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Die internationale Dimension rechter Gewalt

Hate Crimes in Europa

ROBERT KUSCHE

Seit 2012 nehmen rechte, rassistische und antisemitische Angriffe stetig zu. Statistisch gesehen ereigneten sich im Jahr 2014 jeden Tag zwei Angriffe. Im Jahr 2012 waren es in den neuen Bundesländern sowie Berlin noch 626 Angriffe, im Jahr 2014 bereits 782 und im Jahr 2015 dann 1.424. Den offiziellen Zahlen nach ereigneten sich im Jahr 2014 allein in den neuen Bundesländern sowie Berlin insgesamt 383 rechtsmotivierte Gewalttaten (davon 312 Körperverletzungen).(1) Im Jahr 2014 gingen damit 401 Angriffe nicht in die offizielle Statistik ein, primär weil die Behörden die rechte oder rassistische Tatmotivation nicht sahen oder sehen wollten. Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt ist jedoch bei weitem kein auf Deutschland beschränktes Phänomen. Der Text reflektiert über die derzeitige Unfähigkeit staatlicher, zivilgesellschaftlicher sowie antirassistischer Akteurinnen und Akteure auf internationaler sowie europäischer Ebene gemeinsam verlässliche Daten zu rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (Hate Crimes) zu erheben.

DOKUMENTATION RECHTER GEWALT IN DEUTSCHLAND

Für das vergangene Jahr 2015 haben die unabhängigen Opferberatungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt mit 1.424 Angriffen eine neue Höchstmarke an rassistischer Gewalt in Ostdeutschland dokumentiert. Rechnet man die Zahlen der unabhängigen Opferberatung aus NRW hinzu, kommt man sogar auf 1.702 Angriffe. Der Anstieg geht vor allem auf den oft offen rassistischen Diskurs zum Thema Flucht und Migration zurück. Insbesondere die rechten Bewegungen, angeführt von PEGIDA haben zu einem Dammbruch in der öffentlichen Debatte beigetragen. Auf rassistische Hetzreden von den Bühnen und im Netz folgen rassistische Angriffe in den Straßen.
Die unabhängigen Beratungsstellen können jedoch lediglich für Ostdeutschland sowie Berlin aussagekräftige Daten zur Verfügung stellen. Unsere Erhebungskategorien orientieren sich dabei an den Kriterien der offiziellen Statistik ›PMK-Rechts‹,(2) um eine Vergleichbarkeit zwischen offiziellen und unabhängigen Zahlen zu gewährleisten. Eine unabhängige bundesweite Statistik existiert noch nicht, denn rechte und rassistische Gewalt wurde mehr als ein Jahrzehnt lang als ein primär ostdeutsches Phänomen wahrgenommen. Entsprechend wurden bisher kaum Beratungsangebote in den alten Bundesländern gefördert. Nur langsam ändert sich diese Problemwahrnehmung. Mit dem Aufbau neuer Beratungsstellen im Westen wird sich sukzessive die Datenlage verbessern.
Trotzdem muss von einer hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, da Betroffene die Angriffe weder der Polizei noch den Beratungsstellen melden sowie Daten teilweise nicht adäquat aufgenommen werden. Dennoch, die verfügbaren Daten zum Thema rechter und rassistischer Gewalt in Deutschland sind insbesondere aufgrund der frei verfügbaren Statistiken sowie Erhebungen einzelner Projekte zu spezifischen Angriffsgruppen vergleichbar aussagekräftig. Die tägliche Recherche der Beratungsstellen stellt einerseits sicher, dass viele Betroffene ein Beratungsangebot erhalten können und andererseits trägt sie dazu bei, dass staatliche Zahlen kritisch hinterfragt werden und so ein realistischeres Bild rechter Gewalt gezeichnet wird.

ZAHLENMATERIAL AUF INTERNATIONALER EBENE 

Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt ist kein auf Deutschland beschränktes Phänomen, vergleichbare Daten und Analysen sind jedoch kaum vorhanden, da weder Staaten noch NGOs auf Grundlage vergleichbarer Definitionen oder Methoden Daten erheben. Seit 2009 trägt das Office for Democratic Institutions and Human Rights (ODIHR) der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSCE) offizielle und nichtstaatliche Daten zum Thema Hate Crimes zusammen. Nach Definition der OSCE ist ein Hate Crime erstens ein Delikt, das nach dem Gesetz strafbar sein muss, zweitens muss eine Vorurteilsmotivation (Hate oder Bias Crime) vorliegen. ODIHR zufolge handelt es sich dabei um vorurteilsmotivierte negative Einstellungen, stereotype Vorstellungen, Intoleranz oder Hass gegenüber Gruppen mit gleichen, unveränderlichen charakterlichen Eigenschaften. Zu den Eigenschaften zählen ›race‹, ethnische Herkunft, Sprache, Religion, sexuelle Orientierung, Geschlecht sowie weitere fundamentale Eigenschaften. ODIHR kommt zu dem Schluss, dass Hate Crimes bzw. vorurteilsmotivierte Gewalt die Sicherheit von Individuen, Gesellschaften sowie ganze Gemeinschaften gefährden können. Dabei können Hate Crimes in extremen Situationen zu Kriegen sowie grenzüberschreitenden Konflikten führen.(3)
ODIHR fungiert als Sammelstelle für Informationen und Statistiken zu Hate Crimes.(4) Auf der Webseite www.hatecrime.osce.org werden die Daten der teilnehmenden Staaten sowie von NGOs jährlich veröffentlicht. Erfasst werden Angriffe, Bedrohungen sowie Sachbeschädigungen. ODIHR erfasst dabei die Kategorien: Rassismus und Xenophobie, Antisemitismus, Vorurteilsgewalt gegen Muslime, Roma und Sinti, Christen sowie andere Religionsgruppen, gegen LGBT sowie gegen Menschen mit Behinderungen.
Nach den aktuellsten Daten von 2014 haben 55 von 57 OSCE-Staaten Daten übermittelt, dies jedoch nicht für alle Kategorien. Dagegen haben 145 NGOs aus 46 Staaten insgesamt 4.259 Vorfälle gemeldet. Die Schwäche der Daten ist, dass sie kaum vergleichbar sind. ODIHR selbst verweist darauf, dass dies aufgrund unterschiedlich verwendeter Definitionen auch kaum möglich ist. Selbst Doppelmeldungen können, trotz Nachfragen durch ODIHR-Beschäftigte, nicht ausgeschlossen werden. Beispiel: Die Amadeu-Antonio-Stiftung meldete 2014 zwei antisemitische Angriffe und die Antirassistische Initiative 31 Angriffe auf Flüchtlinge.(5) Ob die Fälle auch in der Statistik der Opferberatungseinrichtungen erfasst werden, kann jedoch nicht überprüft werden.
Problematisch sind auch die durch das Innenministerium – den National Point of Contact (NPC) – gemeldeten Zahlen für 2014. Demnach ereigneten sich 3.059 Hate Crimes in Deutschland. Eine Zahl, die jeglicher Grundlage entbehrt, denn selbst die durch Behörden im Rahmen von parlamentarischen Anfragen preisgegeben Zahlen liegen für 2015 weit darunter. Selbst ODIHR merkt kritisch an, dass die deutschen Behörden zurzeit nicht in der Lage sind, Hate Crimes und Propagandadelikte einzeln zu melden.(6) Somit sind die offiziellen deutschen Daten in der ODIHR-Statistik kaum aussagekräftig, da es sich um aggregierte Daten handelt, in die ebenso Propaganda­delikte miteinfließen. Die Motivation ist unklar. Zwei Erklärungen erscheinen plausibel: Erstens, auf Seiten des Innenministeriums will man sich zumindestens auf internationaler Ebene als für das Phänomen sensibel und damit besser darstellen oder, zweitens, eine nach einzelnen Kategorien aufgeschlüsselte Weitergabe der Daten unterliegt der Verschlusssache.
Problematisch ist ebenso das limitierte Mandat der OSCE, das der Organisation enge Grenzen setzt. Die deutschen Opferberatungsstellen erfassen, in Anlehnung an die PMK-Definition, seit jeher auch Angriffe auf Nichtrechte sowie politisch aktive Menschen, die aus einem anti-pluralistischen Menschenbild heraus angegriffen werden.(7) Zu den Betroffenen zählen Punks, Antifaschistinnen und Antifaschisten oder auch Bürgerinnen und Bürger, die sich gegen Neonazismus und Diskriminierung engagieren. Jene Form rechter Gewalt lässt sich mit den Kriterien der OSCE aber nicht erfassen, denn eine politische Einstellung gegen Neonazismus oder das Engagement gegen Rechts sind nach der Definition der OSCE keine unabänderlichen, besonders schützenswerten Eigenschaften. Die Kategorien sind hier eindeutig zu sehr auf das US-amerikanische Konzept Hate Crime beschränkt und vernachlässigen zu stark die historischen Besonderheiten der Staaten in Europa und die in Europa virulente Ideologie des Nationalsozialismus. Das US-amerikanische Hate Crime-Konzept ist Resultat der Bürgerrechtskämpfe der schwarzen Communities, die sich primär gegen rassistische Diskriminierung und Polizeigewalt zur Wehr setzten. In den meisten europäischen Staaten existieren keine vergleichbaren Kämpfe um BürgerInnenrechte. Eine Adaption der Begrifflichkeit sowie der Kategorien ist daher schwierig und führt immer wieder zu heftigen Debatten um Ein- und Ausschlüsse. So gab es bei AktivistInnen in Spanien auf einer Tagung des antirassistischen Netzwerks UNITED 2015 durchaus sehr kritische Anmerkungen an ODIHR, da es für viele Aktivisten aus Spanien, Griechenland, Italien und Deutschland nicht nachvollziehbar war, warum die permanenten Angriffe von Neonazis und Faschisten auf Antifaschistinnen und Antifaschisten nicht mit in die offizielle ODHIR-Statistik einfließen, obwohl diese sehr wohl gemeldet werden.
Zwar versucht ODIHR hier eine Lücke zu schließen, ist aber als quasi-staatlicher Akteur viel stärker seinem Mandat verpflichtet als unabhängige antirassistische oder zivilgesellschaftliche Zusammenschlüsse. Auch die EU als Staatenverbund hat bisher keine Anstrengungen unternommen, die Datenerfassung gemeinschaftlich zu regeln, denn die zu Hate Crimes erhobenen Daten der Mitgliedsstaaten sind oft mangelhaft und bilden bei Weitem nicht die Realität ab.

BEMÜHUNGEN VON NGOS UND AKTIVISTINNEN 

Die übermittelten 4.259 Vorfälle an ODIHR durch NGOs im Jahr 2014 verdeutlichen ebenso, dass in vielen Staaten zivilgesellschaftliche Akteure kaum systematisch Angriffe registrieren oder recherchieren. Projekte wie ›Facing Facts‹(8) versuchen hier Abhilfe zu schaffen, indem man länderübergreifende Leitlinien zur systematischen Erfassung von Hate Crimes entwickelt hat und Workshops für staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure zur Erfassung anbietet.(9) Einen vergleichbaren Weg geht ODIHR selbst, indem sie Trainings für NGOs zum Thema Hate Crime Monitoring anbietet. Dennoch, eine gemeinsame Datenbank, die von NGOs sowie antirassistischen Initiativen auf europäischer Ebene betrieben wird, existiert nicht. Somit werden zurzeit keine gemeinsamen Daten auf europäischer Ebene dokumentiert und einer europäischen Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Mangelnde Ressourcen und schwache europäische Netzwerke können hier als Ursache angesehen werden.
Wie dringend notwendig jedoch eine systematische Erfassung von Hate Crime-Daten in Europa wäre, zeigen Studien, die von der European Fundamental Rights Agency (FRA) in Auftrag gegeben wurden. Sie geben einen Hinweis auf die tatsächliche Dimension rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt: Eine Studie unter 23.500 Menschen mit Migrationshintergrund in Europa aus dem Jahr 2012 ergab, dass jeder vierte in den letzten 12 Monaten Opfer eines Bias/Hate Crime wurde. Nach dieser Studie sind Sinti und Roma sowie ›Afrikaner‹ und ›Afrikanerinnen‹ mit 18 Prozent am meisten von Bias/Hate Crimes in Europa betroffen.(10) Der ›EU LGBT Survey‹ von 2013 ergibt, dass von 93.000 Befragten 25 Prozent bereits Gewalt erfahren haben.(11) In der Studie ›Discrimination and hate crime against Jews in EU Member States: experiences and perceptions of antisemitism‹ von 2013 geben von 6.000 befragten 33 Prozent an, dass sie physische oder verbale Gewalt aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit ausgesetzt sind.(12) Auch Amnesty International hat in einem Report zu Hate Crimes, Transphobie sowie Homophobie auf die schwierige Situation in Europa hingewiesen.(13)

AUSSICHT

Die FRA verweist auch darauf, dass nach wie vor annähernd 75 Prozent der Angriffe weder Polizei noch NGOs gemeldet werden. Dies ist neben der Angst vor den Behörden primär auch auf fehlende Unterstützungsangebote für Betroffene in den jeweiligen Ländern zurückzuführen. Hier versucht das Projekt ›Guidelines and Support Standards‹ Abhilfe zu schaffen, indem es neben der Datenerhebung einen Ansatz zur Betroffenenunterstützung im europäischen Kontext zur Debatte stellt.(14)
Europa erlebt gerade, aufgrund der Flüchtlinge sowie der internationalen Migration, eine historische Zäsur. Rechte Gewalt bzw. Hate Crimes werden langfristig ein Phänomen in Europa darstellen, denn bereits jetzt wird deutlich, dass die Menschen bei Weitem nicht in allen europäischen Gesellschaften willkommen geheißen werden. Dies belegen bereits jetzt eindrücklich die Zahlen der Opferberatungsstellen für Deutschland 2015. Oftmals ist es blanker Hass und Rassismus, der den ankommenden Menschen begegnet. Hinzukommt, dass viele Betroffene, die auf ihrem Weg durch Europa rassistischen sowie rechten Angriffen ausgesetzt sind, weder Unterstützung erfahren, noch die Übergriffe dokumentiert oder gar geahndet werden. Rechte und rassistische Gewalt wird in Zukunft stärker ein grenzüberschreitendes Phänomen darstellen und bedarf daher auch einer Antwort europäischer zivilgesellschaftlicher sowie antirassistischer Akteure.

Robert Kusche arbeitet bei der ›Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt des RAA Sachsen e.V.‹.
Er ist zugleich Sprecher des ›Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt‹ (VBRG).

Fußnoten
(1) Vgl. ›Politisch motivierte Kriminalität in Deutschland im Jahr 2014‹, BT-Drucksache 18/5758.
(2) Die Definition rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt der Beratungsstellen ist angelehnt an jene aus dem polizeilichen Definitionssystems der ›Politisch motivierten Kriminalität‹ des BKA (2001 durch die Innenministerkonferenz beschlossen und seitdem in Kraft). Danach zählt als PMK-Rechts ›eine Tat insbesondere dann, wenn die Umstände der Tat oder die Einstellung des Täters darauf schließen lassen, dass sie sich gegen eine Person aufgrund ihrer politischen Einstellung, Nationalität, Volkszugehörigkeit, Rasse, Hautfarbe, Religion, Weltanschauung, Herkunft, sexuellen Orientierung, Behinderung oder ihres äußeren Erscheinungsbildes bzw. ihres gesellschaftlichen Status‹ richtet. Darüber hinaus fließen in die Statistik der Opferberatungsstellen schwere Sachbeschädigungen sowie Nötigungen und Bedrohungen mit ein. Zudem ist neben den ›Umständen der Tat‹ und der ›Einstellung der Täter‹ für die Beratungsstellen auch die Wahrnehmung der Betroffenen, also die ›Betroffenenperspektive‹ ausschlaggebend.
(3) Vgl. http://hatecrime.osce.org/what-hate-crime.
(4) OSCE/ODIR Mandat: http://hatecrime.osce.org/what-do-we-know/our-mandate.
(5) ODIHR (Zahlen zu 2014): http://hatecrime.osce.org/germany.
(6) Ebd.
(7) Vgl. Hübler (2014): Rechte Dominanz gegen Nichtrechte, Alternative und politisch Aktive, Definition Ausmaß und Folgen. In: Kulturbüro Sachen e.V. (Hg.), Politische Jugendarbeit vom Kopf auf die Füße, Zum anwaltschaftlichen Arbeiten mit menschenrechtsorientierten Jugendlichen im ländlichen Raum.
(8) Projekthomepage: www.facingfacts.eu.
(9) Facing Facts-Leitfaden zum Thema Hate Crime Monitoring: http://www.ceji.org/media/facing-facts-guidelines-german.pdf.
(10) FRA (2012): Hasskriminalität ist Realität in der EU, http://fra.europa.eu/sites/default/files/hate_crime_is_a_reality_in_the_eu_two_new_fra_reports_show_de.pdf.
(11) FRA (2013): EU LGBT survey – European Union lesbian, gay, bisexual and transgender survey. Results at a glance, http://fra.europa.eu/en/publication/2013/eu-lgbt-survey-european-union-lesbian-gay-bisexual-and-transgender-survey-results.
(12) FRA (2013): Discrimination and hate crime against Jews in EU Member States: experiences and perceptions of anti-Semitism, http://fra.europa.eu/en/publication/2013/discrimination-and-hate-crime-against-jews-eu-member-states-experiences-and.
(13) AI (2013): Europe: Because of Who I am: Homophobia, Transphobia and Hate Crimes in Europe, https://www.amnesty.org/en/documents/eur01/014/2013/en/.
(14) RAA Sachsen (2016): Hate crime victim support in Europe, a practical guide, http://raa-sachsen.de/index.php/guidelines.html.