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Wie David Goliath besiegte

oder: Das Ende des Endlagerstandortes Gorleben

Kerstin Rudek

43 Jahre haben wir gekämpft, dann kam plötzlich – und es ist nicht übertrieben zu sagen, unerwartet – auf Spiegel-online die durchgesickerte Nachricht: Gorleben fliegt morgen aus dem Endlagersuchverfahren. Es hat die erste Hürde der geologischen Kriterien bei der gesetzlich neu geregelten Standortauswahl für ein Langzeitlager für hochradioaktiven Müll nicht erreicht. Zum ersten Mal in all diesen Jahrzehnten hat nicht die Politik gesprochen, die uns damals, 1977, die rein willkürlich getroffene Entscheidung beschert hatte, ein Nukleares Entsorgungszentrum (NEZ) in Gorleben zu errichten.

Geplant war damals das volle Programm; mit einem Atomkraftwerk, einer Wiederaufarbeitungsanlage (WAA) und einem Endlager. Die Wiederaufarbeitungsanlage konnten wir 1980 verhindern. Ein Treck machte sich auf von Gorleben in die Landeshauptstadt Hannover. Dazu wurde nachts schnell mit ein paar Stoffresten die Wendlandsonne erfunden, ein Symbol musste her.
Eigentlich wäre die kleine Trecker-Kolonne nicht sonderlich aufgefallen, aber genau in der Woche, in der die wendländischen Bäuer*innen nach Hannover zogen, ereignete sich die Atomkatastrophe im AKW Three Mile Island in den USA, und so schlossen sich zahlreiche Trecker, Wohnmobile, Pkw und LKkw dem Treck an. Am Ende kamen 100.000 Menschen auf der Demo in Hannover zusammen. Der damalige Ministerpräsident Ernst Albrecht verkündete darauf: eine WAA ist in Gorleben politisch nicht durchsetzbar. Wir wussten also früh, wie es geht. ›Wenn ihr unser Leben nicht achtet, dann achten wir eure Gesetze nicht‹, war mehr als ein Spruch. Es ist ein Lebensmotto, das Generationen im Landkreis Lüchow-Dannenberg geprägt hat. Unsere jungen Leute lernten früh, was es heißt, mit polizeistaatlichen Methoden konfrontiert zu sein. Und daraus wuchs eine ganz eigene Kreativität, die alle Alter und Schichten erfasste; ein riesengroßes Gemeinschaftsgefühl gegen die Atomlobby. Nicht alles konnten wir verhindern. Gebaut wurde ein Zwischenlager, in das mit 13 Transporten 113 hochradioaktive Castorbehälter mit enormer Polizeigewalt verbracht wurden – gegen einen Protest und Widerstand, der nicht strahlen wollte, sondern lachen. Gern vergessen wird der zweite Teil des Zwischenlagers – von uns liebevoll ironisch ›Kartoffelscheune‹ genannt –, in dem mehr als 2.500 Fässer mit leicht- und mittelradioaktivem Müll lagern. Und eine Pilotkonditionierungsanlage, ehemals gedacht zur Umverpackung der Transportbehälter für die Endlagerung auf der anderen Straßenseite. Uns bleiben also noch einige unserer Kerngeschäfte erhalten. Und nicht nur als Standortinitiative steht uns weiter Arbeit ins Haus. Es geht um nicht weniger als die sofortige Stilllegung aller Atomanlagen weltweit. Die Entscheidung zum Ausscheiden Gorlebens aus der Endlagersuche bedeutet, dass es möglich ist, als politische Bewegung Fehlentscheidungen der Politik zu korrigieren und den Raum für wissenschaftsbasiertes Handeln zu schaffen.

INFORMATION – AKTION – SICH-WEHREN…

Der Kampf gegen die Gorlebener Windmühlenflügel war immer ein gemeinsamer von Einheimischen und Auswärtigen. Das bedurfte vieler Gespräche und auch Auseinandersetzungen über all die Zeit. Alle haben davon profitiert, wir waren breit aufgestellt. Aus meiner Sicht haben drei Dinge das Erfolgsrezept des Protestes und Widerstandes gegen das Atommüllendlager Gorleben ausgemacht: die Information, die Aktion und das Sich-Wehren gegen die Repressionen. Dabei spielte der Anwaltliche Notdienst des RAV eine bedeutende Rolle. Nie hätten wir es gewagt, unsere Freiräume zu verteidigen – mutig wie eine Löwenmutter –, wenn es nicht die Anwält*innen gegeben hätte, die bei wirklich jedem Castortransport gemeinsam mit uns den Rechtsstaat verteidigten. Wir mit der Mistforke unterm Arm, sie mit den Paragrafen im Rucksack. Oftmals hat der RAV die kleineren oder auch mal größeren Auftaktkundgebungen angemeldet. 2010, nach gesetzlich beschlossener Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke, waren 50.000 Menschen auf einem kleinen Acker bei Splietau. Die mussten alle verteidigt werden, und das in Flur und Wald. Nicht wegzudenken ist aus diesen Legal Teams Martin Lemke, den wir seit seinem viel zu frühen Tod letztes Jahr Ostern schmerzlich vermissen. Martin hat zu jedem Castorprotest dafür gesorgt, dass auch junge und noch nicht so erfahrene Anwält*innen sich anschauen, wie es um die Demokratie in der freien Wildbahn steht. Für Martin war der wendländische Widerstand immer eine Herzensangelegenheit, für viele von Euch ist er es – vielleicht auch durch Martin? – geworden.
Es ist bedauerlich, dass er die Entscheidung für das Aus von Gorleben als Endlager nicht mehr erleben konnte. Aber die Geschichten um sein Auftreten hier leben weiter. Ich empfinde großen Dank für alles, was ihr alle für uns getan habt, wie ihr uns den Rücken gestärkt habt, wie ihr nicht zugelassen habt, dass sie uns vereinzeln, verurteilen, verklagen. Natürlich hat es auch Verurteilungen und erfolgreiche Klagen gegen uns gegeben, aber es geht um den Schaden, den ihr von uns abgewendet habt und den wir gemeinsam von der Demokratie abwenden konnten. Wir wollen ein großes Fest feiern, wenn die Corona-Pandemie das wieder zulässt. Wir hoffen, dann viele von euch beim Schiff im Wald, der Beluga, zu begrüßen. Und nach dem Feiern geht es weiter, andere Missstände bekämpfen und dafür sorgen, dass nicht doch noch kurz vor Ablauf der Laufzeiten der in die Jahre gekommenen Atomkraftwerke in Deutschland das Fass wieder aufgemacht wird, ohne Atomkraft gingen die Lichter aus. Es kann gar nicht oft genug gesagt werden: Atomkraft ist kein Klimaretter. Zu gefährlich, zu dreckig, zu teuer, zu langsam und nicht ohne Menschenrechtsverletzungen zu haben. Und den Atommüll will auch am liebsten keine*r haben. Jahrzehntelang hat Gorleben als Entsorgungsnachweis für den Betrieb aller AKW in diesem Land geführt.

Wir sollten den Schwung der Anti-Atom-Bewegung jetzt nutzen – zur Abschaltung der Urananreicherungsanlage in Gronau und der Brennelementefabrik in Lingen, dafür, dass nicht weiter Atommüll unter der falschen Deklaration ›Wertstoff‹ zum Beispiel in dreiwöchigem Rhythmus nach Russland verklappt wird. Wir wollen einen echten Atomausstieg und das jetzt. Wenn wir uns anschauen, welche Länder heute noch in Atomkraft investieren, dann ist es auffällig, dass sie alle keine lupenreinen Demokratien sind. Robert Jungk sah schon 1977 voraus, dass sich Demokratie und Atomstaat nicht vertragen. Und 1996 gaben die Gorlebener Turmbesetzer*innen Geschichten und harte Fakten zum Leben im Atomstaat im Eigenverlag heraus. Untertitel: Im atomaren Ausstiegspoker ist unser Widerstand der Joker. Ich denke, wir alle zusammen haben Geschichte geschrieben. Wenn mindestens die Corona-Pandemie wieder bessere Zeiten zulässt, kommt rum, besucht uns im BI-Büro und Gorleben-Archiv oder wir feiern – hoffentlich im Mai – zusammen die Kulturelle Widerstandsparty beim Schiff im Wald. Lasst uns die Freundschaft immer wieder erneuern und die Bande noch stärker knüpfen, regional, bundesweit und transnational.
So und nun muss ich los, der Castor kommt. Diesmal nicht nach Gorleben, sondern als Teil eines Gesamtpaketes zur wissenschaftsbasierten Endlagersuche geht die Reise von Sellafield über Nordenham nach Biblis. Wir werden in den kommenden Tagen und auch bei den folgenden geplanten drei Transporten an der Wegstrecke gegen diese vermeidbare Atommüllverschiebung protestieren: Der Castor kommt – wir sind schon da!

Kerstin Rudek ist Politikwissenschaftlerin und Aktivistin; sie war von 2007-2012 Vorsitzende der BI Lüchow-Dannenberg.