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Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts

RAV-Stellungnahme, 20.6.2022

Der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV) nimmt den Entwurf eines Gesetzes zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrecht aus dem Bundesministerium des Inneren und für Heimat zum Anlass, zu den Vorhaben der Koalition im Migrationsrecht im Allgemeinen und zu einzelnen ausgewählten Punkten des Gesetzesentwurfes im Speziellen wie folgt Stellung zu nehmen:

I. Ausgangslage und grundlegende Reformbedarfe

Derzeit werden etwa 242.000 Menschen in Deutschland als vollziehbar ausreisepflichtig klassifiziert. Dieser Status der Duldung hat rechtlich verschiedene Gründe: Dazu zählen familiäre Verbindungen in Deutschland, festgestellte Abschiebeverbote, Erkrankungen, die Unmöglichkeit einer Abschiebung und faktische Abschiebestopps, oder das Nichtvorliegen von Dokumenten aus dem Herkunftsland.

Gemein ist all den betroffenen Menschen eines: Ihnen wird signalisiert, dass sie nicht Teil dieser Gesellschaft sein sollen; sie können sich keine Perspektive in Deutschland entwickeln, obwohl sie bisweilen bereits über Jahre hier leben; sie sind mit einer besonderen Missgunst und einem massiven Druck seitens der Behörden konfrontiert.

Einzelne Reformversuche in der Vergangenheit in diesem Bereich waren jeweils nur kleine Schritte in die richtige Richtung und konnten nur einem kleinen Teil der Menschen helfen: Etwa durch einzelne Änderungen im Bereich der Erwerbsmigration, durch die Einführung der §§ 25a, 25b AufenthG, dem Institut der Ausbildungsduldung und der Beschäftigungsduldung. Insbesondere Letztere ist aufgrund ihrer hohen Hürden praktisch kaum relevant.

Umfassendere und grundlegende Änderungen – die sowohl menschenrechtlich angezeigt wären und zugleich auch aus einer ökonomischen Logik gefordert werden – scheiterten in der Vergangenheit derweil regelmäßig an der gegenläufigen Rationalität der Exekutive insbesondere in Gestalt des Bundesinnenministeriums, die grundsätzliche und auch dauerhafte Aufrechterhaltung der Ausreisepflicht als Massenphänomen und damit als gewolltes Sanktions- und Ausgrenzungsinstrument, einschließlich des besonders exkludierenden Arbeitsverbots, aufrechtzuerhalten.

Tatsächlich ist es irreführend und empirisch nicht belegbar, die über Jahre andauernde prekäre aufenthaltsrechtliche Situation von hundertausenden Menschen, von der nicht zuletzt viele Kinder betroffen sind, mit der Verhinderung von vermeintlichen pull-Faktoren zu begründen. Ebenso unterkomplex ist es, wenn langjährige Duldungen mit der verweigerten Rücknahme durch die Herkunftsländer zu erklären versucht werden: Dies zeigt nicht zuletzt ein Blick auf die zahlenmäßig besonders bedeutenden Herkunftsländer Irak und Iran, für die ein faktischer Abschiebestopp gilt; das Gleiche galt für den Umgang mit Menschen aus Afghanistan bis zur Machtübernahme der Taliban im August 2021. Wenn Menschen aus diesen Ländern perspektivisch schon rein praktisch nicht abgeschoben werden, ist es nicht zu rechtfertigen, sie per Duldung als vollziehbar ausreisepflichtig zu klassifizieren und von gesellschaftlicher Teilhabe auszuschließen.

Ein wirklicher Paradigmenwechsel für Menschen in Duldung verlangt demgegenüber insbesondere die folgenden Punkte:

  • Arbeitsverbote sind als Sanktionsinstrument grundsätzlich zu streichen;
  • ein Spurwechsel vom Asylverfahren in andere Aufenthaltsrechte muss umfassend ermöglicht werden;
  • Dauer- und Kettenduldungen müssen mit einer stichtagsunabhängigen Regelung begegnet werden, um Menschen, die langjährig in Deutschland leben, eine sichere Perspektive zu ermöglichen.
     

Diese Maßnahmen müssen flankiert werden von proaktiven Maßnahmen des Staates, die gesellschaftliche Teilhabe von allen Menschen durch die Bereitstellung von Integrationskursen und durch umfassende Förderungen von Spracherwerb und beruflicher Aus- und Weiterbildung ermöglichen und unterstützen.

Eine weitere zentrale Baustelle des Migrationsrechts ist schließlich die Regulierung des Familiennachzugs – zur Wahrung des grundgesetzlichen Rechts auf Familie und zur Verwurzelung der Menschen in Deutschland. Das betrifft, neben der notwendigen und im Koalitionsvertrag teilweise anvisierten Reformierung restriktiver Regelungen etwa des Spracherfordernisses, nicht zuletzt die Praxis des Auswärtigen Amtes und der Botschaften: Diese müssen so ausgestattet werden, dass Wartezeiten – die derzeit bis zu zwei Jahren betragen – deutlich verringert werden können. Das Recht auf Familie darf nicht an personellen Engpässen scheitern.

II. Vorhaben der Koalition im Koalitionsvertrag

Das Vorhaben der Koalition im Koalitionsvertrag, die rechtliche Situation von Menschen mit Duldung zu verbessern, ist aus Sicht des RAV überfällig und menschenrechtlich geboten. Es ist dringend erforderlich, dass die Perspektiven und die Rechtssicherheit von Menschen gestärkt werden, die sich in Ausbildung und Arbeit befinden.

Wir begrüßen daher die Vorhaben der Koalition, die Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnisse gem. § 25a und § 25b AufenthG und die Ausbildungsduldung in eine Aufenthaltserlaubnis zu transformieren. Unabdingbar ist die Ankündigung, die sog. „Duldung light“ nach § 60b AufenthG, die als Verschärfung mit dem »“Geordneten-Rückkehr-Gesetz“ eingeführt wurde und aktuell über 20.000 Menschen betrifft, und jegliche Arbeitsverbote aus dem Aufenthaltsgesetz zu streichen – da es sich hierbei um Instrumente handelt, die rechtlich höchst umstritten, von den Behörden sehr unterschiedlich angewandt und in der Konsequenz Menschen gänzlich aus dem gesellschaftlichen Leben ausschließen und ihnen jegliche Perspektive versperren. Arbeitsverbote darf es im 21. Jahrhundert nicht geben.

Ebenfalls unabdingbar und schnellstmöglich umzusetzen ist die Zusage im Koalitionsvertrag, die Visavergabe zu beschleunigen. Die Bundesregierung ist gehalten, hier zeitnah die Umsetzung voranzutreiben: Insbesondere den Menschen in Afghanistan, die einen Familiennachzug anstreben, sind derart lange Wartezeiten nicht weiter zumutbar.

III. Zum Entwurf eines „Chancen-Aufenthaltsrechts“

Grundsätzlich ein Schritt in die richtige Richtung ist das Vorhaben, langjährige Phasen der Unsicherheit in Form von Kettenduldungen zu beenden. Der Vorschlag, hier ein sogenanntes „Chancen-Aufenthaltsrecht“ zu schaffen, kann die Rechte von vielen Menschen stärken, sich unabhängiger von gesetzlichen und bürokratisch restriktiven Regelungen zu machen, um sich zu bilden und zu arbeiten und sich eine eigenständige Lebensperspektive zu schaffen.

III.1. Das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ nach dem Koalitionsvertrag

Allerdings war schon das im Koalitionsvertrag anvisierte „Chancen-Aufenthaltsrecht“ in der dort vorgeschlagenen Form zu lückenhaft.

Im Koalitionsvertrag war das besagte „Chancen-Aufenthaltsrecht“ an drei Voraussetzungen geknüpft (S. 110 des Koalitionsvertrages): Menschen, die erstens „am 1. Januar 2022 seit fünf Jahren in Deutschland leben“, zweitens „nicht straffällig geworden sind“ und sich drittens „zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung bekennen“, sollen „eine einjährige Aufenthaltserlaubnis auf Probe erhalten können, um in dieser Zeit die übrigen Voraussetzungen für ein Bleiberecht zu erfüllen (insbesondere Lebensunterhaltssicherung und Identitätsnachweis gemäß §§ 25 a und b AufenthG).“

III.1.1. Stichtagsregelung

Es handelt sich wiederum nur um eine Stichtagsregelung, indem es nur diejenigen Menschen adressiert, die sich am 01.01.2022 fünf Jahre lang in Deutschland aufgehalten haben. Es wird hingegen keine dauerhafte rechtliche Lösung für Menschen geschaffen, von der auch die Menschen profitieren werden, dich sich nach diesem Stichtag fünf Jahre in Deutschland aufgehalten haben.

III.1.2. Restriktiver Rahmen in zeitlicher Hinsicht

Das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ eröffnet nominell und rechtlich nur eine Chance: Das Recht soll die Möglichkeit geben, innerhalb eines Jahres die Voraussetzungen eines anderen Bleiberechts – also die Voraussetzungen einer Aufenthaltserlaubnis nach anderer Norm – zu erfüllen; dies wird die Adressat*innen massiv unter Druck setzen, zumal nach unseren praktischen Erfahrungen ein Jahr kein langer Zeitraum ist, um sich etwa eine Arbeit zu suchen, die prognostisch dauerhaft den Lebensunterhalt sichert.

III.1.3. Unzureichender persönlicher Anwendungsbereich

Viele Menschen werden dauerhaft in Deutschland geduldet, weil ein anderweitiges Bleiberecht aus anderen rechtlichen Gründen scheitert, sie aber gleichwohl aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen perspektivisch nicht abgeschoben werden können und/oder dürfen: Weil sie krank sind, in Deutschland Familie haben, oder weil eine Abschiebung wegen der Zustände in ihrem Herkunftsland – wie etwa Afghanistan oder Somalia – nicht möglich oder zulässig ist. Diese große Personengruppe wird in dem Vorhaben einer Bleiberechtsreform von Vornherein gänzlich vernachlässigt.

III.2. Der Referentenentwurf zum „Chancen-Aufenthaltsrecht“

Der vorliegend zu diskutierende Referentenentwurf wirft weitere Kritikpunkte auf, indem er die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag unterminiert und durch verschiedentliche Einschränkungen dazu führen wird, dass zahlreiche Menschen nicht vom „Chancen-Aufenthaltsrecht“ profitieren werden:

Folgende Einschränkungen des Entwurfs eines „Chancen-Aufenthaltsrecht sind aus Sicht des RAV besonders problematisch:

III.2.1. Ausschluss wegen des Vorwurfs der Identitätstäuschung

Gem. § 104c Abs. 1 Nr. 3 AufenthG-E sollen Personen ausgeschlossen werden, wenn die Abschiebung „aufgrund eigener falscher Angaben oder aufgrund [einer] Täuschung über [die] Identität oder Staatsangehörigkeit ausgesetzt“ ist.

Damit wird zum einen das Vorhaben der Koalition aus dem Koalitionsvertrag unterhöhlt, an sich mit der Abschaffung der „Duldung light“ ein System von Geduldeten verschiedener Klassen zu beenden. Zum anderen zeigt die Praxis sowohl im Aufenthaltsrecht als auch im Sozialrecht im Zusammenhang mit § 1a AsylblG, dass der Vorwurf der Verantwortlichkeit für das Abschiebehindernis bereits – insbesondere durch vermeintlich unterlassene Bemühungen, sich Papiere des Herkunftslandes zu beschaffen – durch die Ausländerbehörden ausufernd und grundlos bemüht wird, um Menschen zu entrechten.

III.2.2. Beschränkter Wechsel in eine andere Aufenthaltserlaubnis

Das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ soll nach der einjährigen Probephase nur in eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG umgewandelt werden können (§ 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG-E).

Entgegen dem ausdrücklichen Wortlaut des Koalitionsvertrages ist damit eine Verlängerung in eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG nicht möglich.

Ohnehin bleibt auch systemisch unklar und unbegründet, warum nach der einjährigen Probephase eine Aufenthaltserlaubnis nicht aus anderen Gründen – etwa aus zwischenzeitlich eingetretenen familiären Gründen, durch die Aufnahme eines Studiums oder gem. § 25 Abs. 5 AufenthG – möglich sein sollte. § 104 c Abs. 1 S. AufenthG-E ist damit aus unserer Sicht auf alle Aufenthaltserlaubnisse zu erstrecken.

Jedenfalls muss aus diesem Grund die Vorgabe in § 104c Abs. 1 S. 5 AufenthG-E gestrichen werden, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis keine Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 4 AufenthG entfalten sollen.

III.2.3. Ausschluss bei Straftaten von Familienangehörigen

Besonders problematisch ist die Vorgabe gem. § 104c Abs. 3 AufenthG-E:

Demnach soll das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ für andere Mitglieder der Kernfamilie ausgeschlossen sein, wenn „der Ausländer oder ein in häuslicher Gemeinschaft lebender Ehegatte, Lebenspartner oder minderjähriges Kind Straftaten im Sinne des Absatzes 1 Satz 1 Nummer 2 begangen“ hat. Diese Vorschrift ist zunächst insofern redaktionell unklar formuliert, als dass nicht deutlich wird, ob es nur um die akzessorische Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 2 AufenthG (durch die Formulierung „Versagung der Aufenthaltserlaubnis nach dieser Vorschrift für andere Mitglieder der Kernfamilie“) oder auch um die Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG-E geht (indem es auf Straftaten des „Ausländers“ Bezug nimmt, die bereits nach § 104c Abs. 1 S 1. Nr. 2 AufenthG-E zum Ausschluss führen). Jedenfalls aber markiert diese Einschränkung eine als „Sippenhaft“ zu bezeichnende und grundlose Ausweitung der Rechtsfolgen von Straftaten von einem Familienmitglied auf die gesamte Familie.

III.2.4. Maßgebliche Voraufenthaltszeiten

Voraussetzung des „Chancen-Aufenthaltsrechts“ nach § 104c Abs. 1 S. 1 ist der ununterbrochene Aufenthalt kraft Duldung, Aufenthaltsgestattung oder eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen. Zum einen schließt dies die zahlreichen praktischen Fälle von Personen aus, die zwischenzeitlich und ausweislich einer rechtswidrigen Praxis faktisch, aber ohne eine explizite Bescheinigung geduldet waren oder sind, oder auch – nicht zuletzt wegen praktischer Schwierigkeiten während der Corona-Pandemie - ihre Duldung nicht verlängern konnten. An dieser Stelle bedarf es mindestens einer gesetzgeberischen Klärung, um individuellen Restriktionen durch die Ausländerbehörden vorzubeugen. Zum anderen ist es unverständlich, warum Personen aus der Norm herausfallen sollen, die zwischenzeitlich eine Aufenthaltserlaubnis aus anderen Zwecken – etwa familiären Gründen oder wegen eines Studiums –, mithin ein sicheres Aufenthaltsrecht innehatten.

III.2.5. Kein regelhaftes Absehen von der Passpflicht

Irreführend ist - es stellt wohl eher ein Redaktionsversehen dar -, wenn entsprechend dem Umkehrschluss aus § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG-E von der Passpflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 AufenthG nicht im Regelfall abgesehen werden soll. Dies widerspricht systematisch der Vorgabe und auch dem ausdrücklichen Vorhaben im Koalitionsvertrag, dass das „Chancen-Aufenthaltsrecht“ die Möglichkeit eröffnen soll, sich innerhalb eines Jahres um eine Klärung der Identität zu bemühen.

III.3. Forderungen

Der RAV empfiehlt, den Entwurf des „Chancen-Aufenthaltsrecht“ wie folgt zu ändern bzw. zu ergänzen:

  • die Regelung des § 104c AufenthG-E ist als stichtagsunabhängige Regelung auszugestalten;
  • die Befristung auf ein Jahr in § 104c Abs. 1 AufenthG-E ist zu streichen und um eine Verlängerungsoption zu ergänzen, falls die Voraussetzungen für das Bleiberecht nicht erfüllt werden konnten;
  • von der Erteilungsvoraussetzung der Passpflicht im Zeitpunkt der Erteilung ist abzusehen;
  • für eine effektive Anwendung der Norm ist es erforderlich, sie als strikte Anspruchsnorm zu gestalten. Die Formulierung „soll“ in § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG-E ist durch das Wort „ist“ zu ersetzen;
  • sämtliche Voraufenthalte einschließlich faktischer Duldungszeiten als anrechenbare Zeiten sind in die Norm einzubeziehen;
  • die Worte „mit einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen“ in § 104c Abs. 1 S. 2 AufenthG-E sind zu streichen;
  • die Worte „und zur Rechts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland“ in § 104c Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG-E sind zu streichen;
  • in § 104c Abs. 1 S. 1 AufenthG-E ist der Teilsatz „und kann nur als Aufenthaltserlaubnis nach § 25b verlängert werden“ zu streichen.
  • § 104c Abs. 3 AufenthG-E ist ersatzlos zu streichen.
  • eine endgültige Verfestigung ist zu ermöglichen: § 104c Abs. 1 S. 4 Halbsatz 2 AufenthG-E ist zu streichen.
     

IV. Vorhaben in den Bereichen Teilhabe und Familiennachzug

Im Koalitionsvertrag (S. 111) ist vorgesehen, dass zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen den erforderlichen Sprachnachweis auch erst nach Ankunft, und damit nach Visavergabe, erbringen können. Dieses Vorhaben ist durch den vorliegenden Entwurf in § 30 AufenthG-E nur eingeschränkt umgesetzt worden: Stattdessen ist vorgesehen, dass von nun an beim Nachzug zu Fachkräften und zu Personen mit besonderen berufspraktischen Kenntnissen in einzelnen Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologie vom Spracherfordernis gem. § 30 Abs. 1 S. 3 Nr. AufenthG-E abgesehen wird.

Diese nur eingeschränkte Änderung ist nicht nachvollziehbar und verkennt die praktische und akute Problemlage: Insbesondere Menschen, die über einen humanitären Aufenthaltstitel etwa kraft eines Abschiebungsverbotes verfügen, stammen zumeist aus Ländern oder die Familienangehörigen befinden sich in Transitländern, in denen jeweils, verstärkt durch die mangelhaften Lebensbedingungen der Familien und vor allem für Frauen, ein Spracherwerb kaum bis gar nicht möglich ist. Die Klassifizierung zwischen diesen Konstellationen einerseits und den zumeist mit besseren Möglichkeiten ausgestatten Familien von Fachkräften ist weder praktisch noch menschenrechtlich begründbar. 

Wir fordern daher,

  • § 30 AufenthG dahingehend zu ändern, dass beim Nachzug zu jeglichen Aufenthaltstiteln vom Erfordernis des Sprachnachweises vor der Einreise abgesehen wird.

Ebenso noch nicht bzw. nur verkürzt umgesetzt sind die Pläne aus dem Koalitionsvertrag, „für alle Menschen, die nach Deutschland kommen, von Anfang an Integrationskurse“ anzubieten (S. 111 des Koalitionsvertrages). Stattdessen ist allein nach § 44 AufenthG-E vorgesehen, dass der Stichtag der Einreise „vor dem 01. August 2019“ sowie der Ausschluss von Personen aus sicheren Herkunftsstaaten gestrichen wird. Wir fordern eine schnelle Umsetzung der Maßgabe,

  • § 44 AufenthG dergestalt zu ändern, dass jeglichen Personen mit einem Aufenthaltstitel, einer Aufenthaltsgestattung oder einer Duldung und ohne zeitliche Einschränkung das Recht zu einem Integrationskurs ermöglicht wird.
     

V. Abschließende Bemerkungen

Weder die Vorhaben der Bundesregierung in ihrem Koalitionsvertrag und noch weniger die vorliegenden Umsetzungsvorschläge werden dem Anspruch gerecht, einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik herbeizuführen. Dieses gilt insbesondere für die Reform der Rechte von Menschen in Duldung. Die vorliegenden Pläne bergen die Gefahr, dass weiterhin Zehntausende bis Hundertausende Menschen in Deutschland leben, die von gesellschaftlicher Teilhabe ausgeschlossen sind, und denen eine sichere Lebensplanung in Deutschland unmöglich gemacht wird. Ein sichtbarer Bruch mit der Logik von Ausschluss und Repression findet nicht statt. Dieser Zustand ist, insbesondere für die vielen betroffenen Kinder, unhaltbar – und er darf auch weiterhin nicht bleiben.

Unterdessen ist die Koalition gehalten, sich aber jedenfalls an die Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag zu halten, und die einzelnen progressiven Elemente zugunsten von Menschen in Duldung und mit humanitären Aufenthaltserlaubnissen nicht noch weiter zu unterhöhlen.

Zugleich müssen die Pläne schnell umgesetzt werden: Wir reden hier über die Situation und den Status von Menschen in existenziellen Notlagen. Bis zu einer endgültigen Kodifizierung des „Chancen-Aufenthaltsrechts“ ist es zudem unabdingbar, dass bundesweit Vorgriffsregelungen erlassen werden, um den Status der Adressat*innen der neuen Rechtslage bis dahin zu schützen und ihnen Sicherheit zu geben.

Verfasser*innen: Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert und Rechtsanwältin Berenice Böhlo für den RAV

Berlin, den 20. Juni 2022

RAV-Stellungnahme als PDF