Fortsetzung des Großverfahrens gegen 46 Anwältinnen und Anwälte in der Türkei
Am 28. März 2013 fand der 6. Verhandlungstag in dem Massenverfahren (sog. KÇK-Verfahren) gegen 46 überwiegend kurdische AnwältInnen in Silivri bei Istanbul statt.
Aus Deutschland waren VertreterInnen des RAV, des DAV(1) und der Berliner Strafverteidigervereinigung anwesend, die das Verfahren als Teil der internationalen Delegation, bestehend aus 41 AnwältInnen verschiedener Anwaltskammern und -organisationen, beobachteten. Es war ein historischer Tag: Zum ersten Mal konnten sich die angeklagten KollegInnen vor Gericht auf Kurdisch – ihrer Muttersprache – verteidigen. Möglich war dies durch ein erst im Februar dieses Jahres in Kraft getretenes Gesetz, welches erstmals in der Geschichte der Türkischen Republik – wenn auch eingeschränkt – die Verteidigung in der Muttersprache der Angeklagten zuließ, unabhängig vom Vorhandensein türkischer Sprachkenntnisse.
Überschattet wurde dieser historische Moment durch die Abwesenheit von neun der VerteidigerInnen der angeklagten KollegInnen. Sie waren am 18. Januar 2013 im Rahmen einer Großrazzia verhaftet worden. Hintergrund ist ein weiteres Verfahren gegen die Anwaltschaft: Dieses Mal richtet es sich gegen 16 Mitglieder des Zeitgenössischen Anwaltsvereins (ÇHD). Den im Januar Festgenommenen wird ihre berufliche Tätigkeit im Rahmen der Anti-Terror-Gesetze ebenso zum Vorwurf gemacht(2), wie auch den angeklagten KollegInnen in dem beobachteten sog. KÇK-Verfahren.
Inzwischen besteht die begründete Sorge in der Anwaltschaft, dass weitere Verhaftungen von AnwältInnen folgen werden: Ende Januar 2013 wurde Anklage gegen den Präsidenten der Istanbuler Anwaltskammer, Dr. Ümit Kocasakal, erhoben. Ihm wird Behinderung der Justiz vorgeworfen, weil er sich im Namen der Kammer für die Durchsetzung von Verteidigungsrechten in einem der sogenannten Ergenekon (nationalistischen Untergrundorganisation)-Verfahren eingesetzt hatte. Zwei weitere Ermittlungsverfahren laufen gegen den gesamten Kammervorstand.
„Der Angriff auf die Anwaltschaft wird mit einer beängstigenden Systematik und Konsequenz geführt. Es scheint, dass die gesamte politische Opposition durch die Ausschaltung ihrer Verteidigung rechtlos gestellt werden soll“, so Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, die das Verfahren in Silivri für den RAV beobachtete.
Dass die Vorwürfe ausschließlich an ihre berufliche Tätigkeit anknüpfen, legten die angeklagten KollegInnen nach 17 Monaten Untersuchungshaft an diesem 6. Hauptverhandlungstag im Rahmen ihrer Einlassung dar. Auf die Frage des Gerichts an einen der anklagten Kollegen, ob dieser in der verbotenen KCK tätig gewesen sei, antwortete er: „Wenn ich einer Organisation angehöre, dann ist es die Anwaltskammer, meine Waffen sind Stift und Zunge“.
Unhaltbar sind zudem die verfahrensrechtlichen Verstöße gegen das Beschleunigungsgebot und das Begründungserfordernis, die das Verteidigungsrecht der KollegInnen erheblich einschränken. Das Gericht verhandelt lediglich alle drei Monate für nur einen Tag. Dies führte an diesem Verhandlungstag dazu, dass sich die angeklagten KollegInnen bei ihren Erklärungen zur Sache kurz fassen mussten, damit auch die anderen Angeklagten überhaupt noch zu Wort kommen konnten. Nur 21 der 46 Angeklagten konnten sich äußern. Das Gericht vertagte sich auf den 20. Juni 2013 und verschonte drei Kollegen und eine Kollegin von der Untersuchungshaft. Eine Begründung dieser Entscheidung erfolgte - wie auch die letzten Male - nicht, obwohl die türkische Strafprozessordnung dies zwingend vorsieht. Für die internationale Beobachtungsdelegation ist daher vollkommen unklar, warum nicht alle Angeklagten haftverschont wurden.
Allein in diesem Verfahren befinden sich weiterhin 22 AnwältInnen und jetzt auch 9 ihrer VerteidigerInnen in Untersuchungshaft.
Mit der Kriminalisierung der Verteidigung werden rechtsstaatliche Grundprinzipien ad absurdum geführt. Gemäß Artikel 16 der „UN-Grundprinzipien betreffend die Rolle der Rechtsanwälte“ vom 7. September 1990 hat der Staat sicherzustellen, dass Anwältinnen und Anwälte in der Lage sind, alle ihre beruflichen Aufgaben ohne Einschüchterung, Behinderung, Schikanen oder unstatthafte Beeinflussung wahrzunehmen.
Die internationale Delegation hat ihre Forderungen nach Einhaltung dieser UN-Grundprinzipien und Freilassung der inhaftierten KollegInnen dem türkischen Justizministerium in einer Petition am 29. März 2013 zur Kenntnis gebracht(3). Eine Reaktion der türkischen Regierung erfolgte bisher nicht.
Bei Rückfragen stehen Ihnen Rechtsanwältin Schönberg (Berliner Strafverteidigervereinigung e.V.; Tel.: 030-6937086) und Rechtsanwältin Nedelmann (RAV e.V.; Tel.: 030-54716772) zur Verfügung.
PM_Anwaltschaft in Gefahr: Die Verteidigung der Verteidigung in Haft (PDF)
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(1) Vgl. auch: http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-1113?PHPSESSID=0fq3vb0se4s5iaeo7n3qjpjki1
(2) Vgl. PE vom 25.01.2013 http://anwaltverein.de/interessenvertretung/pressemitteilungen/pm-0313
bzw.
http://www.rav.de/publikationen/mitteilungen/mitteilung/erneute-massenverhaftung-von-rechtsanwaeltinnen-und-rechtsanwaelten-in-der-tuerkei-281/page1/
(3) http://www.advocatenvooradvocaten.nl/wp-content/uploads/petition29March2013-1.pdf