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Massenhafte Einzelfälle

IM EINZELFALL FORTSCHRITT

Lukas Theune

Das im letzten Jahr erschienene Erstlingswerk des investigativen Journalisten Aiko Kempen nimmt rechte und rassistische Polizeibeamt*innen in Deutschland in den Blick. Das Werk ist umso wichtiger, da auf wissenschaftlich-empirischer Ebene ein ehemaliger Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat eine effektive Forschung verhinderte. Damit ist aber zugleich schon der wichtigste, wenn auch unverschuldete, Schwachpunkt des Buches benannt: die fehlende ›Repräsentativität‹. Dem widmet sich Kempen wiederum selbst in dem Werk.

VIEL ZU VIELE EINZELFÄLLE

So lautet eine Unterüberschrift im ersten Kapitel. Und in der Herangehensweise zeigt sich zunächst eine Stärke. Kempen bringt in den Kapiteln immer wieder kursiv gesetzt einzelne Fälle von Neonazis und rassistischen Polizeibeamt*innen, die zum Teil bekannt, aber meines Wissens nach bislang nicht gesammelt in einem Band zu finden waren. Die Vielzahl der kursiv gesetzten Passagen zeigt, dass es keinen Sinn mehr macht, von Einzelfällen zu reden. Und Kempen legt auch dar, dass es sich bei der Polizei entgegen zahlreicher polizeilicher Behauptungen nicht um ein ›Spiegelbild der Gesellschaft‹ handelt. Vielmehr ist soziologisch gesichert, dass es sich um insbesondere autoritär denkende, »nach hegemonialen Status strebende (weiße) Männlichkeit«(1) handelt, die die Polizei darstellt; Kempen zeigt dies an dem Frauenanteil von je nach Bundesland 23 bis 32 Prozent auf, aber auch an dem Anteil an Personen mit ›Migrationshintergrund‹, der bei der Polizei bei unter einem Prozent liegt, im Vergleich zu 26 Prozent in der Gesamtbevölkerung.
Es gibt auch, wie Kempen darlegt, kaum ›linke‹ Polizeibeamt*innen; der Verein Polizei-Grün etwa repräsentiert weniger als 0,3 Prozent der Beamt*innen. Keine andere Partei ist hingegen so häufig mit Polizeibeamt*innen in Parlamenten vertreten wie – na klar – die AfD (S. 102).
Kempen bleibt bei diesen Schilderungen zum Glück nicht stehen, sondern analysiert die Ursachen für die Häufung Rechter und Rassist*innen bei der Polizei. Er widmet sich dabei zunächst der Sozialisation in der Behörde und skizziert, wie sich Beamt*innen allein durch ihr Arbeitsumfeld, die Struktur und die Kolleg*innen in rassistischen Mustern immer weiter verfangen. Er zeigt auch die eklatanten Probleme in der Ausbildung auf, die in allen Bundesländern – Ausnahme: Berlin – an eigenen Polizeihochschulen stattfindet, was sofort zu Isolation und Abgrenzung von der restlichen Studierendenschaft und damit zu einer Sonderrolle führt. Und er erklärt, mit welchen Fehlsichten der polizeiliche Blick auf Gewalt behaftet ist. Während in den letzten 25 Jahren Rechte sechs Polizist*innen im Dienst töteten und Linke keine*n einzige*n, thematisiert die Gewerkschaft der Polizei, die erstaunlich häufig in dem Buch angesprochen werden muss, noch im Jahr 2020 die ›Antifa‹ als die größte Gefahr für die Demokratie. Kempen widmet sich in einem eigenen Kapitel auch der Problematik, dass sich Rassist*innen in der Polizei viel zu sicher fühlen und das Entdeckungsrisiko äußerst gering ist. Die Öffentlichkeit erfährt von den Chats mit rassistischen Inhalten nur die wenigsten, Strafanzeigen gegen Kolleg*innen werden in der Praxis kaum erstattet. Das mag auch daran liegen, dass es in den meisten Bundesländern keine geeigneten Plattformen und Ansprechpersonen für whistle blower bei der Polizei (und anderen Behörden) gibt, wo diese über Straftaten ihrer Kolleg*innen berichten könnten, ohne im Anschluss Mobbing und Ausschluss zu erfahren.

KEINE SYSTEMATISCHE ERFASSUNG

Gravierend ist indes, dass nach wie vor keine systematische Erfassung dieser demokratiegefährdenden Tendenzen in den Polizeien der Länder und des Bundes existiert. Hinzu kommt, dass die polizeiliche Lobby, prominent und öffentlich immer wieder vertreten durch die Polizeigewerkschaften GdP und v.a. DPolG, derart stark auf die parlamentarische Willensbildung Einfluss nimmt, dass sich ein beinahe reflexhafter Mechanismus bei Berufspolitiker*innen zeigt, wenn es um polizeiliches Fehlverhalten geht. Dazu zählt die Bagatellisierung und Beschreibung des Fehlverhaltens als vermeintlicher Einzelfall, der zwar Konsequenzen für den einzelnen Beamten oder die einzelne Beamtin zeitigen sollte, aber ebenso selbstverständlich Kritik an Systematik und Aufbau der Polizeibehörden nicht bedingt. Kempen bezeichnet dies zurecht als Bärendienst an den Polizeibeamt*innen, »schließlich würden strukturelle Probleme bedeuten, dass eben nicht jeder einzelne Polizist aus tiefer Überzeugung rassistisch handelt« (S. 197). Dies wird von Kempen im fünften und vorletzten Kapitel darlegt.

GEMEINSAM DIE ZUKUNFT DISKUTIEREN

In einem abschließend versöhnlich in die Zukunft weisenden sechsten Abschnitt beschreibt Kempen ein zu beobachtendes tendenziell wachsendes Problembewusstsein auch in den Behörden, lobt Tendenzen zu mehr Vielfalt und beschreibt auch nachvollziehbar, dass die Thematisierung rechter Polizeibeamt*innen in den Medien etwas Gutes ist, weil zumindest über die Problematik gesprochen werden und sich nur so etwas ändern kann. Dabei erinnert Kempen daran, dass gerade die Black Lives Matter-Bewegung im Jahr 2020 zu einer Verschiebung der Koordinaten auch in der deutschen Polizei geführt hat. Der öffentliche Druck hat dazu geführt, dass auch die Polizei an dem Thema Rassismus und Rechtsextremismus in den eigenen Reihen nicht mehr vorbeikommt (S. 220). Zuletzt nimmt Kempen uns alle, also auch und vielleicht gerade die kritische Anwält*innenschaft, in die Pflicht. Denn Rassismus und Rechtsradikale in der Polizei sind ein Problem für die Gesellschaft und gerade für die marginalisierten Gruppen, für die wir eintreten. Ob und wenn ja, was für eine Polizei wir haben möchten, darüber muss ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs geführt werden, der nicht den Polizeigewerkschaften überlassen werden darf.

Aiko Kempen, 
Auf dem rechten Weg? 
Rassisten und Neonazis 
in der deutschen Polizei. 
Frankfurt/M. 2021

Dr. Lukas Theune ist Rechtsanwalt in Berlin und Geschäftsführer des RAV. Die Überschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

(1)   Kempen, S. 97, zitiert hier den Polizeiausbilder und Soziologen Joachim Kersten.