Die über 20 unterzeichnenden Organisationen und Verbände beraten und begleiten Geflüchtete und Migrant:innen in In- und Ausland täglich selbst oder durch Partnerorganisationen in ihren Familiennachzugsverfahren oder setzen sich politisch für ihre Belange ein. Hierbei erleben wir, wie die jahrelangen Verfahren, die vielen Hürden und die gesetzlichen Verschärfungen der letzten Jahre die Menschen zermürben und Inklusion oft unmöglich machen. Wir fordern die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen deshalb mit Nachdruck auf, die im Koalitionsvertrag angekündigten Verbesserungen beim Familiennachzug in dem nächsten Gesetzesentwurf vollumfänglich umzusetzen. Dabei muss der Verwirklichung des Grundrechts auf Familienleben der Betroffenen und der vorrangigen Achtung des Kindeswohl der beteiligten Kinder die oberste Priorität eingeräumt werden.
Die unterzeichnenden Verbände und Organisationen fordern daher folgende Reformen im nächsten Gesetzespaket zum Asyl- und Aufenthaltsrecht:
- Den Rechtsanspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wiederherstellen.
- Den Rechtsanspruch für Geschwister beim Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten verankern.
- Die aktuellen EuGH-Urteile bezüglich des Zeitpunkts der Minderjährigkeit für volljährig werdende und bereits im Verfahren volljährig gewordene Minderjährige umsetzen.
- Administrative Hürden im Visumsverfahren abbauen durch digitale Antragstellung und ausreichende Finanzierung.
- Das Erfordernis von Sprachkenntnissen vor der Einreise generell abschaffen.
Kein Ankommen in Deutschland ohne die Familie!
Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK).1 Die Zusammenführung von vor oder während der Flucht unfreiwillig getrennten Familien ist für eine schnelle und effektive Inklusion von Geflüchteten im Aufnahmestaat erforderlich, denn sie bietet emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Schutz. Doch nicht alle Familien können nach der jetzigen Rechtslage zusammengeführt werden.
Für subsidiär Schutzberechtigte wurde der Familiennachzug 2016 für zwei Jahre komplett ausgesetzt. Seit dem 1. August 2018 ist die Regelung in Kraft, nach der pro Monat maximal 1000 Menschen im Rahmen des Familiennachzugs zu ihrer engsten Familie nach Deutschland kommen dürfen. Einen Anspruch auf Familiennachzug haben subsidiär Schutzberechtigte in Deutschland seither nicht mehr. Das trifft u.a. Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die genauso wie anerkannte Flüchtlinge auf absehbare Zeit nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können. Hier werden vergleichbare Sachverhalte ungleich behandelt, ohne dass es einen sachlichen Grund gibt.
Alleinreisende schutzberechtigte Minderjährige können nur ihre Eltern, nicht aber ihre Geschwister nachziehen lassen. Dies gilt in den meisten Bundesländern und Landkreisen auch dann, wenn sie gemeinsam mit den nachzugsberechtigen Eltern nach Deutschland ziehen wollen, selbst wenn das Geschwisterkind ein Kleinkind ist. Früher wurde trotz fehlender spezifischer Rechtsgrundlage der Nachzug der Geschwister bundesweit in der Regel ermöglicht. Seit 2016 herrscht hier eine restriktive Verwaltungspraxis. Für die Familien bedeutet dies beim Familiennachzug oft dramatische und langfristige Familientrennungen, die vor allem für die betroffenen Kinder und Jugendlichen eine gravierende psychische Belastung darstellen und ihre Entwicklung beeinträchtigen können. Eltern müssen sich entscheiden, welches ihrer Kinder sie allein lassen, eine unmenschliche Praxis.
Familiennachzugsverfahren über viele Jahre(2) sind derzeit der Regelfall. Diese Dauer erzeugt großes menschliches Leid und ist nicht akzeptabel. Obgleich das deutsche Aufenthaltsrecht international Schutzberechtigten das Recht auf den Nachzug ihrer Familien gewährt und die Familienzusammenführungsrichtlinie (2003/86/EG) diesen Familien in vielerlei Hinsicht einen privilegierten Verfahrensablauf zuerkennt, haben viele Familien in der Praxis nur bedingten Zugang zu diesem Recht. Überlange Wartezeiten auf Termine, Reisebeschränkungen und überlange Bearbeitungszeiten bei den Botschaften verzögern den Familiennachzug für viele Familien außerordentlich und verhindern mitunter die Wiederherstellung der Familieneinheit ganz.
Dabei ist der Familiennachzug eine der wenigen sicheren Zugangswege nach Deutschland. Wird er über Jahre verzögert oder ganz verhindert, sehen sich viele Angehörige, häufig Frauen und Kinder, angesichts prekärer Lebensumstände in Heimat- oder Transitländern gezwungen, auf gefährlichen und irregulären Wegen nach Europa zu kommen.
Im Koalitionsvertrag wird angekündigt, die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten wie schon 2015 mit der zu nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) anerkannten Flüchtlingen gleichzustellen und beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen auch die minderjährigen Geschwister nicht zurückzulassen. Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen sollen laut Koalitionsvertrag den erforderlichen Sprachnachweis auch erst nach ihrer Ankunft erbringen können. Ferner hat der EuGH am 1. August 2022 in zwei wichtigen Urteilen zu Deutschland entschieden, dass der Anspruch auf Familiennachzug auch dann fortbesteht, wenn die Kinder zum Zeitpunkt der Asylantragstellung minderjährig waren und im Laufe der Verfahren volljährig wurden.
Im Einzelnen:
1. Den Rechtsanspruch auf Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten wiederherstellen
Streichung von § 36a AufenthG und vollumfängliche Anpassung der Rechtstellung subsidiär Schutzberechtigter in §§ 29 ff. an die Rechtsstellung der nach der GFK anerkannten Flüchtlinge durch Streichung der Beschränkungen auf die Flüchtlingsanerkennung und Erweiterung auf den subsidiären Schutz.
Das Aufnahmeverfahren nach § 36a AufenthG ist mit einem hohen bürokratischen Aufwand und komplizierten Abstimmungsverfahren der beteiligten Institutionen verbunden. Zudem wurde das Kontingent seit seiner Einführung nicht einmal ausgeschöpft.(3) Ferner ist die Abwägung, laut Gesetzesbegründung, einen Ausgleich zwischen der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit Deutschlands und den Interessen der Betroffenen an der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft zu schaffen, menschenrechtlich nicht zu rechtfertigen. Die in der Debatte eingebrachten viel zu hohen Zahlen der durch Familiennachzug zu erwartenden Ankünfte in Deutschland haben sich als falsch erwiesen.(4) Vielmehr sind Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte in einer so ähnlichen Situation, oft auch aus dem gleichen Herkunftsland, dass nur ein gleichberechtigter Anspruch beim Familiennachzug angemessen ist.
2. Den Rechtsanspruch für Geschwister beim Elternnachzug zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen und subsidiär Schutzberechtigten verankern
Berücksichtigung des Geschwisternachzugs zu unbegleiteten minderjährigen Schutzberechtigten durch Änderung von § 36 Abs. 1 AufenthG und Folgeanpassung in § 34 AufenthG.
Die Beziehung von Geschwistern untereinander ist im Kontext des Familiennachzugs bisher vom Konzept der Kernfamilie nicht erfasst. Dies steht jedoch den Vorgaben des Grundgesetzes sowie dem Europa- und Völkerrecht entgegen, insbesondere dem Recht auf Familie und zur vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls(5). Denn Geschwister gehören grund- und menschenrechtlich zur Kernfamilie. Selbst im deutschen Familienrecht werden Geschwister zur Familie im engeren Sinne gezählt und ihre Beziehungen untereinander unter einen besonderen rechtlichen Schutz gestellt, genauso beim Rechtsanspruch auf Familienasyl (vgl. § 26 Abs. 3 AsylG). Für die Einheit der Rechtsordnung empfiehlt es sich somit, auch beim Familiennachzug Geschwister untereinander den grund- und menschenrechtlich verankerten Nachzug zu gewähren. Dazu sollte der Anspruch auf Elternnachzug in § 36 Abs. 1 AufenthG um die Geschwister erweitert werden. Eltern sollten nicht gezwungen werden, zu entscheiden, ob sie ein Kind im Ausland zurücklassen oder auf die Wiedervereinigung mit dem anderen Kind in Deutschland verzichten.
3. Die aktuellen EuGH-Urteile bezüglich des Zeitpunkts der Minderjährigkeit für volljährig werdende und bereits im Verfahren volljährig gewordene Minderjährige umsetzen
Für den Elternnachzug zu Minderjährigen und den Kindernachzug zu Eltern kommt es auf das Alter bei Asylantragstellung an.
Nach den eindeutigen und klaren Aussagen des EuGHs in den Verfahren C-273/20 und C-355/20 ist beim Elternnachzug für Minderjährige auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen. Das Recht auf Familienzusammenführung darf nicht von »zufälligen und nicht vorhersehbaren Umständen abhängig gemacht werden, die voll und ganz im Verantwortungsbereich der zuständigen nationalen Behörden und Gerichte des betreffenden Mitgliedstaats liegen,“ urteilte der EuGH am 1. August 2022. Zudem stellte er fest, dass im deutschen Aufenthaltsrecht eine Grundlage für den Verbleib der Eltern fehlt, nachdem ihr Kind volljährig geworden ist (Rn. 51). Für den Kindernachzug hat der EuGH am gleichen Tag im Verfahren C-279/20 ebenso entschieden, dass nur das Abstellen auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung für die Feststellung der Minderjährigkeit mit der Grundrechtecharta der EU im Einklang steht (Rn. 52).
Die deutsche Praxis und bisherige Rechtsprechung ist damit europarechtswidrig und muss sofort angepasst werden. Die Entscheidungen des EuGHs waren nach einem ähnlichen Urteil zum Elternnachzug in einem Verfahren aus den Niederlanden aus dem Jahr 2018 auch erwartbar. In den letzten vier Jahren haben einige Familien aufgrund der - wie nun bestätigt - falschen Rechtsauffassung der Bundesregierung erst gar keinen Antrag auf Familiennachzug gestellt oder gegen eine Ablehnung nicht geklagt. Für sie muss nun eine kulante Lösung gefunden werden, etwa indem ein erneuter Antrag ermöglicht wird. Darüber hinaus muss in Umsetzung des Urteils des EuGHs gesetzlich verankert werden, dass die Nachziehenden unabhängig vom Alter der Stammberechtigten einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis für mindestens ein Jahr haben.
4. Administrative Hürden im Visumsverfahren abbauen durch digitale Antragstellung und ausreichende Finanzierung
Beim Zugang zu deutschen Auslandsvertretungen muss der Rechtsanspruch auf Familieneinheit effektiv gewährleistet werden. Wartezeiten auf einen Termin bei einer deutschen Auslandsvertretung sollten bei maximal 3 Monaten liegen. Die Bearbeitungsdauer darf insgesamt neun Monate nicht überschreiten. Die Dokumentenbeschaffung muss flexibel gestaltet werden, wenn sie ansonsten nicht durchführbar ist. Die Visumsverfahren bei den Auslandsvertretungen müssen digitalisiert werden.
Diese Forderung rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der Vorgaben der EU-Richtlinie zum Recht auf Familienzusammenführung (Art. 5 Abs. 4 2003/86/EG), nach denen die Bearbeitungszeit von Anträgen grundsätzlich nicht länger als neun Monate dauern darf. Der Staat darf sich dieser gesetzlichen Verpflichtungen nicht entziehen, indem die Möglichkeit der Rechtsinhaber:innen, entsprechende Verwaltungsverfahren in Gang zu setzen, über längere Zeit nicht ermöglicht oder gar ganz vereitelt wird. Alle Maßnahmen zur Verfahrensvereinfachung und Kapazitätserhöhung müssen ergriffen werden, um jahrelange Familientrennungen zu vermeiden. Insbesondere müssen dem Auswärtigen Amt die notwendigen Mittel im Bundeshaushalt zur Verfügung gestellt werden, um die Visaverfahren zum Familiennachzug zu digitalisieren und angemessen zu beschleunigen. Die angekündigte zehnprozentige Mittelkürzung im Haushalt des Auswärtigen Amtes ist inakzeptabel und muss zurückgenommen werden.
Sollte eine persönliche Vorsprache in einer deutschen Auslandsvertretung nicht oder auf nicht zumutbare Weise möglich sein, sollte auf bestehende Alternativen zurückgegriffen werden:
- gegenseitige Unterstützung von Auslandsvertretungen anderer EU-Staaten inklusive der Antragsannahme durch diese, falls eine einfachere Erreichbarkeit für die Familienmitglieder im Nachzugsverfahren besteht
- zielgerichtete Kooperationen mit internationalen Organisationen wie z.B. IOM und dem UNHCR zur Beschleunigung von Familiennachzugsverfahren;
- Die Digitalisierung des Familiennachzugsverfahrens inklusive der botschaftsexternen Erhebung biometrischer Daten als Ersatz für persönliche Vorsprachen sollte vorangetrieben werden. Gerade in Krisenländern sind postalische Akten und persönliche Vorsprachen ineffektiv und verwaltungshinderlich.
5. Das Erfordernis von Sprachkenntnissen vor der Einreise generell abschaffen
Streichung des Erfordernisses des Sprachnachweises vor Einreise im § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG sowie in § 32 Abs. 2 AufenthG.
Das Erfordernis des Sprachnachweises vor der Einreise führt zu erheblichen Härten für viele Paare und Familien. Gründe für den Nichterwerb der deutschen Sprache gibt es viele, z.B. können Zugänge zu Sprachkursen erheblich eingeschränkt oder geographisch schlecht erreichbar sein. Sprachen erlernen sich am besten dort, wo sie gesprochen werden. Ferner gebietet der Grundsatz der Gleichbehandlung die Streichung des Erfordernisses des Sprachnachweises, denn der Sprachnachweis wird bei Hochqualifizierten und Unionsbürgern und laut dem aktuellen Gesetzentwurf zum Chancen-Aufenthaltsrecht bald auch bei Fachkräften nicht mehr gefordert. Diese Ungleichbehandlung ist bei dem grundrechtlich geschützten Recht auf Familieneinheit nicht nachvollziehbar und sollte noch im laufenden Gesetzgebungsverfahren korrigiert werden.
Berlin, den 20. September 2022
amnesty international
Ärzte ohne Grenzen
AWO Bundesverband
Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge
Deutscher Anwaltverein AG Migrationsrecht
Der Paritätische Gesamtverband
Deutscher Caritasverband
Deutsches Kinderhilfswerk
Deutsches Rotes Kreuz
Diakonie Deutschland
epcat Deutschland
Equal Rights Beyond Borders
Internationaler Bund
Jesuiten Flüchtlingsdienst
Jumen
National Coalition Deutschland
Neue Richtervereinigung
PRO ASYL
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein
Save the Children
SOS Kinderdorf
terre des hommes
Verband Binationaler Familien und Partnerschaften
(1) Zur rechtlichen Definition des Familienbegriffs: https://familie.asyl.net/fileadmin/user_upload/pdf/Wer_gehoert_zur_Familie.pdf
(2) siehe Antwort auf kleine Anfrage der Linken, zuletzt Drucksache 19/30793
(3) epd Juli 2022 https://www.evangelisch.de/inhalte/203977/29-07-2022/kontingent-fuer-familiennachzug-wird-weiter-nicht-ausgeschoepft
(4) IAB, Brücker Oktober 2017 https://www.iab-forum.de/familiennachzug-150-000-bis-180-000-ehepartner-und-kinder-von-gefluechteten-mit-schutzstatus-leben-im-ausland/
(5) Im Grundgesetz schützt Art. 6 das Recht auf Familie als tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern. Auch das Völkerrecht schützt das Geschwisterverhältnis und unterstützt einen erweiterten Familienbegriff. Die Kinderrechtskonvention betrachtet die Familie als Grundeinheit der Gesellschaft und natürliche Umgebung für das Wachsen und Gedeihen aller ihrer Mitglieder, insbesondere der Kinder. Auch die Beziehung der Geschwister untereinander wird dabei in besonderem Maße als schutzwürdig betrachtet. Auch die europäische Menschenrechtskonvention schützt in Art. 8 EMRK die Beziehung der Geschwister untereinander. In den Rechtsakten zum gemeinsamen europäischen Asylsystem wird gleichfalls ein erweiterter Familienbegriff bevorzugt. Gemäß Art. 8 Abs. 1 der Dublin-III-VO haben Geschwister von unbegleiteten Minderjährigen beispielsweise ein Recht auf innereuropäische Familienzusammenführung auf derselben Stufe wie die Eltern.
Die Forderungen im PDF