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Gallische Dörfer helfen nicht

Zur Auseinandersetzung über die sogenannte Schonfristzahlung

Benjamin Hersch

Die Krise schlägt mit aller Wucht zu. Die Krise? Präziser wäre wohl: spezifische gesellschaftliche Verhältnisse, nämlich kapitalistische, führen einmal mehr dazu, dass größeren Teilen der Bevölkerung der Absturz in die Armut droht. In der Regel werden aber abstrakte Wirtschaftszahlen durch die Schlagzeilen gejagt, aber wie sich die enormen Energiepreissteigerungen und die weitere Inflation konkret auf die Betroffenen auswirken, davon ist wenig in der Öffentlichkeit wahrnehmbar. Die Krise hat scheinbar kein Gesicht, dabei sind konkrete Menschen in vielen Lebensbereichen betroffen. Das gilt besonders auch für einen besonders existenziellen Bereich – den eigenen Wohnraum, also in Deutschland meistens die Mietwohnung.

In den mietrechtlichen Beratungsstellen gibt es derzeit ein zentrales Thema: Wie kann die unbezahlbare Miete bewältigt werden und was passiert, wenn das nicht möglich ist? Wer bereits an der Belastungsgrenze ist, wird zusätzlich damit konfrontiert, dass Vermieter*innen die Erhöhung der Vorauszahlungen, also einen echten Teil der Miete auf die Nebenkosten verlangen. Diese befürchten, auf den steigenden Heizkosten sitzen zu bleiben, wenn es zu hohen Nachforderungen kommt, die die Mieter*innen nicht zahlen können. Leiden viele Mieter*innen unter den ohnehin schon kaum bezahlbaren Mieten, so führen diese Energiepreissteigerungen nun zur Situation, dass die Betroffenen häufig spätestens am Ende des Monats vor der Entscheidung stehen, entweder die Miete nicht zu überweisen oder den Kühlschrank nicht zu befüllen.

Das Gesetz ist allerdings eindeutig: Der Kühlschrank muss wohl leer bleiben, wenn einem die Mietwohnung lieb ist. Verletzt eine der Vertragsparteien des mietrechtlichen Dauerschuldverhältnisses ihre Primärpflicht, so kann unter niedrigen Voraussetzungen das Mietverhältnis gekündigt werden. Vermieter*innen können ein Mietverhältnis bei Mietzahlungsverzug außerordentlich fristlos und nebenbei auch ordentlich kündigen, wenn der Mietrückstand einen Umfang erreicht, dass er einen wichtigen Grund darstellt. Gegeben ist das dann, wenn Mieter*innen sich für zwei aufeinanderfolgende Termine mit der Entrichtung der gesamten Miete - und dazu gehören eben auch die Vorauszahlungen auf die Nebenkosten - oder eines nicht unerheblichen Teils der Miete, in Zahlungsverzug befindet. Die Frage, ob der Rückstand verschuldet ist oder ob die Mieter*innen etwas essen möchten, spielt dabei grundsätzlich keine Rolle.

Schonfristzahlung, die keine ist

Das sind sicherlich alles keine bemerkenswerten Neuigkeiten. Es rückt jedoch gerade in Zeiten zunehmender Zahlungsverzugskündigungen ein die allgemeine Misere verstärkender und allein durch den Bundesgerichtshof geschaffener, rechtlicher Missstand erneut in den Blick. Denn das Gesetz enthält einen vermeintlichen Lichtblick für säumige Mieter*innen: Nach § 569 Abs. 2 Nr. 2 BGB erhalten unbefangene Leser*innen der Norm den Eindruck, es gäbe eine reale Chance, ein Mietverhältnis nach einer Zahlungsverzugskündigung zu retten. Die Vorschrift ordnet an, dass eine Kündigung dann unwirksam ist, wenn spätestens bis zum Ablauf von zwei Monaten nach Eintritt der Rechtshängigkeit der Räumungsklage die rückständige Miete vollständig gezahlt wird oder sich eine öffentliche Stelle verpflichtet, die Mietrückstände zu übernehmen. Diese Regelung ist als sogenannte Schonfristzahlung bekannt.
Schaffen es Mieter*innen nach der Kündigung, das fehlende Geld aufzutreiben, etwa durch Übernahme der Mietschulden durch eine staatliche Stelle, so hilft das in der Regel trotzdem nicht. Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung aus dem Jahr 2005 (vgl. BGH, Urteil vom 16. Februar 2005 - VIII ZR 6/04 -) ohne wesentlichen Begründungsaufwand entschieden, dass die Schonfristzahlung nicht zur Unwirksamkeit einer zugleich ausgesprochenen und ebenfalls parallel möglichen ordentlichen Kündigung nach § 573 Abs. 1 BGB führt. Die bis dato recht überwiegende Meinung bei den Instanzgerichten und die aus den Gesetzesmaterialien (vgl. BT-Drucks. 14/4553, S. 64) abzulesende Intention des Gesetzgebers, der durch die Schonfristzahlung im Sinne einer zweiten Chance Obdachlosigkeit vermeiden will, waren quasi über Nacht Makulatur. Wenige Vermieter*innen verzichten nach dieser Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes darauf, außerordentlich und gleichzeitig auch ordentlich wegen Zahlungsverzug zu kündigen. Der Bundegerichtshof hält an seiner Rechtsprechung fest, verweist auf den untätigen Gesetzgeber, und damit führt die ordentliche Zahlungsverzugskündigung regelmäßig zum Verlust der Wohnung.
In Berlin ereignet sich jedoch Erstaunliches. Kein Gericht in der Bundesrepublik prägt die Rechtsprechung im Wohnraummietrecht mehr als das Landgericht Berlin mit seinen fünf sogenannten Mietberufungskammern. Eine dieser Kammern, die bezeichnenderweise auch für den als rebellisch bekannten Bezirk Kreuzberg zuständig ist, hält weiterhin daran fest, dass die Schonfristzahlung ebenso zur Unwirksamkeit der ordentlichen Kündigung führt. Inzwischen hat sich ein regelrechter (Urteils-)Schlagabtausch zwischen der 66. Zivilkammer des Landgerichts und dem 8. Senat des Bundesgerichtshofs entwickelt, der für Wohnraummietrechtssachen zuständig ist. Schon fast hysterisch und vermutlich in seinem Allmachtsanspruch getroffen, schlägt der Bundesgerichtshof auf die Richter*innen des Landgerichts ein (vgl. BGH, Urteil vom 13. Oktober 2021 - VIII ZR 91/20 -) und wirft diesen Verfassungsbruch vor, weil sie es wagen, von seiner Ansicht abzuweichen. Sachlich, freilich nicht ohne die eine oder andere Spitze, kontert das Landgericht. So heißt es:
»Die gebotene neuerliche Auseinandersetzung mit den Sachargumenten führt für die Kammer dazu, dass die besseren Gründe unverändert gegen die Ansicht des Bundesgerichtshofs sprechen« (vgl. LG Berlin, Urteil vom 1. Juli 2022 - 66 S 200/21 -).
Und im Hinblick auf den Vorwurf des Verfassungsbruchs: »Warum sich die Kammer einen vergleichbaren Vorwurf bieten lassen müsste, wenn sie die Unwirksamkeit einer mietrechtlichen Kündigung aus einer Norm herleitet, welche im Mietrecht die Unwirksamkeit einer Kündigung anordnet, ist über eine pauschale Andeutung hinaus nicht begründet worden und dürfte auch nicht begründbar sein« (vgl. LG Berlin, a.a.O.).
Da auch die neue Vorsitzende des 8. Zivil-senates öffentlich gegenüber der interes-sierten Presse zu verstehen gegeben hat, dass der Bundesgerichtshof an seiner Rechtsprechung festhalten wird, ist zu erwarten, dass dieser ›Kampf der Giganten‹ wohl noch eine Weile fortgeführt wird.

WAS TUN?

Bedauerlicherweise nützt diese Skurrilität bundesdeutscher Rechtsprechungswirklichkeit den betroffenen Mieter*innen wenig. Denn am Ende des Instanzenzuges steht der Bundesgerichtshof, und dieser gibt letztlich der wegen der auch ordentlichen Zahlungsverzugskündigung erhobenen Räumungsklage statt. Durch den Gang durch die Instanzen, den aber auch nur gekündigte Mieter*innen im Sprengel des Amtsgerichts Kreuzberg und des Amtsgerichts Lichtenberg vollziehen können, wird zwar viel Zeit gewonnen, um eine neue Wohnung zu finden. Angesichts des katastrophalen Wohnungsmarkts in Berlin reichen dennoch diese Zeit und immer häufiger auch das Geld nicht. Hinzu kommt das nicht unerhebliche Prozessrisiko, denn selbst bei Gewährung von Prozesskostenhilfe müssen jedenfalls die gegnerischen Rechtsanwaltskosten getragen werden und dies über drei Instanzen.
Der Verweis des Bundesgerichtshofs auf den Gesetzgeber ist zumindest dahingehend richtig, als dieser die Möglichkeit hätte, die Frage, ob die Schonfristzahlung Heilungswirkung auch für die ordentliche Zahlungsverzugskündigung hat, ausdrücklich durch das Gesetz zu regeln. Der Gesetzgeber – und zwar egal, welche Regierungskoalition besteht – hat dies innerhalb der fast 20 Jahre nach der ersten Entscheidung des Bundesgerichtshofes aber nicht getan. Zu relevant sind wohl die Interessen der Eigentümer*innen, die hier geschützt werden (sollen). In eine gegenteilige Richtung sind noch nicht einmal Absichtsbekundungen erkennbar.
Der RAV, namentlich dessen Arbeitskreis Mietrecht, hat sich wiederholt dafür eingesetzt, dass der Gesetzgeber diese Gesetzeskonkretisierung vornimmt. Aktuell hat der Arbeitskreis, motiviert durch die Erfahrungen aus der täglichen Praxis und auch im Hinblick auf die widerständige Rechtsprechung der 66. Zivilkammer des Landgerichts Berlins, in einem erheblichen Kraftakt einen offenen Brief an die Bundesregierung organisiert. Darin fordern neben dem RAV 21 unter anderem bundesweit tätige Organisationen, darunter der Deutsche Gewerkschaftsbund, der Deutsche Mieterbund und sogar die Neue Richtervereinigung den Gesetzgeber zum Handeln auf, also dazu, endlich die erforderliche Gesetzesänderung auf dem Weg zu bringen. Die Resonanz auf diesen offenen Brief, der im Prinzip alle relevanten Personen erreichte, ist allerdings mäßig. Es erscheint folglich recht aussichtslos, dass die Gesetzeskonkretisierung tatsächlich durchgeführt wird.
Insofern bleibt nur zu hoffen, dass sich in diesen krisenhaften Zeiten ein breiter Protest gegen die allgegenwärtigen Zumutungen formiert. Dabei reicht es sicherlich kaum, lediglich die Ausweitung der Schonfristzahlung auch auf die ordentliche Zahlungsverzugskündigung zu fordern. Denn auch hier geht es im Wesentlichen nicht um die existentielle Bedeutung der Unterkunft für die Betroffenen, sondern lediglich darum, ob diese zahlungskräftig sind. Eine wirkliche Bewegung, die nicht auf Gesetze und Gerichte vertraut, sondern gesellschaftliche Verhältnisse verändert, die die Existenz der Menschen bedrohen, ist dringend erforderlich.

Benjamin Hersch ist Rechtsanwalt in Berlin, Vorstandsmitglied des RAV und Vorstandsvorsitzender der Holtfort-Stiftung.