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Bereich ›Migration und Asyl‹
Koalitionsvertrag stellt nicht im Ansatz den notwendigen Systemwechsel dar

RAV-Pressemitteilung 9/21, 26.11.2021

Aus Sicht des RAV ist festzustellen: Der Koalitionsvertrag enthält im Bereich ›Migration und Asyl‹ einige Aussagen, die eine überfällige Abkehr von einer rückwärts ausgerichteten Politik darstellen. Sie stellen aber nicht ansatzweise den dringend notwendigen Systemwechsel dar.

Im 21. Jahrhundert beispielsweise Menschen nach geltendem Recht das Recht auf Arbeit gesetzlich zu verweigern, ist ein Anachronismus und fundamentaler Angriff auf die Gleichheit und Würde jedes Einzelnen. Es ist also zu begrüßen, dass durch die Ampel-Koalition Arbeitsverbote gestrichen werden sollen. Gleichwohl wird erst die Praxis zeigen, wie ernst die Streichung des Arbeitsverbots gemeint ist und ob alle Gruppen wie etwa Asylsuchende hiervon umfasst sein sollen.

Im Einzelnen

Ebenso ist positiv, dass die neue Koalition das Rechtsinstitut der ›Duldung light‹ abschaffen wird. Diese ›Duldung light‹ hat in keinem Fall zum deklarierten Ziel der Ausreise oder Abschiebung geführt. Zugleich hat sie aber massiv in menschenrechtlich geschützte Rechtgüter, wie das Recht auf Arbeit, eingegriffen.
Der RAV kritisiert aber auf das Schärfste, dass es auch unter der Ampel-Koalition weiter Duldungszeiten geben wird, die bei der Berechnung der Dauer der Aufenthaltszeit eines Menschen nicht berücksichtigt werden sollen. Dies führt dazu, dass eine Person zwar faktisch in Deutschland ist, rechtlich sich aber in einer Art Niemandsland befindet.
Die ›Duldung light‹ ist nicht nur unsinnig, sondern zog – genau wie die neu eingeführte verpflichtenden Prüfung des Widerrufs eines Schutzstatus – einen Rattenschwanz an bürokratischen Verfahren und Rechtsstreitigkeiten nach sich. In ca. 97 Prozent der sinnlos eingeleiteten Widerrufsprüfungen kommt es nicht zum Widerspruch. Es ist also zu begrüßen, dass der Koalitionsvertrag eine Abschaffung der verpflichtenden Einleitung des Widerrufsverfahrens vorsieht.

Lager und Abschiebehaft

Die Aussage des Koalitionsvertrags im Bereich Asyl zur Abkehr von den Ankerzentren ist nicht weitgehend genug. Das gesamte Konzept dieser Zentren ist radikal gescheitert. Absonderungen von Menschen über Wohnverpflichtungen in Lagern, die ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit nicht entsprechen, sind abzuschaffen.
Kinder nicht in Abschiebehaft zu nehmen, wie es im Koalitionsvertrag heißt, stellt eine Selbstverständlichkeit dar. Die überfällige, dringend notwendige grundsätzliche Reform des gesamten rechtswidrigen Systems Abschiebung bleibt aus.

Der RAV kritisiert u.a. auf das schärfste, dass in Abschiebehaftverfahren weiter keine zwingende anwaltliche Beiordnung vorgesehen ist, obwohl sich die überwiegende Mehrheit der haftrechtlichen Beschlüsse als rechtswidrig erweisen.

Im Bereich Familiennachzug enthält der Koalitionsvertrag Ansätze, die positiv zu bewerten sind. Erleichterungen in den Rechtsgrundlagen und die Abkehr von der Idee, erst im Ausland die Sprache erlernen zu müssen, statt eine schnelle Einreise und Teilnahme an Sprachkursen hier zu ermöglichen, ist zu begrüßen, wenn auch nicht weitgehend genug. Insbesondere die unerträglichen jahrelangen Wartezeiten in den Visaverfahren sind sofort zu ändern.
Erleichterungen im Bereich der Verfestigung des Aufenthalts sowie die Einführung der doppelten Staatsangehörigkeit stellen eine überfällige Reform dar. Die Regelungen sind aber nicht ausreichend, zu kritisieren ist, dass die Bleiberechtsregelung weiter an einen Stichtag anknüpft.
Der Koalitionsvertrag spricht von einer Vereinheitlichung der Rechtsprechung im Bereich Asyl. Unklar ist, was hier gemeint wird. Es darf jedenfalls auf keinen Fall darauf hinauslaufen, dass eine Tatsacheninstanz im Rechtszug entfällt.
Es liest sich zwar positiv, dass legale Einreisemöglichkeiten ausgeweitet werden sollen. Aber auch hier ist abzuwarten, ob es sich um symbolische Maßnahmen handelt oder denen, die zum Zweck der Bildung oder Erwerbstätigkeit zuwandern wollen ohne hochqualifiziert zu sein, ein faires Verfahren eröffnet wird.

Krise des europäischen Asylrechts

Die Aussagen zur europäischen Migrations- und Asylpolitik sind aus Sicht des RAV vollkommen unzureichend. Der Auslagerung des Asylrechts in Drittstaaten wird keine unmissverständliche Absage erteilt. Effektiven Rechtsschutz an den europäischen Außengrenzen gibt es nicht. Konzepten eines ›Rechtsschutz light‹ ist eine klare Absage zu erteilen. Relocation-Programme und Ressettlements sind zwar zu begrüßen. Allerdings sind diese als Antwort auf die Krise des europäischen Asylrechts unzureichend, denn sie formulieren keine transparenten und rationalen Verfahren für die Betroffenen. Nur eine ›Koalition der Willigen‹ in Europa kann und muss sich über eine Aufnahme von Schutzsuchenden in fairen Verfahren verständigen. Es gibt nur eine Antwort auf die aktuelle Krise: Aufnahme und das strikte Eintreten gegen rechtswidrige Push Backs, keine direkte und indirekte Kooperation mit Drittstaaten wie Libyen oder der Türkei.
Weiter gilt ein in Teilen verfassungswidriges Sozialrecht für Flüchtlinge. Es wird weiter Abschiebungen in Krisenländer und ausweglose Situationen geben.
Dieser Koalition ist ins Stammbuch zu schreiben: Grundrechte und Menschenrechte gelten, wenn sie für jede einzelne und jeden einzelnen gelten. Statt sie zur Disposition zu stellen, sind sie gerade in Krisenzeiten zu verteidigen.

Zusammenfassend ist festzustellen: Der Koalitionsvertrag enthält zwar positive Ansätze, verfehlt aber die grundlegend notwendige Modernisierung und den Systemwechsel im Bereich ›Migration und Asyl‹.
Entscheidend ist, ob die neue Regierung auf diese Anforderungen und auf das Sterben an den Außengrenzen und auf den Fluchtrouten nur mit Sonntagsreden oder mit menschenrechtsbasierter Politik reagieren wird.

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