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Behörden und die Justiz sind in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um die weitere Ausbreitung des Corona-Virus zu unterbinden

11.1.2021, Offener Brief des RAV an Justizministerien, Gerichte und das BAMF

11. Januar 2021, Offener Brief des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein e.V.

Dringender Appell des RAV

Sehr geehrte Justizministerinnen und Justizminister der Bundesländer,
sehr geehrte Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, Landgerichte, Amtsgerichte sowie Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichte,
sehr geehrter Herr Präsident des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge,

für den RAV steht aufgrund der derzeitigen Pandemiesituation und vor dem Hintergrund der in diesem Zusammenhang bisher ergriffenen Maßnahmen fest:
Auch die Behörden und die Justiz sind in der Pflicht, Maßnahmen zu ergreifen, um die weitere Ausbreitung des Virus zu unterbinden.
Die Aufrufe zum gesellschaftlichen Zusammenhalt verlieren ihre Glaubwürdigkeit, wenn sich die Einschränkungen auf den Privatbereich fokussieren und nicht auch seitens der Behörden und der Justiz die erforderlichen Anstrengungen unternommen werden. Vor diesem Hintergrund hält der RAV u.a. folgende Maßnahmen für unabdingbar:

  • Sämtliche nicht eilbedürftigen Gerichtstermine sind unverzüglich aufzuheben.
  • Das Personalbedarfsberechnungssystem (PEBB§Y) der Justiz ist vorübergehend außer Kraft zu setzen und die Situation in den Gerichtssälen der Pandemie anzupassen.
  • Die Zustellung negativer (Asyl-)Bescheide ist bis zum Ende des harten Lockdown auszusetzen.
     

1. Zur Aussetzung aller nicht eilbedürftiger Gerichtstermine

Viele Gerichtsverhandlungen, die aufschiebbar wären, finden nach wie vor statt. Selbstverständlich müssen in Haft- und Gewaltschutzsachen, in Verfahren, die das Kindeswohl betreffen und in dringenden Betreuungsangelegenheiten auch während des Lockdown Gerichtsverhandlungen durchgeführt werden, wenn damit keine konkreten und erheblichen Gesundheitsgefährdungen einhergehen.

Hier in Rede stehen aber zahlreiche Strafverhandlungen, die keine Haftsachen sind, sowie Verhandlungen in Asylsachen und in anderen Verfahren, die bereits seit Jahren an den Verwaltungsgerichten anhängig sind und ohne Probleme verschoben werden können.

Jede Gerichtsverhandlung führt zu einer Steigerung der Gesundheitsgefährdung der Verfahrensbeteiligten. Zu jedem Gerichtstermin kommen zahlreiche Verfahrensbeteiligte, oft auch aus unterschiedlichen Regionen, die alle eine Vielzahl weiterer beruflicher und sozialer Kontakte pflegen. Gerade solche Zusammenkünfte sollen aber im Sinne des Pandemieschutzes – soweit möglich – vermieden werden. Aufschiebbare Termine sind daher aufzuheben und für die Zeit nach dem Lockdown neu zu terminieren. Selbstverständlich obliegt es jeder Richterin und jedem Richter, vor dem Hintergrund der richterlichen Unabhängigkeit diese Entscheidung zu treffen. Allerdings sollte auch seitens der Justizverwaltung ein verantwortungsvoller Umgang mit der jeweils zu treffenden verfassungsrechtlichen Abwägung in den Blick genommen werden.

Zu berücksichtigen ist auch: Der Grundsatz, ›Wir bleiben zu Hause‹, steht einer der Öffentlichkeit tatsächlich zugänglichen Gerichtsverhandlung diametral gegenüber. Dem Großteil der Bevölkerung dürfte noch nicht einmal bewusst sein, dass der Besuch einer Gerichtsverhandlung zur Sicherstellung von Öffentlichkeit einen »triftigen Grund« für das Verlassen der Häuslichkeit darstellt.

2. Zur Aussetzung des Personalberechnungssystems und Situation in den Gerichtssälen

Seitens des RAV wird nicht verkannt, dass eine Aufhebung von Gerichtsterminen im Lockdown zu Einschränkungen bei der Rechtspflege führt. Einschränkungen betreffen aber eine Vielzahl weiterer relevanter gesellschaftlicher Bereiche, wie Bildung, Kultur, Religion und spezifische wirtschaftliche Bereiche, wie etwa die Gastronomie.

Ein etwaig bestehender Erledigungsdruck für die Gerichte kann auch durch eine Aussetzung des Personalberechnungssystems PEBB§Y genommen werden.

Gerade vor dem Hintergrund, dass sich eine neue, noch ansteckendere Mutation des Virus herausgebildet hat, sind jetzt alle angehalten, ihren Beitrag zu leisten, um eine Eindämmung des Virus zu ermöglichen und damit auch eine Rückkehr zu einer Normalität in Aussicht zu stellen.

Die bisher in den meisten Gerichten ergriffenen Maßnahmen sind für den Gesundheitsschutz nicht ausreichend. So ist schon die Einhaltung der Abstandsregeln häufig nicht gewährleistet. In Anbetracht der Tatsache, dass während der Verhandlung meist vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes abgesehen wird, dürfte auch in größeren Räumlichkeiten ein effektiver Hygieneschutz nicht gegeben sein. Auch Plexiglasscheiben und -kästen schaffen nur bedingt Abhilfe. Wenn sie überhaupt vorhanden sind – was in einer Vielzahl von Gerichten nach wie vor nicht der Fall ist –, sind sie nach mehreren Seiten offen und es finden häufig Gespräche zwischen den Verfahrensbeteiligten – bspw. bei Inaugenscheinnahmen – statt, bei denen die Verfahrensbeteiligten nahe beieinander stehen.

Erschwerend kommt hinzu, dass das Wegerisiko in die Sphäre der Verfahrensbeteiligten verschoben wird. Denn aus gesetzlicher und/oder beruflicher Verpflichtung heraus besteht ein Teilnahmezwang an der Verhandlung.

3. Zur Zustellung negativer Bescheide

Darüber hinaus werden nach wie vor Ablehnungsbescheide, auch in Asylsachen, zugestellt. Während des Lockdown im Frühjahr 2020 hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Zustellung negativer Entscheidungen ausgesetzt. Zu dieser Praxis ist wieder zurückzukehren.

Für die Betroffenen ist derzeit der Zugang zu anwaltlicher Beratung oder Unterstützung durch unabhängige Beratungsstellen de facto nicht gegeben. Darüber hinaus ist eine Vielzahl von Unterkünften für Geflüchtete durch Quarantäneanordnungen abgeriegelt. Den Bewohner*innen wird ein Verlassen damit verunmöglicht.

Selbst wenn Möglichkeiten bestehen, die Unterkünfte zu verlassen, ist es aufgrund der pandemiebedingten Zugangsbeschränkungen zu den Kanzleien nahezu unmöglich, anwaltliche Vertretung zu erreichen. Selbst wenn die Betroffenen selber Klage erheben wollen, wird ihnen – die häufig in ländlichen Regionen untergebracht sind – das Wegerisiko unter Benutzung des ÖPNV zu den Rechtsantragsstellen auferlegt.

Wir fordern daher, die Zustellung negativer Bescheide insbesondere im Bereich des Asyl- und Migrationsrechts bis zum Ende des Lockdown einzustellen.

Der RAV schließt sich insofern der Forderung des Deutschen Anwaltvereins vollumfänglich an, die er in seinem fundierten Vorschlag für eine ›Verordnung zur vorübergehenden Befreiung vom Erfordernis der Nachholung eines Visumverfahrens‹ dargelegt hat.(1)

Wir erwarten von den Behörden und der Justiz, dass sie angemessen und rechtskonform auf die Pandemie reagieren. Wir erneuern daher mit diesem Appell unsere Forderungen an die Verantwortlichen, die wir bereits im März 2020 gestellt haben.(2)

Hochachtungsvoll, Ihr

Dr. Lukas Theune
Rechtsanwalt, Geschäftsführer, im Namen des Vorstandes

(1) https://anwaltverein.de/de/newsroom/dav-initiativ-sn-91-20-covid-19-vo-visumverfahren?page_n27=2
(2) https://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/corona-pandemie-auch-die-justiz-muss-umgehend-reagieren/49760e148aeeb89bb5a4bd5c52dc3533/

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