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Menschenrechte in der Türkei und Kurdistan

Bericht über die International Human Rights Academy

Julius Becker

Im Namen der EDA (Dachverband der Europäischen Demokratischen Anwält*innen) habe ich vom 30.09.22 bis zum 02.10.22 in Izmir an einer Konferenz zum Thema Menschenrechte mit Schwerpunkt Kurdistan und Türkei teilgenommen. Die Konferenz wurde von der ÖHD, einer kurdischen Anwaltsorganisation aus der Türkei organisiert, mit Unterstützung der EDA und der EDHL. Gemeinsam mit mir nahm unsere griechische Kollegin Goita Massouridou für die EDA teil. Sie berichtete auch auf einem Panel über illegale push-backs an den EU-Außengrenzen von Griechenland in die Türkei.

Die Konferenz war extrem gut organisiert, das Programm drehte sich vor Allem um die Entwicklung des türkischen (Rechts-)Staats, den Abbau rechtsstaatlicher Garantien und Verfahrensrechte und die Repressionen, die verschiedene zivilgesellschaftliche Akteur*innen erleiden müssen. Neben einer explizit anwaltlichen Perspektive gab es auch Panels, auf denen eine gesellschaftspolitische Analyse vorgenommen wurde und ganz grundlegend über die Entwicklung des Staats und über Einfluss- und Interventionsmöglichkeiten diskutiert wurde. Dabei blieb der Fokus nicht auf Kurdistan und der spezifischen Situation in der Türkei stehen, sondern bezog auch stets europäische oder sogar globale Perspektiven mit ein.

PANELS, WORKSHOPS, THEATER UND MUSIK

Die Panels waren so organisiert, dass vormittags ein Panel stattfand, und nachmittags zwei. Abends gab es dann Theater oder Musik. Die Themen erstreckten sich dabei über zahlreiche Felder. Es wurde über die Frage nach dem Zusammenhang von Nationalstaat und Kapitalismus und die Bedeutung eines möglichen Endes der neoliberalen Ära diskutiert. Genauso gab es ein Panel zum Thema ›Autoritarismus und Wiedererstarken faschistischer Bewegungen‹. Gleichzeitig wurde auch die Bedeutung von Menschenrechten und ihrer Verteidigung anhand verschiedener Bereiche wie Klimaaktivismus, Arbeitskämpfen und Flucht diskutiert. Dabei wurde sowohl versucht, ein verbindendes Element zwischen diesen Kämpfen zu finden, als auch ganz grundsätzlich der Sinn legalistischer Arbeit im Rahmen eines autoritären Staats in Frage gestellt.
Besonders beeindruckend waren die Auftritte von Feleknas Uca, die sowohl für Die Linke als Europaabgeordnete tätig war, als auch für die HDP als Abgeordnete im türkischen Parlament und von Prof. Dr. Şebnem Korur Fincanci, Professorin für Rechtsmedizin und Mitverfasserin des Istanbul-Protokolls. Feleknas Uca berichtete von den Angriffen auf Shingal durch den IS und wie die kurdischen Kämpfer*innen diesen Widerstand leisteten und zahlreiche Zivilist*innen aus der Stadt retten konnten. Gleichzeitig schlug sie einen Bogen zu den jetzigen Verhältnissen in der Türkei wo jegliche Form der Solidarität mit der kurdischen Bewegung verfolgt wird.

WISSENSCHAFTLICHE BETEILIGUNG UND AKTIVIST*INNEN

Prof. Dr. Şebnem Korur Fincanci sprach über die Verantwortung der medizinischen Profession in Zeiten der Krise und wie auch sie an ethische Maßstäbe gebunden sein sollte. Sie erklärte, warum es hierfür wichtig ist, dass Verbände, Vereine und unabhängige Interessensvertretungen existieren, die die Mitglieder schützen und ihre Werte und moralischen und ethischen Ansprüche an ihre Profession verteidigen können.
Die Panel-Teilnehmer*innen waren nicht nur Anwält*innen, sondern auch Akademiker*innen, Politiker*innen und Aktivist*innen. Am Sonntag gab es eine große Abschlussdiskussion, in der aus den verschiedenen diskutierten Themen der Vortage eine gemeinsame Zukunftsperspektive entwickelt wurde. Da mein Flug bereits Sonntag früh ging, konnte ich hieran leider nicht mehr teilnehmen.
Die Konferenz war sehr gut besucht (vielleicht 100-150 Teilnehmende). Die Teilnehmenden waren alle sehr interessiert an den Diskussionen und Veranstaltungen. Es gab viel Raum für Fragen und Diskussionen, die teilweise bis spät in die Nacht fortgesetzt wurden. Die ganze Konferenz fand in einem kleinen, extrem idyllischen Dorf in den Bergen in der Nähe von Sirince statt (Mathematics Village, https://nesinkoyleri.org/en/why/), wo wir die gesamte Konferenz über blieben und versorgt wurden. Es gab für die gesamte Konferenz eine Simultan-Übersetzung von Türkisch (und Kurdisch) in Englisch und zurück. Dieser Aufwand ist umso bemerkenswerter, als dass neben mir und Giota nur ein anderer Teilnehmer kein Türkisch sprach. Alle waren sehr interessiert an den Debatten und wollten auch unsere Perspektive auf die Situation in der Türkei und den Vergleich zur Situation in Deutschland kennenlernen. Darüber hinaus wurden wir sehr freundlich aufgenommen und untergebracht.

FORTSETZUNG DER KOOPERATION MIT ÇHD UND ÖHD

Parallel trafen wir uns noch im Rahmen der EDA mit verschiedenen Vertreter*innen der ÇHD um über weitere gemeinsame Kollaborationen und Projekte zu reden. Sowohl die ÇHD, als auch die ÖHD sind dabei extrem interessiert an einer Zusammenarbeit und einem gemeinsamen Eintreten für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und die freie Advokatur.
Die Wichtigkeit der dort diskutierten Punkte wurde leider durch die Entwicklungen in der Türkei erneut deutlich gemacht. Anfang November wurden 21 Kolleg*innen aus der Türkei in einem Gerichtsverfahren zu teilweise mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ihnen wurde die Mitgliedschaft und Propaganda für eine Terrororganisation vorgeworfen. Was ihnen vorgeworfen wird, ist im Wesentlichen die Ausübung ihrer Arbeit als Anwält*innen: die Teilnahme an einer Pressekonferenz, die Anwesenheit bei oder in der Nähe einer Demonstration, die Beratung von Mandant*innen über ihr Recht zu schweigen, die Verteidigung von des Terrorismus beschuldigten Personen usw. Während der Ermittlungen wurden einige der beschuldigten Anwälte über ein Jahr lang abgehört, was offensichtlich einen Verstoß gegen die Unantastbarkeit des Anwaltsgeheimnisses darstellt.
Im Angesicht dieser Entwicklungen ist es umso wichtiger die Kolleg*innen bei ihren Kämpfen zu unterstützen und sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. Die Teilnahme an der Human Rights Academy im nächsten Jahr ist ein Teil davon. Daher hoffe ich, dass es zukünftig noch mehr interessierte RAV-Mitglieder gibt, die sich dort einbringen wollen.

Julius Becker ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

Unter- und Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.