Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeSonderBrief Rassismus & Recht 2016 > Eile mit Weile

Eile mit Weile

Das niederländische allgemeine Asylverfahren

IGNA OOMEN 

Seit 2011 scheint ›Geschwindigkeit‹ das Schlüsselwort im niederländischen Asylverfahren zu sein. Dennoch müssen neu ankommende Asylsuchende immer noch bis zu sechs Monate warten, bis sie eine Antwort auf ihren Antrag auf Schutzgewährung bekommen. Das niederländische Asylverfahren hat viele Veränderungen erlebt, die immer auf noch schnellere Verfahren abzielten. Die letzte Reform, die der Bewältigung der steigenden Zahlen(1) von Asylbewerbenden dienen soll, wurde im November letzten Jahres angekündigt,(2) ist aber noch nicht in Kraft. In diesem Artikel werde ich mich auf das niederländische allgemeine Asylverfahren seit 2010 konzentrieren und darstellen, wie dieses seitdem beschleunigt wurde. Zur besseren Verständlichkeit werde ich zunächst einige grundlegende Prinzipien des niederländischen Ausländerrechts einführen.
Ich werde das allgemeine Asylverfahren (algemene Asielprocedure) und das verlängerte Asylverfahren (verlengde Asielprocedure) und jeweils deren Vorteile und Mängel beschreiben. Wegen der steigenden Zahl von Asylbewerbenden im Laufe des letzten Jahres scheinen sich mehrere besorgniserregende Veränderungen in das sorgfältig entworfene allgemeine Asylverfahren ›eingeschlichen‹ zu haben.  Wenngleich das niederländische Verfahren als sehr schnell bekannt ist, müssen viele Asylsuchende Monate warten, bis sie eine Entscheidung über ihren Antrag erhalten. Ich werde erklären, warum. Zu guter Letzt werde ich einige Vermutungen zu der vor kurzem angekündigten unterschiedlichen Behandlung von fünf Fallgruppen anstellen.(3) Die Behandlung der Dublin-Verfahren, der Situation unbegleiteter minderjähriger MigrantInnen oder von Folgeanträgen würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. 

KURZE GESCHICHTE DES NIEDERLÄNDISCHEN AUSLÄNDERRECHTS UND EINIGE ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE 

Im Jahr 2000 wurde das niederländische Ausländergesetz (Vreemdelingenwet) komplett umgeschrieben. Das neue Ausländergesetz trat im April 2001 in Kraft. Bis zu diesem Zeitpunkt dauerten die meisten Einwanderungsverfahren viele Jahre. Hauptziel des neuen Gesetzes war es, schnelle, aber dennoch sorgfältige Verfahren einzuführen. Nach dem Ausländergesetz von 2000 gibt es nur zwei Arten von AusländerInnen: Asylsuchende und gewöhnliche MigrantInnen.(4) In diesem Artikel werde ich mich auf die Stellung von Asylsuchenden und die für sie vorgesehenen Verfahren konzentrieren.
Zuständige Behörde für Migrationsfragen ist ein Staatssekretär im Ministerium für Sicherheit und Justiz.(5) Eine besondere Behörde, der Einwanderungs- und Einbürgerungsdienst (Immigratie- en Naturalisatie Dienst, IND), behandelt alle Migration betreffenden Verfahren. Sowohl Flüchtlinge als auch Personen, denen subsidiärer Schutz(6) zusteht, fallen unter den niederländischen Begriff Asyl(suchende). Asylsuchende müssen nur einen Antrag stellen, im Verfahren werden dann beide Aspekte berücksichtigt. Sobald festgestellt ist, dass AusländerInnen entweder Flüchtlinge oder subsidiär schutzberechtigt sind, werden diesen AusländerInnen gleiche Rechte auf einen Aufenthaltstitel, Familienzusammenführung, Ausbildung, Wohnraum, Arbeit usw. gewährt.
Während des laufenden Verfahrens zur Entscheidung über einen (ersten) Asylantrag haben die Antragstellenden das Recht auf Unterkunft und Versorgung in einer Aufnahmeeinrichtung (AsielZoekersCentrum oder AZC). Eine Entscheidung über einen Asylantrag soll nicht länger als sechs Monate dauern. Eine Ablehnung des Antrags wird als ›weitergehende Entscheidung‹ verstanden, die dann nicht nur das Ende des Asylverfahrens umfasst, sondern auch zum Erlöschen des Rechts auf Unterbringung und Versorgung führt, das während des laufenden Verfahrens noch bestanden hatte. Gegen die Ablehnung kann Rechtsmittel zum Gericht eingelegt werden. Wird hierfür eine bestimmte Frist eingehalten (die von 24 Stunden bis zu sieben oder 28 Tagen variieren kann), können die Antragstellenden in der Regel bis zum Abschluss des gerichtlichen Verfahrens in der Aufnahmeeinrichtung bleiben. Wird ein Aufenthaltstitel gewährt, ist dieser zeitlich begrenzt und fünf Jahre gültig. Nach fünf Jahren kann ein dauerhafter Aufenthaltstitel erlangt werden. Obwohl dieses Verfahren bereits sehr effizient war, empfanden die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in den Niederlanden es als noch nicht schnell genug. Daher wurde im Sommer 2010 ein noch schnelleres Asylverfahren eingeführt.

EIN VERFAHREN IN ACHT TAGEN 

Das allgemeine Asylverfahren dauert seitdem nur noch acht Tage bis zur Entscheidung über den Asylantrag. Wie man sich vorstellen kann, kann ein solch schnelles Verfahren sehr anstrengend(7) für Asylsuchende sein. Daher wird in Holland ankommenden Antragstellenden eine Zeit von mindestens sechs Tagen gewährt, um ›sich auszuruhen und vorzubereiten‹, bevor das allgemeine Asylverfahren beginnt. In dieser Zeit werden die Asylsuchenden in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht. Sie erhalten Informationen über das Asylverfahren und werden medizinisch untersucht, um sicherzustellen, dass sie geistig und körperlich in der Lage sind, das Verfahren zu beginnen. Zu guter Letzt treffen sich die Antragstellenden hier das erste Mal mit der Rechtsanwältin bzw. dem Rechtsanwalt,(8) die bzw. der sie im allgemeinen Asylverfahren unterstützen wird.
Als das Acht-Tage-Verfahren entwickelt wurde, war das Prinzip der ›Waffengleichheit‹ ein wesentlicher Ausgangspunkt. Nach einer kurzen Erfassung(9) sollte Asylsuchenden gestattet sein, eine Anwältin oder einen Anwalt zu konsultieren, bevor das eigentliche Acht-Tage-Verfahren beginnt. In der Theorie würde diese Rechtsvertretung in dieser Zeit die Antragstellenden vorbereiten, sie bei der Zusammenstellung aller notwendigen Dokumente beraten und alle notwendigen medizinischen Informationen sammeln. Das erste Treffen soll in der Anwaltskanzlei stattfinden, damit die Antragstellenden sehen, dass die Rechtsvertretung vollständig unabhängig von den niederländischen Behörden arbeitet.

Allen Asylsuchenden wird kostenlose Rechtsberatung durch spezialisierte RechtsanwältInnen angeboten. Die Kosten werden als ›fixe Gebühren‹ für maximal zwölf Stunden im Verlauf des Allgemeinen Asylverfahrens übernommen. In der Regel erfordert eine angemessene Vertretung der MandantInnen aber mehr Arbeitsstunden für die AnwältInnen. Die relevanten Dokumente werden vom IND zusammengestellt, übersetzt und ihre Authentizität von Fachleuten des IND und der Polizei überprüft. Das Acht-Tage-Verfahren wird in vier Antrags-Zentren durchgeführt, die über das Land verteilt sind.(10) Während der Wartezeit vor dem Verfahren und während des Verfahrens werden die Antragstellenden in, oder in der Nähe von, den Antrags-Zentren untergebracht. Diese Unterkünfte sind sehr schlicht und nicht für einen dauerhaften Aufenthalt eingerichtet.(11) Während des eigentlichen Verfahrens werden die Antragstellenden jeden Tag früh am Morgen per Bus von der Unterkunft zum Antrags-Zentrum gebracht, wo sie den größten Teil des Tages im Wartebereich verbringen, bis sie entweder vom IND oder von Ihrer Rechtsvertretung für den nächsten Verfahrensschritt aufgerufen werden.
Das Asylverfahren besteht im Wesentlichen aus zwei Anhörungen,(12) die beide vom IND durchgeführt werden. Die erste Anhörung markiert den Beginn des Acht-Tage-Verfahrens und dient dazu, Informationen zur Identität und der Reiseroute der Antragsstellenden zu sammeln. Nach dem Gesetz ist es nicht zulässig, in dieser ersten Anhörung Fragen zu den Motiven für das Verlassen des Herkunftslandes zu stellen. Wenngleich dieser Grundsatz nicht offiziell abgeschafft wurde, versucht in der Praxis der IND so viele Informationen wie möglich zu sammeln, bevor die Asylsuchenden irgendwelche Informationen von ihrer Rechtsvertretung oder vom Flüchtlingsrat, einer mit Deutschland vergleichbaren NGO, erhalten können. Seit 2014 führt der IND zudem bereits bei der ersten Registrierung ›Antrags‹-Anhörungen durch, die viel mehr als nur grundlegende persönliche Daten betreffen. Fragen zu  Reiserouten und zu vorherigem Militärdienst(13) sind die Regel.
Die zweite Anhörung ist die Haupt-Anhörung. In ihr werden die Antragstellenden zu den Motiven und Gründen befragt, die sie dazu gebracht haben, ihr Herkunftsland zu verlassen. Diese Anhörung wird am dritten Tag des Verfahrens durchgeführt. Beamte vom IND fertigen auf Grund jedes Interviews einen Bericht an. Am zweiten und vierten Tag werden diese Berichte von Antragstellenden und Rechtsvertretung überprüft und korrigiert. Die Berichte, weitere Dokumente und relevante Informationen zum Herkunftsland werden vom IND bei der Entscheidung über den Antrag zu Grunde gelegt. Der IND führt dabei eine umfangreiche Überprüfung der ›Glaubhaftigkeit‹ durch.(14)
Wenn die Angaben der Antragstellenden als glaubhaft eingestuft und ihre Befürchtungen als ausreichend schwerwiegend betrachtet werden, wird dem Antrag stattgegeben. Dies kann am fünften Tag geschehen (oder, nach einer ersten Ablehnung, nach erneuter Überprüfung am siebten Tag). Die Antragstellenden werden in eine für den längeren Aufenthalt geeignete Aufnahmeeinrichtung verbracht, wo sie auf die Zuweisung einer Unterkunft warten. In einigen Fällen entscheidet der IND, dass der Fall zu komplex ist, um ihn im allgemeinen Asylverfahren durchzuführen – etwa weil Dokumente weiter überprüft werden müssen, weil weitere medizinische oder psychologische Untersuchungen durchgeführt werden müssen, oder weil weitere Informationen zum Herkunftsland gebraucht werden. In diesem Fall wird das Verfahren in das verlängerte Asylverfahren überführt. Auch dann soll im Prinzip eine Entscheidung immer noch innerhalb von sechs Monaten nach Antragstellung gefällt werden. Die Antragstellenden, deren Verfahren ins verlängerte Asylverfahren überführt wurden, werden ebenfalls in eine für längeren Aufenthalt geeignete Aufnahmeeinrichtung gebracht.(15)
Ein Antrag kann auch scheitern. Der IND wird in diesem Fall eine begründete ›erste Ablehnung‹ übersenden, in der er erklärt, warum die jeweils Antragstellenden nicht schutzberechtigt sind. In der Regel liegt dies an fehlender Glaubhaftigkeit. Bevor diese Entscheidung rechtskräftig wird, haben die Antragstellenden (d.h. ihr Rechtsbeistand) die Gelegenheit, eine Stellungnahme einzureichen.(16) In dieser wird begründet, warum es bei der ersten Ablehnung nicht bleiben darf, werden die Argumente des IND widerlegt, weitere Erklärungen oder Beweismittel angebracht.
Da RechtsanwältInnen in der Regel drei KlientInnen pro Schicht betreuen, ist die Frist von (nur) einem Tag zur Einreichung einer solchen Stellungnahme oft zu kurz. Insbesondere lässt das 8-Tage-Verfahren nicht viel Zeit für medizinische Untersuchungen.(17) Der IND ordnet selten eine solche Untersuchung an. Wenn die Antragstellenden weiter untersucht werden müssen (oder sonstige Sachverständigengutachten erforderlich sind), scheut der IND oft davor zurück, den Fall in das verlängerte Verfahren zu überweisen. Stattdessen lehnt er dann den Antrag ab und wartet ab, ob das Gericht dem entgegentritt. Am siebten Tag überdenkt der IND entweder seine erste Entscheidung oder hält an dieser fest.
Einige Anträge werden also am siebten Tag des Verfahrens abgelehnt. Die Antragstellenden sind in diesem Fall verpflichtet, das Land innerhalb von 28 Tagen zu verlassen. Am achten Tag kann ein Rechtsmittel beim erstinstanzlichen Gericht eingelegt werden, dieses wiederum muss dann innerhalb von 28 Tagen entscheiden. Während dieser Zeit verbleiben die Antragstellenden in der einfachen Unterbringung.
Antragstellende, deren Rechtsmittel vom Gericht zurückgewiesen wurden, verlieren jedes Recht auf Unterbringung. Kehren sie nicht rechtzeitig, also innerhalb von 28 Tagen (in besonderen Fällen in kürzerer Frist),(18) in ihre jeweiligen Heimatländer zurück, werden sie aus der Unterbringung geworfen und landen auf der Straße. Die Gemeinden unterhalten Notfallunterkünfte, in denen diese gescheiterten Asylsuchenden die Nacht verbringen und einige Mahlzeiten einnehmen können. Familien mit minderjährigen Kindern werden in sogenannte ›Ausreiselager‹ gesandt, in denen sie bleiben dürfen, bis sie das Land verlassen oder das jüngste Kind 18 Jahre alt wird. Das Leben in diesen Lagern ist sehr eingeschränkt, BewohnerInnen haben kein Recht zu arbeiten, bis zu vier Personen müssen sich ein Zimmer teilen, sie haben kein ausreichendes Einkommen, nur minderjährige Kinder dürfen zur Schule gehen, während für Erwachsene tägliche Meldepflichten bestehen.
Gegen eine negative Entscheidung des Gerichts kann innerhalb von sieben Tagen Rechtsmittel zur Verwaltungsrechtsabteilung des Staatsrats (Raad van State) eingelegt werden. Während dieses Verfahrens besteht kein Anspruch auf Unterbringung. Am Flughafen Schiphol findet ebenfalls das Acht-Tage-Verfahren statt, allerdings sind die Antragstellenden während dieses Verfahrens inhaftiert. Anträge von Familien mit Kindern werden nicht in der Einrichtung am Flughafen behandelt.

WEITERE BESCHLEUNIGUNG 

Üblicherweise bedeuteten die acht Tage im Verfahren bisher Werktage,(19) die jeweils um 23:59 Uhr endeten. Angesichts der deutlich gestiegenen Zahlen von Asylbewerberinnen und Asylbewerbern im letzten Jahr hat der IND entschieden, auch an den Wochenenden zu arbeiten. Das bedeutet natürlich, dass dann, wenn eine erste Zurückweisung (fünfter Tag) an einem Samstag erfolgt, Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen am Sonntag arbeiten müssen, um die Stellungnahme zu verfassen. 

AUFTEILUNG IN FÜNF KATEGORIEN MIT GESONDERTEN VERFAHREN 

Ende November 2015 war klar, dass viele weitere zukünftige AntragstellerInnen ankommen würden. Der Staatssekretär nahm an, dass die Zahl der Asylsuchenden die Kapazitäten der Aufnahmeeinrichtungen bei weitem übersteigen würde. Ihm zufolge erforderte dies weitere Maßnahmen. Der Staatssekretär hat fünf Fallgruppen von Asylanträgen definiert, die jeweils ein für sie eigenes Verfahren bekommen werden:
Fallgruppe 1 sind Anträge, die wahrscheinlich scheitern werden, etwa in ›Dublin-Fällen‹.
Fallgruppe 2 sind Anträge, die wahrscheinlich scheitern werden, weil die Antragstellenden aus einem ›sicheren Herkunftsland‹ kommen oder eine inländische Fluchtalternative besteht.
Fallgruppe 3 umfasst Anträge, die wahrscheinlich erfolgreich sein werden, etwa im Falle von syrischen Flüchtlingen mit allen Dokumenten,20 palästinensischen Flüchtlingen aus Syrien oder Flüchtlingen aus Eritrea. Dieser Fallgruppe wird im Verfahren keine kostenlose Rechtsberatung gewährt.
Fallgruppe 4 umfasst alle ›normalen‹ Fälle. Diese werden im derzeitigen Acht-Tage-Verfahren behandelt.
Fallgruppe 5 umfasst Anträge, die wahrscheinlich erfolgreich sein werden, aber weitere Nachforschungen erfordern, weil keine ausreichenden Dokumente zur Identität und Nationalität der Antragstellenden vorliegen.
Während der ersten ›Antrags‹-Anhörung stellt der IND fest, in welche Fallgruppe die Antragstellenden gehören. Zu diesem Zeitpunkt haben die Antragstellenden sich noch nicht mit einer Rechtsvertretung beraten und haben auch noch keine Informationen über das weitere Verfahren erhalten. Werden die Antragstellenden in Fallgruppe 3 eingeordnet, endet diese Anhörung mit einigen allgemeinen Fragen zu den Asylgründen. Wenn alles gut ausgeht, erhalten die Antragstellenden sofort einen Aufenthaltstitel. Das wäre natürlich sehr angenehm für sie. Die Anwaltsverbände(21) sind angesichts der Einführung dieser Fallgruppen dennoch besorgt, insbesondere hinsichtlich der Abschaffung von kostenloser Rechtsberatung in Fallgruppe 3.
Die Annahme, dass ein Antrag wahrscheinlich erfolgreich sein wird, wird sich nicht immer in einer positiven Entscheidung niederschlagen. Es mag sein, dass die Antragstellenden während der Anhörung, auf die sie nicht vorbereitet sind, Äußerungen tätigen,(22) die beim IND Zweifel oder einen Verdacht wecken. In solchen Fällen wird der Antrag in das allgemeine Asylverfahren überwiesen und ein Anwalt bzw. eine Anwältin beigeordnet. Aber die vorherigen Angaben bleiben im Raum. Und selbst wenn der Antrag bewilligt wird, war das Verfahren weder vollständig noch sorgfältig. Ohne anwaltlichen Beistand wird der Bericht von der Anhörung nicht überprüft, so dass unklar bleibt, ob alle Äußerungen richtig wiedergegeben und alle relevanten Fragen angesprochen wurden. Ein gewährter Aufenthaltstitel ist zeitlich begrenzt und kann daher auch widerrufen werden. In einem Widerrufsverfahren ist es wichtig, dass alle relevanten Informationen bekannt sind. Haben Antragstellende ›vergessen‹, bestimmte Tatsachen zu benennen, wird es sehr schwierig werden, diese Jahre später nachzureichen.(23) Bisher ist unbekannt, wann mit der unterschiedlichen Behandlung der Fallgruppen begonnen werden soll. Trotz umfangreicher Lobbyarbeit ist der Vorschlag des Staatssekretärs aber vom Parlament angenommen worden.

WARUM ANTRAGSTELLENDE IMMER NOCH SECHS MONATE WARTEN 

Wenn auch das Acht-Tage-Verfahren sehr effektiv erscheinen mag, enthält es doch sehr komplexe logistische Aspekte und viele Organisationen sind beteiligt.(24) Antragstellende müssen registriert werden, Dokumente müssen überprüft, medizinische Untersuchungen durchgeführt werden, sie brauchen einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung, SprachmittlerInnen müssen gebucht, AnwältInnen beigeordnet, Fallakten komplettiert werden usw. All dies muss vollständig und fertig sein, bevor mit den acht Tagen begonnen werden kann. Dies kann in einer angemessenen Zeit geschehen, wenn die Zahl der Asylsuchenden nicht zu groß ist. Der IND konnte aber den plötzlichen Anstieg der Antragszahlen nicht handhaben und scheiterte selbst an den ersten Registrierungen dieser Personen. Die Polizei hatte nicht genug Fachleute, die alle Dokumente in angemessener Zeit hätten überprüfen können, es gab nicht genug (qualifizierte) SprachmittlerInnen, der IND hatte nicht genug ausreichend qualifizierte MitarbeiterInnen, um über alle Anträge zu entscheiden.(25) Das hat zu einer ernsthaften Verstopfung des Systems geführt. Das Verfahren dauert immer noch acht Tage, aber Antragstellende müssen viele Monate warten, bevor dieses Verfahren beginnt. Die Dinge werden langsam wieder besser, aber die Verfahrensakten sind oft immer noch unvollständig, Klientinnen und Klienten sind nicht mehr auffindbar und Anhörungen sind sehr kurz.

Igna Oomen ist Rechtsanwältin bei Hamerslag & van Haren in Amsterdam, einer auf Migrationsverfahren spezialisierten Kanzlei, und Vorstandsmitglied der VAJN, der Vereinigung von RechtsanwältInnen, die Asylsuchende vertreten. Übersetzung aus dem Englischen: Rechtsanwalt Dr. Björn Elberling (Kiel), Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1) Allerdings noch keine sogenannten ›Massen‹.
(2) Schreiben des Staatssekretärs für Sicherheit und Justiz vom 27. November 2015 an das Parlament, https://www.rijksoverheid.nl/documenten/kamerstukken/2015/11/27/tk-maatregelen-hoge-instroom-asiel.
(3) Ebd.
(4) Darunter auch die EU-Staatsangehörigen.
(5) Derzeit Klaas Dijkhoff.
(6) Im Sinne von Art. 2 lit d und lit f der Richtlinie 2011/95/EU [Anm.d.Ü.: Qualifikationsrichtlinie].
(7) Sowohl körperlich als auch psychisch.
(8) Den Antragstellenden werden AnwältInnen beigeordnet, sie können aber auch WahlanwältInnnen benennen.
(9) Unterschreiben des Asylantrags, Abgabe von Fingerabdrücken für EuroDac, Aufnahme persönlicher Daten wie Name, Herkunft usw.
(10) In Ter Apel, Zevenaar, Den Bosch und am Flughafen Schiphol.
(11) In der Regel gibt es keinerlei Unterrichtsmöglichkeiten, nicht einmal für Kinder.
(12) Ausdrücklich nicht ›Verhöre‹ oder ›Vernehmungen‹.
(13) Die Niederlande verfolgen eine sehr strikte Politik des Ausschlusses von Asylsuchenden, die unter Art. 1F der Genfer Flüchtlingskonvention fallen [Anm. d.Ü.: Dies betrifft Asylsuchende, gegen die der dringende Verdacht besteht, dass sie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit o.ä. begangen haben]. Daher wird jede Form des Militärdienstes als sehr relevant angesehen.
(14) Dieses sehr komplexe Verfahren zur Überprüfung der Glaubhaftigkeit wird vorgestellt in der öffentlichen Verfahrensanweisung 2014/10 des IND, vgl. https://ind.nl/Documents/WI%202014_10.pdf. Dieses Verfahren hier darzustellen, würde einen kompletten weiteren Artikel erfordern.
(15) Wegen Bettenknappheit kann es manchmal eine Weile dauern, bis dieser Transfer tatsächlich stattfindet.
(16) ›Stellungnahme‹ meint hier beides: Nicht nur eine Kritik an der Entscheidung, sondern auch, in rechtlicher Würdigung der Entscheidung, einen Widerspruch gegen die Entscheidung an sich.
(17) Im Sinne von Art. 18 der Richtlinie 2013/32/EU [Anm.d.Ü.: Asylverfahrensrichtlinie].
(18) Vgl. Art. 31.1 der Richtlinie 2013/32/EU.
(19) Am Flughafen Schiphol, wo die Antragstellenden während des Verfahrens in Haft sind, wurde das Verfahren schon immer auch am Wochenende betrieben.
(20) Also diejenigen, die ihre Identität unmittelbar durch echte Ausweispapiere belegen können.
(21)   Die Anwaltskammer (Orde van Advocaten) wie auch zwei auf Migrationsrecht spezialisierte Vereinigungen, Specialisten Vereniging Migratierecht Advocaten und Vereniging Asieladvocaten en -juristen Nederland.
(22) Z.B. selbstbelastende Angaben.
(23) Es ist anzunehmen, dass der IND ›vergessene‹ Tatsachen, die im Widerrufsverfahren nachgereicht werden, nicht akzeptieren wird, sondern sich darauf berufen wird, diese seien nicht glaubhaft.
(24) Der IND, die Organisation COA, die die Aufnahmeeinrichtungen unterhält, medizinische Pflegeeinrichtungen, der Flüchtlingsrat, die Polizei, AnwältInnen, …
(25) Aber wir haben genug qualifizierte RechtsanwältInnen!