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Rechte Gewalt in Deutschland

Eine Bestandsaufnahme

ANDREA HÜBLER

Rechte Gewalt ist in der Bundesrepublik Deutschland kein Randphänomen, sondern ein Problem von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. Zehntausende solcher Gewalttaten seit der Wiedervereinigung – darunter mindestens 169 Tötungen – zeigen, dass es sich um ein andauerndes Phänomen handelt. In den zurückliegenden Jahren haben die ›Beratungsstellen für Betroffene rechtsmotivierter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‹ immer wieder auf die Zunahme insbesondere rassistischer Angriffe aufmerksam gemacht. 782 rechtsmotivierte Angriffe zählten die Beratungsstellen für das Jahr 2014 allein in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin. In 60 Prozent der erfassten Fälle spielten rassistische Tatmotive eine zentrale Rolle. Dabei war eine Zunahme der rassistischen Gewalttaten um 30 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen. Konstatierten die Beratungsstellen im vergangenen Jahr, dass ein Ende der Welle rassistischer Gewalt nicht absehbar ist, so hat das Jahr 2015 diese Befürchtung bestätigt.

BUNDESWEIT MASSIVER ANSTIEG RECHTER GEWALT 

2015 folgte ein Angriff auf den nächsten. Es traf Migrantinnen und Migranten, Asylsuchende oder deren Unterkünfte. Insbesondere das Bundesland Sachsen geriet dabei mit Ausschreitungen – wie in Freital Ende Juni, in Dresden Ende Juli und in Heidenau Ende August – immer wieder in die bundesweiten und zum Teil internationalen Schlagzeilen. Doch nicht nur hier nahm die Zahl rechtsmotivierter und rassistischer Angriffe erschreckende Ausmaße an. Anhaltende rassistische Proteste gegen Flüchtlinge und ihre Unterkünfte, die Aufmärsche von Pegida und ihren Ablegern in nahezu allen Bundesländern, der Mangel an dezentralen Unterbringungsmöglichkeiten sowie eine gesellschaftliche Debatte, die Flüchtlinge eher als Problem denn als Schutzsuchende darstellt, tragen dazu bei, dass es keine sicheren Orte für Flüchtlinge in Deutschland gibt.
Die Zahl der Angriffe hat in allen Bundesländern diejenige von 2014 bei Weitem überschritten. Insgesamt haben sich die Angriffe 2015 nahezu verdoppelt. Das Gewaltpotential ist dabei gefährlich angestiegen. Zunehmend wurden Waffen, Sprengstoffe und Brandsätze eingesetzt. Täterinnen und Täter nahmen immer häufiger tödliche Verletzungen in Kauf. Auch Helfende und Menschen, die mit der Unterbringung von Geflüchteten befasst sind, JournalistInnen und PolitikerInnen rückten 2015 in den Fokus, wurden massiv bedroht und angegriffen.
Die ›Beratungsstellen für Betroffene rechtsmotivierter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‹ haben es sich zur Aufgabe gemacht, Betroffene rechter Gewalt und ihr soziales Umfeld bei der Bewältigung der Angriffsfolgen zu unterstützen und ihre Handlungsfähigkeit zu stärken. Darüber hinaus ist es ihr erklärtes Ziel, gesellschaftlich zu intervenieren. Im Sinne einer Einmischungsstrategie haben die Beratungsstellen eine über den Einzelfall hinausreichende Aufgabe: Sie tragen dazu bei, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Positiven zu verändern, die darauf Einfluss nehmen, dass marginalisierte Gruppen Ziel von Gewalt und Ausgrenzung werden. Ein Mittel zur Umsetzung dieser gesellschaftlichen Aufgabe ist das kontinuierlich betriebene Monitoring der Beratungsstellen. Angriffe werden aktiv recherchiert und dokumentiert. Konnten diese Aufgabe neben der Beratung von Betroffenen in den vergangenen Jahren nur die Beratungsstellen in den ostdeutschen Bundesländern und Berlin nachkommen, legt mit Nordrhein-Westfalen (NRW) erstmalig auch ein westdeutsches Bundesland Zahlen zur Angriffssituation vor. Beratungsprojekte befinden sich in den alten Bundesländern noch immer im Aufbau, die Ressourcen reichen für ein belastbares Monitoring nicht aus. Wie wichtig die bessere Ausstattung der neuen Projekte jedoch ist, zeigen u.a. die vorgelegten Zahlen aus NRW. 278 rechtsmotivierte Angriffe wurden im bevölkerungsreichsten Bundesland gezählt, 1.702 sind es damit in der Summe.

RASSISTISCHE GEWALT VOR ALLEM GEGEN GEFLÜCHTETE GERICHTET 

Rassismus ist seit einigen Jahren das häufigste Tatmotiv rechtsmotivierter Gewalttaten. Im Jahr 2015 nahm die Zahl rassistisch motivierter Angriffe erneut drastisch zu. Die Beratungsstellen des ›Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‹ (VBRG) gehen von mindestens 1.031 rassistisch motivierten Gewalttaten für 2015 aus. Sachsen ist bundesweiter Schwerpunkt, gefolgt von NRW und Berlin. Dabei handelt es sich vor allem um Körperverletzungsdelikte.
Insbesondere Geflüchtete wurden immer wieder angegriffen, auf der Straße, in öffentlichen Verkehrsmitteln oder im Umfeld ihrer Unterkunft. Auf Asylunterkünfte wurden im letzten Jahr zahlreiche Brandanschläge verübt. Dabei nahmen die Täterinnen und Täter sowohl bewohnte, als auch unbewohnte Häuser ins Visier. Die Liste der Orte ist inzwischen lang: Tröglitz (Sachsen-Anhalt), Meißen (Sachsen), Reichertshofen (Bayern), Nauen (Brandenburg), Boizenbug (Mecklenburg-Vorpommmern), Bischhage (Thüringen), Fredenbeck (Niedersachsen) oder Altena (NRW). Aus allen Bundesländern – von Baden-Württemberg bis Sachsen, von Bayern bis Schleswig-Holstein – konnte man diese Nachrichten vernehmen. Dabei erreichten ›nur‹ die drastischen Fälle bundesweite Aufmerksamkeit. Die dutzenden versuchten Brandstiftungen, bei denen Brandsätze rechtzeitig entdeckt und gelöscht werden konnten oder gar von selbst erloschen, fanden hingegen wenig Beachtung. Zeit-online zählte bis Ende Oktober 93 versuchte und vollendete Brandstiftungen.(1) Die Opferberatungsstellen des VBRG haben 2015 für die ostdeutschen Bundesländer, Berlin und NRW 146 Angriffe auf Asylunterkünfte gezählt, darunter 45 Brandanschläge.
In keinem anderen Bundesland wurden so viele Brandanschläge auf Asylunterkünfte gezählt, wie in NRW und Sachsen. Vor allem bei der Zahl von Angriffen auf Asylunterkünfte insgesamt sticht Sachsen hervor. In 74 Fällen wurden in dem Freistaat im äußersten Osten zentrale und dezentrale, bewohnte und unbewohnte Unterkünfte angegriffen: u.a. mit Steinen, Böllern, Sprengstoff und Brandsätzen. In mindestens fünf Fällen belagerte ein Mob aus Nazis, Rassisten und Hooligans wie in Heidenau die Unterkunft für Geflüchtete. Sie blockierten die ankommenden Flüchtlinge in ihren Bussen, warfen Steine und Flaschen, schossen Pyrotechnik. Dies ist ein Vorgehen, das bisher in dieser drastischen Form nur in Sachsen vorkam. Wiederholt war dort die Polizei nicht in der Lage oder willens, die Sicherheit der ankommenden Geflüchteten in neu eröffneten Unterkünften zu gewährleisten.
Für die Betroffenen ist die erlebte Gewalt kaum zu verstehen. Um Sicherheit und Schutz zu finden, sind sie nach Deutschland geflüchtet. Dass sie hier angegriffen und verletzt werden, dass ihnen so viel Hass entgegen schlägt, damit haben sie nicht gerechnet. Dieses Empfinden macht die Verarbeitung des Erlebten für die Betroffenen besonders schwer. Wenn ihnen dann Ignoranz, gar Schuldzuweisungen durch Polizei, politische Verantwortungsträgerinnen und -träger oder Gesellschaft entgegenschlagen, sind die emotionalen Folgen häufig massiv. Verschärft wird die psychische Situation Geflüchteter noch durch ihre Fluchterfahrung oder Traumata aus der Heimat, aber auch durch ihren aufenthaltsrechtlichen Status. Die Unsicherheit durch drohende Abschiebung oder die  fehlende Bewegungsfreiheit steht oftmals für die Betroffenen im Mittelpunkt und kann die Verarbeitung des Erlebten behindern. Können Betroffene mit deutschem Pass sich ihren Wohnort frei auswählen, ist es für Geflüchtete nicht möglich, einfach umzuziehen, nachdem sie in ihrer Wohnung angegriffen wurden. Sie dürfen auch nicht einfach die Stadt verlassen, in der sie sich aufgrund der erfahrenen Gewalt nicht mehr auf die Straße trauen. Eine durch verbreiteten Rassismus begründete Bedrohungslage reicht den Behörden nicht als hinreichender Grund für einen Umverteilungsantrag aus, der es einem Geflüchteten ermöglichen würde, seinen Wohnort zu wechseln.
Die drastische Zunahme rassistisch motivierter Gewalt bundesweit ist besorgniserregend. Dass dabei zunehmend der mögliche Tod der Betroffenen in Kauf genommen wird, ist alarmierend. Das Gewaltpotential der Täterinnen und Täter stieg mit der zunehmend aggressiver geführten Debatte über die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland. War ›Asyl‹ das bestimmende Thema im Jahr 2015, so ist spätestens im Sommer die Polarisierung der Gesellschaft entlang dieser Thematik offensichtlich geworden: auf der einen Seite Brandsätze auf Unterkünfte und ein rassistischer Mob, der die Ankunft von Geflüchteten zu verhindern sucht – auf der anderen Seite die zelebrierte Willkommenskultur an Bahnhöfen und Angela Merkels ›Wir schaffen das‹. In dieser zugespitzten Stimmung wurden rassistische Positionen auf verschiedensten Ebenen zunehmend aggressiv geäußert – ob in Kommentaren bei Facebook, auf Kundgebungen gegen die Eröffnung einer Asylunterkunft oder bei Pegida und Co. Die dauerhafte Hetze ließ die Hemmschwelle sinken und Worte in die Tat umsetzen und mancherorts alle Dämme brechen. Fehlt es dann an öffentlich wahrnehmbarer Ächtung der Taten durch Politik und Gesellschaft, fühlen sich nicht nur die Täter bestätigt, sondern ermuntern auch jene zu solchen Taten, die bis dahin noch nicht zur Gewaltanwendung bereit waren. Dass ein Demonstrant bei Pegida in Dresden angesichts des Brandanschlags auf eine geplante Unterkunft in Bautzen am 21. Februar 2016 der Zeitung Die Welt(2) gegenüber äußerte, dass das Anzünden noch unbewohnter Unterkünfte Inbegriff direkter Demokratie sei, ist ein deutliches Zeichen für das grassierende Unrechtsbewusstsein in einem inzwischen offen rassistischen Klima in Teilen der Gesellschaft.

GEWALT GEGEN POLITISCHE GEGNERINNEN UND GEGNER

Ein solches Unrechtsbewusstsein, das gepaart ist mit der Haltung, dass Meinungsfreiheit gleichbedeutend sei mit Widerspruchsfreiheit, und ›Wir sind das Volk‹ tatsächlich bedeute, dass Pegida und Co. allein das ganze Volk vertreten, hat im letzten Jahr die diffamierenden Bezeichnungen als ›Gutmenschen‹, ›Volksverräter‹ und ›Lügenpresse‹ hervorgebracht. So richtet sich die Hetze zunehmend gegen all jene, die sich für Geflüchtete engagieren oder gegen Rassismus positionieren, aber auch gegen politische Verantwortungsträger, wie Bürgermeister oder Stadträte, sowie gegen Journalistinnen und Journalisten. In Kommentaren bei Facebook werden Menschen aufgrund ihres Engagements bedroht, im Umfeld von Demonstrationen angegriffen, in ihren Wohnorten angefeindet, auch Brand- und Sprengstoffanschläge wurden verübt. Ziele waren dabei Autos und Parteibüros, aber auch Wohnungen und linke Hausprojekte. Journalistinnen und Journalisten wurden mit Gewalt an ihrer Berichterstattung von Demonstrationen, wie Xgida oder ›Nein zum Heim xy‹, gehindert.
Ein solches Ausmaß an Gewalt gegen politische Gegnerinnen und Gegner ist neu. In den vergangenen Jahren richteten sich gerade einmal halb so viele Angriffe gegen diese Betroffenengruppe. Dieser Anstieg ist mit der massiven Hetze zu erklären, die im Internet und auf Kundgebungen und Demonstrationen gegen Linke, Antirassistinnen und Antirassisten, Engagierte, Politikerinnen und Politiker, Helfende des DRK und des THW und gegen Journalistinnen und Journalisten betrieben wurde und auch hier die Hemmschwelle, den Hass in die Tat umzusetzen, sinken ließ. Diese Angriffe zeigen in besonderem Maße, wie sich rechte Gewalt nicht nur gegen Individuen und Gruppen richtet, sondern gegen die Grundwerte der Gesellschaft: Meinungsfreiheit, -vielfalt und -streit sowie Pressefreiheit.

FAZIT

Ein großer Teil der rechtsmotivierten Angriffe 2015 stand im Zusammenhang mit dem Thema ›Asyl‹. Sei es, dass sich Attacken gegen die Geflüchteten selbst oder gegen deren Unterkünfte richteten, sei es, dass Unterstützende, AntirassistInnen oder PolitikerInnen und JournalistInnen ins Visier der Täter gerieten. Die zugespitzte, teils offen rassistisch geführte Debatte um die Aufnahme von Geflüchteten ließ nicht erst seit letztem Jahr ein Klima entstehen, aus dem Rassistinnen und Rassisten sowie Neonazis motiviert und bestärkt hervorgehen. Unzählige Demonstrationen und Kundgebungen bundesweit, Tausende Facebook-Gruppen, Pegida und AfD heizen die Stimmung an. Die Parallelen zu den 1990er Jahren, den Pogromen von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, wurden in den zurückliegenden Monaten mehrfach gezogen, v.a. angesichts eines rassistischen Mobs in Freital, Heidenau oder Clausnitz. Um zu verhindern, dass es tatsächlich zu Pogromen kommt, dass Menschen ihr Leben verlieren, bedarf es einer eindeutigen Antwort: Solidarisierung mit den Betroffenen, eine klare Ächtung von rassistischer Hetze und Gewalt, Stärkung der demokratisch, menschenrechtsorientiert und antirassistisch Engagierten, eine unmissverständliche Positionierung politischer Entscheidungsträger aller Ebenen auf Seite der Betroffenen und gegen die Täter, ein schnelles und konsequentes Vorgehen von Polizei und Justiz.
Asyl ist ein Menschenrecht und für die Menschenrechte einzustehen, ist wichtiger denn je: angesichts Pegida und Co., die diese Rechte mit Füßen treten; angesichts ›besorgter Bürger‹, die diesen mit purer Ignoranz begegnen; angesichts einer deutschen Asylpolitik, die mit Asylpaketen agiert; angesichts einer europaweiten staatlichen Asylpolitik, die mit Obergrenzen, Kontingenten und Grenzschließungen arbeitet; und angesichts einer europäischen Asylpolitik, die mit fortschreitender Abschottung die Menschenrechte Schritt für Schritt aushebelt.

Andrea Hübler ist Mitglied im ›Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‹ (VBRG) in Berlin.

Fußnoten
(1)  http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-11/rechtsextremismus-fluechtlingsunterkuenfte-gewalt-gegen-fluechtlinge-justiz-taeter-urteile.
(2)  http://www.welt.de/politik/deutschland/article152541347/Pegida-Anhaenger-loben-Vorfaelle-in-Bautzen-und-Clausnitz.html.