gerecht wird. Auch sonst wäre eine kritischere Bestandsaufnahme der negativ beeindruckenden Liste „weiterer Ausnahmen vom Anwesenheitsrecht“ – auch in rechtsvergleichender Perspektive – angezeigt (die hier zunächst nicht geleistet werden kann).

Dass – so der vorliegende Entwurf – die Richtlinie „zweitens [Vorgaben] zum Recht des Angeklagten auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung“ enthält (S. 5), ist mindestens missverständlich, wenn nicht irreführend: Die Richtlinie spricht durchweg von „Verdächtigen oder beschuldigten Personen“. In der Erwägung 11 heißt es insoweit explizit, sie gelte „für natürliche Personen …, die Verdächtige oder beschuldigte Personen in einem Strafverfahren sind. Sie sollte ab dem Zeitpunkt gelten, in dem eine Person verdächtigt oder beschuldigt wird, eine Straftat oder eine mutmaßliche Straftat begangen zu haben, und somit schon bevor diese Peron von den zuständigen Behörden … darüber unterrichtet wird, dass sie Verdächtiger oder beschuldigte Person ist“; sie soll „in allen Abschnitten des Strafverfahren … Anwendung finden“. Dass dies auf den Aspekt der „Unschuldsvermutung“ beschränkt sein sollte, ist der Richtlinie nicht zu entnehmen, vielmehr heißt es in der Erwägung 33 explizit: „Das Recht von Verdächtigen und beschuldigten Personen, in der Verhandlung anwesend zu sein, beruht auf diesem Recht“, womit das Recht auf ein faires Verfahren gemeint ist. Auch den Artt. 8 und 9 der Richtlinie ist nicht zu entnehmen, dass es nur um „Hauptverhandlungen“ gehen sollte: Vielmehr wird unterschieden zwischen „Verhandlungen“ (Art. 8 Abs. 1) und solchen, „die zu einer Entscheidung über die Schuld oder Unschuld“ führen kann (Abs. 2). Die Fokussierung des RefE auf „Angeklagte“ einerseits und (Haupt-)Verhandlungen andererseits schöpft die Richtlinie auch insoweit nicht aus.

C. Zu den Einzelregelungen

Die EU-Richtlinie will das Anwesenheitsrecht des Angeklagten insgesamt (Art. 8 Abs. 1), insb. aber auch dadurch stärken, dass Ausnahmen hiervon, m.a.W. also die Möglichkeiten zur Abwesenheitsverhandlung (Art. 8 Abs. 2) stärker reglementiert und implizit legitimiert werden, indem der Betroffene entweder „rechtzeitig über die Verhandlung und über die Folgen des Nichterscheinens unterrichtet“ (a.a.O. lit. a) oder von einem „bevollmächtigten Rechtsanwalt vertreten“ wird (lit. b). Dem folgt der vorliegende RefE durchaus überzeugend, auch wenn der Spagat zwischen Anwesenheitsrecht und -pflicht letztlich nicht durchweg gelingt bzw. zu ‚Verrenkungen‘ führt (s.u. 2.).

1. Anwesenheitsrecht in der Revisionshauptverhandlung

Dass der „Angeklagte, der nicht auf freiem Fuße ist“ (also zumeist in U-Haft bzw. einstweiliger Unterbringung oder in anderer Sache im Straf- bzw. Maßregelvollzug), „keinen Anspruch auf Anwesenheit“ in der Revisionshauptverhandlung hat (§ 350 Abs. 2 S. 2 StPO), ist häufig genug kritisiert worden und offenkundig auch mit der EU-Richtlinie 2016/343 nicht vereinbar; insoweit ist Änderungsbedarf also angezeigt (vgl. auch Beukelmann NJW-Spezial 2018, 312), wenn nicht ohnehin überfällig. Dies gilt ungeachtet dessen, dass Revisionshauptverhandlungen insb. dann so ‚gut‘ wie nie stattfinden, wenn ‚nur‘ der Angeklagte Revision eingelegt hat (arg. § 349 Abs. 2 StPO); aber gerade auch in staatsanwaltlichen Revisionen zum Nachteil des Angeklagten muss dem Inhaftierten die Anwesenheit gestattet sein (und demnach auch durch Vorführung ermöglicht werden), damit er sein Recht auf rechtliches Gehör (§ 351 Abs. 2 S. 1 StPO) und auf das „letzte Wort“ (S. 2) wahrnehmen kann.

Insoweit ist die geplante Neufassung zunächst einmal dahingehend zu begrüßen, dass § 350 Abs. 2 S. 2 StPO schlicht entfällt – dass im Übrigen daran festgehalten wird, im Revisionsverfahren auch gegen Angeklagte zu verhandeln, die nicht anwesend sind, soll nunmehr durch eine Neufassung dieses Satzes bestärkt werden, wonach die Hauptverhandlung, „wenn nicht die Mitwirkung des Verteidigers notwendig ist, auch durchgeführt werden [kann], wenn weder der Angeklagte noch ein Verteidiger anwesend ist“. Ungeachtet der Frage, wann in einer Revisionshauptverhandlung legitimierweise die Notwendigkeit der Verteidigung überhaupt verneint werden kann (s.u.), irritiert hier weiterhin die abrupte Abkehr vom Dogma der Anwesenheitspflicht (s.u. 2.), so wie es letztlich nur schwer hinnehmbar ist, eine Revisionshauptverhandlung zu Lasten des Angeklagten ohne ihn und seine Verteidigung durchzuführen.

Dass der bisherige § 350 Abs. 3 StPO infolge der o.g. Streichung des Abs. 2 S. 2 entfallen soll, ist zunächst einmal konsequent. Wenn ein neuer Abs. 1 S. 2 hingegen lediglich in puncto Ladung darauf Bezug nimmt, dass „die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig“ sein kann, so fragt sich, woraus dies dann im Einzelfall folgt resp. ob im Übrigen § 140 StPO vollumfänglich Anwendung finden soll (vgl. auch Beukelmann a.a.O.). Von Letzterem geht jedenfalls – durchaus bemerkenswert – die RefE-Begr. (a.a.O. S. 22) aus: Einerseits wird zu Recht darauf hingewiesen, mit dem geplanten Fortfall des § 350 Abs. 3 StPO verliere die (ohnehin nicht unumstrittene) Auffassung, die Beiordnung aus dem Hauptverfahren ende vor der Revisionshauptverhandlung, ihre Berechtigung; andererseits werde „die Notwendigkeit einer Verteidigung in der Revisionshauptverhandlung – insbesondere am Maßstab des § 140 Abs. 2 StPO – stets zu prüfen“ sein (a.a.O.). So weit, so gut, nur dass jene Notwendigkeit nicht nur stets zu „prüfen“, sondern in Anbetracht der „Schwierigkeit der Sach- und [insb.] Rechtslage“ im Revisionsverfahren stets zu bejahen sein wird – klarer wäre es, direkt in § 350 StPO für jeden Fall einer Revisionshauptverhandlung die Notwendigkeit der Verteidigung gesetzlich festzuschreiben.(5)

Die vorgesehenen Änderungen führen – auch insoweit der Richtlinie im Ansatz folgend – zu Folgeänderungen:
  • - Die erweiterte Zulässigkeit der öffentliche Zustellung im Rechtsmittelverfahren (§ 40 Abs. 3 StPO) soll – ungeachtet prinzipieller Einwände (vgl. nur HK-StPO/Pollähne § 44 Rn. 1 ff. m.w.N.), aber in sich konsequent – auf das Revisionsverfahren erstreckt werden; eine restriktive Handhabung bleibt angezeigt.
  • Die Rechtsmittelbelehrung (§ 35a S. 2 StPO) soll entsprechend ergänzt werden, wobei die Neufassung gesetztechnisch etwas verunglückt ist: Einerseits müsste es heißen „Berufung und/oder Revision“, andererseits ist der Angeklagte für den Fall der Revision nicht über die „Rechtsfolgen … der §§ 329, 330“ zu belehren.
  • Über die besondere (also jenseits § 33a StPO) Nachholung des rechtlichen Gehörs im Revisionsverfahren gem. § 356a StPO soll der Angeklagte – insoweit der Stärkung seines Anwesenheitsrechts in der Revisionshauptverhandlung (s.o.) folgend – auch gesondert belehrt werden. Dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen – ob sich damit an der notorischen Erfolglosigkeit von Gehörsrügen im Revisionsverfahren etwas ändern wird, steht freilich dahin.

2. Abwesenheitsverhandlung gem. § 231 Abs. 2 StPO

In Anknüpfung an Art. 8 Abs. 2 lit. a) der Richtlinie soll § 231 Abs. 2 StPO, der eine Abwesenheitsverhandlung für den Fall, dass der Angeklagte „über die Anklage schon vernommen war und das Gericht seine fernere Anwesenheit nicht für erforderlich erachtet“, zulässt, dahingehend ergänzt werden, dass der Angeklagte „in der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass die Verhandlung in diesen Fällen in seiner Abwesenheit zu Ende geführt werden kann“.

Eine solche Ergänzung ist im Grunde zu befürworten; dass es damit getan ist, erscheint aber – insb. bei längerem Zeitablauf zwischen Ladung und dem Zeitpunkt „über die Anklage schon vernommen“ – fraglich, zumal offenbar von der Ladung i.S.d. § 216 Abs. 1 StPO die Rede ist (unklar RefE-Begr. S. 19: „ordnungsgemäße Ladung – sei es zur Hauptverhandlung oder zum Fortsetzungstermin“), weshalb sich übrigens die Frage stellt, warum die Änderung nicht dort, sondern in § 231 Abs. 2 StPO verortet werden soll.

Gem. Nr. 137 Abs. 1 RiStBV erfolgt die Ladung zur Fortsetzungsverhandlung (um solche Fälle wird es in aller Regel gehen) mündlich am Ende des vorhergehenden Verhandlungstages, bisher unter Hinweis an den Angeklagten auf die Anwesenheitspflicht gem. §§ 230, 231 StPO. Diese Belehrung wäre genau der richtige Ort und Zeitpunkt, den Angeklagten auch auf die Möglichkeit des § 231 Abs. 2 StPO hinzuweisen. Warum diese Belehrung offenbar dennoch in die schriftliche Ladung gem. § 216 Abs. 1 StPO vorverlagert werden soll, versucht der RefE unter Verweis auf eine vermeintliche Gefährdung des Grundsatzes des Anwesenheitspflicht zu rechtfertigen:

Würde der Angeklagte am Ende eines Verhandlungstages (und nachdem er „über die Anklage schon vernommen“ ist) ordnungsgemäß darauf hingewiesen, das Gericht halte „seine fernere Anwesenheit nicht für erforderlich“, könne er dies dahingehend missverstehen, er brauche nicht mehr zu kommen (RefE-Begr. aaO). Soweit das BMJV insoweit auf BGHSt 46, 81 (= StV 2003, 145 m. krit. Anm. Gollwitzer = JR 2001, 337 m. krit. Anm. Keiser) verweist, greift dies einerseits schon deshalb zu kurz, weil der 3. Strafsenat zur Begründung gerade auch darauf hingewiesen hatte, dass in § 231 Abs. 2 StPO eine solche Belehrung nicht vorgeschrieben sei (sic), und andererseits gab es seinerzeit eben auch die vorliegende EU-Richtlinie noch nicht; die Begründung des BGH überzeugte letztlich nicht mehr (ähnlich Keiser a.a.O.; diff. Gollwitzer a.a.O.) als die Begründung der Gegenansicht durch das OLG Düsseldorf (NJW 1970, 1889 f.).

Das Ganze ist nicht ehrlich und hält selbst unter den in § 231 Abs. 2 StPO genannten Voraussetzungen (s.o.) an dem Dogma fest, der Angeklagte sei durchgehend zur Anwesenheit verpflichtet – obwohl doch das Gericht ohne ihn weiter verhandeln und demgemäß auch von den Zwangsmaßnahmen gem. §§ 230 Abs. 2, 231 Abs. 1 S. 2 StPO keinen Gebrauch machen dürfte. Der Gesetzgeber soll dazu stehen, dass er hier eine entscheidende Weiche von der Anwesenheitspflicht zum Anwesenheitsrecht gestellt hat – und dies auch in der Art und Weise und dem Zeitpunkt der Belehrung zum Ausdruck bringen! Es ist übrigens auch unschlüssig, den Angeklagten zukünftig in der Ladung gem. § 216 Abs. 1 StPO über die Möglichkeit des § 231 Abs. 2 StPO zu belehren, in der Erwartung – so darf unterstellt werden – er liest und versteht dies, zugleich aber in der Hoffnung – so muss unterstellt werden – er versteht die Belehrung falsch, nämlich dahingehend, er bleibe gleichwohl zur Anwesenheit verpflichtet!?

3. Abwesenheitsberufungsverhandlung (§ 329 StPO)

Die Neuregelung der Abwesenheitsverhandlung im Berufungsverfahren durch Gesetz v. 17.7.2015 (wobei § 329 Abs. 7 allerdings auch vorher schon als Abs. 3 wortgleich galt) soll aus Anlass der EU-Richtlinie zu Recht eine Ergänzung bzw. Klarstellung dahingehend erfahren, dass der Angeklagte – wie jetzt bereits üblich (aber nicht vorgeschrieben, insb. auch nicht in § 35a StPO), worauf auch der RefE verweist (a.a.O. S. 20) – über sein Recht auf Wiedereinsetzung nach Zustellung des in seiner Abwesenheit ergangenen Berufungsurteils gem. § 329 Abs. 7 StPO zu belehren ist. Dem ist nichts hinzuzufügen; da es um eine Klarstellung geht, wäre allerdings zu erwägen, zugleich die entsprechende Geltung des § 47 StPO – ähnlich § 356a S. 4 StPO (bzw. S. 5 n.F., s.o.) – zu klären.

4. Folgeregelungen zur „elektronischen Akte“

Soweit der Entwurf in §§ 32a Abs. 4 Nr. 3 und 251 Abs. 1 Nr. 4 StPO einerseits sowie in § 110a Abs. 3 S. 1 StVollzG und Art. (gemeint §) 110a Abs. 3 S. 1 OWiG andererseits (hier jew. für die ab 2025 geltende Fassung) Korrekturen bzw. Ergänzungen zum „Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte“ vorsieht, bedarf es vorliegend keiner Anmerkung (abgesehen davon, dass es sicher nicht die letzte einschlägige Korrektur/Ergänzung ist, die in den kommenden Jahren in diesem oder jenem Gesetz angebracht werden muss). Fußnoten
(1) Dass sie sowohl in der langjährigen Entstehungsphase (vgl. zum sog. „Grünbuch Unschuldsvermutung“ von 2006 Ahlbrecht StV 2016, 261 m.w.N.) als auch in ihrer Endfassung – in Anbetracht ihres Kompromisscharakters (s. auch Wildt AnwBl 2016 M6) letztlich nicht überraschend – nicht frei von durchaus berechtigter Kritik geblieben ist, mag hier dahinstehen (vgl. nur die BRAK-Stellungnahme 24/2014 v. Juni 2014 S. 3 ff., Schünemann StV 2016, 178 ff., Ahlbrecht a.a.O. S. 262 f. und Brodowski ZIS 2017, 18).
(2) S. nur die von Beukelmann NJW-Spezial 2018, 312 (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) genannten Beispiele, vgl. auch Ahlbrecht StV 2016, 257 ff. m.w.N.; eine eingehendere Diskussion der Ausführungen des RefE auf den S. 11-15 kann hier zunächst nicht geleistet werden.
(3) Z.B. von Seiten der BRAK (a.a.O.), vorab aber bereits von Seiten des EP-Rechtsausschusses (PE529.831v03-00 v. 8.4.2014): „… bedauerlich, dass die Mindestvorschriften, die mit dieser Richtlinie festgelegt werden sollen, erheblich zu wünschen übrig lassen und in manchen Fällen sogar alles andere als akzeptabel … Auffassung, dass kein Gerichtsurteil in Abwesenheit verhängt werden darf …“, vgl. auch Schünmemann a.a.O. S. 180.
(4) Wenn sich der RefE auf S. 8 ausgerechnet im Zusammenhang mit § 247 S. 3 StPO auf die Erwägung 42 beruft, so dürfte darin ein gravierendes Missverständnis liegen; ausf. dazu Pollähne, Behindertenrechte im Strafprozess – Faire Verfahren für Menschen mit Behinderungen? in: Aichele (Hg.) Das Menschenrecht auf gleiche Anerkennung vor dem Recht, 2013, 166 ff.
(5) Dass sich die Auffassung des ehem. Vors. des 2. Strafsenats (NJW 2014, 3527 m. zust. Anm. Meyer-Mews) gegen die h.M. durchsetzen wird, wonach eine Verteidigung in Revisionshauptverhandlung nur notwendig sei bei „schwerwiegenden Fällen“ und/oder einer „besonders schwierigen“ Rechtslage (a.a.O. m.w.N.), steht bisher dahin. StN als PDF