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»Das kann niemand alles lesen...«

VOM VORTEIL DER FESTSCHRIFTEN

Volker Eick

Festschriften sind seit längerem eine unterschätzte Kategorie, zumindest in den Sozialwissenschaften. Dass man an Erkenntnis (oder wenigstens Wissen) gewönne, würden sie gelesen, ist weder Kanon, noch überhaupt Thema. Der entsprechende Wikipedia-Eintrag (und dessen Kommentierung) verdeutlichen das ebenso, wie die publizierenden Verlage diese Meinung reproduzieren, indem sie solche Bände nur selten zu, wie es neudeutsch heißt, darstellbaren Preisen anbieten. Schade, wie dieser Band zeigt. Denn er dokumentiert tatsächlich wesentliche Aspekte und klaffende Lücken in der kriminalpolitischen Diskussion.
Auf gut 700 Seiten zeichnen knapp 80 Autor*innen nicht nur die über Jahrzehnte angewachsenen Wirkungsfelder des Geburtstagskindes nach, sondern tun auch kund, jedenfalls in den ersten vier Abschnitten des Bands, woran sie gerade oder woran sie – mit Bezügen zu Feltes, manchmal parallel, in manchen Fällen auch konträr gedacht, geforscht, gelehrt und manchmal auch gehandelt – seiner- oder ihrerzeit, jedenfalls gearbeitet haben. Ein Privileg von Festschriften ist es zudem, auch erste Überlegungen zu noch ›Unausgegorenem‹ zur Diskussion stellen zu können.(1)

»EINE HORDE GORILLAS 
IM URWALD…«

Dem Band ist aber ein eher starres Gerüst eigen, denn die Kapitel lauten etwas unterkühlt Kriminologie (I.), die auf rund 290 Seiten behandelt wird, Polizeiwissenschaft (II.), die gut hundert Seiten umfasst, Strafrecht, Jugendstrafrecht, Strafverfahrensrecht (III., ca. 100 Seiten), Straf- und Maßregelvollzug, Sanktionsrecht (IV., 70 S.) sowie Varia (V., 70 S.), in denen offensichtlich gesammelt wurde, was dem Gerüst nicht zuzumuten war. Das ist insofern etwas schade, tritt doch Feltes durchaus offen für Neues, aber auch gern unkonventionell, streitbar mit scharfer Zunge und spitzer Feder auf. Unvergessen etwa, seine Streitbarkeit gegenüber den unwissenden Bürokraten in der Deutschen Fußball Liga (DFL). Auch, einem DFG-Abschlussbericht zu ›Polizeilicher Prävention‹ nicht gerade unprätentiös zu attestieren, sie hätten nicht mal den (Polizei)Schuss gehört – Chapeau. Wer diesen Ton und diese Haltung im Performativen in sehr angemessener Weise trifft, ist der in Wien waltende Reinhard Kreissl, der freilich nicht unter Varia, sondern unter Polizeiwissenschaft rubriziert ist. Ihm ist die obige Zwischenüberschrift (S. 369) zu verdanken.

NEUE WEGE, 
ALTE PFADE

Einer der Herausgebenden (Mitherausgeber ist Andreas Ruch, Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung, NRW) und Nachfolger von Feltes am Bochumer Lehrstuhl ist Tobias Singelnstein, der im selben Kapitel die jüngsten Ergebnisse seines Forschungsteams – mehrfach auch im RAV InfoBrief dokumentiert –zu Polizeigewalt darlegt (S. 379ff). Da selbstredend nicht alle 14 Tage neue Erkenntnisse gewonnen werden können, entsteht eine gewisse Redundanz für diejenigen, die die Thematik verfolgen.
Ein weiteres Privileg von Festschriften, wenn man es als solches begreifen möchte, sie sind (double-blind) peer review-freie Zonen, d.h. auf Relevanz und Richtigkeit, auf Komplexität und Kohärenz, auf Aktualität und Akkuratesse der Beiträge blickt kein Komitee, kein unbekanntes Kolleg*innen-Team, kurz: kein* Externer*. Einigen wenigen Beiträgen im Kapitel, immerhin: Polizeiwissenschaft, hätte ein solcher Blick gutgetan, denn sie verengen unnötig den Fokus – argumentieren gleichsam, als gäbe es keine politischen und ökonomischen Interessen oder dürfe man sie als solche nicht benennen. Auch dass auf den »neuen Wegen« Gender ausschließlich als Sexualstrafrecht (S. 235ff) und in der ehe- und familienfreundlichen Inhaftierung (S. 545ff) aufscheint, mag irritieren (Herrnkind, S. 345ff, hat ein Unterkapitel Gender genannt). Was unter Varia behandelt wird, bezieht alte Bekannt- und Freundschaften mit ein. Und so scheinen alte Pfade Feltes mit auf, deren Tenor einen jungen, frischen Geist atmet.
Nachgrade bedrohlich wirkt, was Michael Alex in kurzer, trockener Diktion aus dem deutschen Strafvollzug zu berichten weiß, um mit wenigstens noch einem inhaltlichen Punkt dieses umfangreichen Werks zu schließen: Es »wird deutlich«, schreibt er, »dass die mit dem Strafvollzugsgesetz beabsichtigten Änderungen auch mehr als 40 Jahren nach seinem Inkrafttreten noch immer nicht umgesetzt sind. Auch eine rationale Entwicklung ist nicht erkennbar« (S. 542). Das tönt nicht nach neuen Wegen...

T. Singelnstein & A. Ruch (Hg.), Auf neuen Wegen. Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive. Festschrift für Thomas Feltes zum 70. Geburtstag. Berlin 2021

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.

(1)   Gockenjan (S. 471ff) ist m.E. ein schönes Beispiel dafür.