Der Neukölln-Komplex
Affinität zwischen Polizei und Nazistrukturen?
Sven Richwin
Die Ermittlungen zu rechten Aktivitäten, die sich über zehn Jahre später als toxisch für die Behörden erweisen sollten, begannen unaufgeregt in einem Kreuzberger Polizeiabschnitt. Unbekannte hatten in der Nacht zum 14. Dezember 2009 an mindestens drei Orten Sprühereien mit Drohbotschaften und Keltenkreuzen gegen eine linke Kneipe und zwei Privatanschriften hinterlassen.
Kurz vorher, zwischen März und September 2009, war eine jüngere Generation Berliner Neonazis, die sich in Abgrenzung zu Parteistrukturen Autonome Nationalisten nannte, mit einer eigenen Webseite an die Öffentlichkeit getreten. Deren Domain-Name nw-Berlin.net (›Nationaler Widerstand Berlin‹), sollte künftig auch das labeling weiterer Aktionen übernehmen und fand sich gesprüht an zahlreichen Tatorten. Im Laufe des Jahres 2009 wurden auf dieser Seite in fünf Folgen Anti-Antifa-Listen und selbstgefertigte Fotos mit Informationen zu linken Kneipen, Buchläden und Einzelpersonen eingestellt. Die aufgelisteten Personen und »Linke[n] Läden« wurden als »kriminell« diffamiert und sollten offensichtlich eingeschüchtert werden. Die Liste umfasste neben Besucher*innen antifaschistischer Veranstaltungen auch Kommunalpolitiker*innen und Anwält*innen. Kanzleien gehörten dann auch bereits zu den Angriffsobjekten einer zweiten Anschlagswelle im Folgejahr. Viele Daten von Betroffenen und Anwält*innen gelangten offensichtlich über Gerichtsverfahren in die Neonazi-Datenbank, bekannte Autonome Nationalisten gehörten zeitweise zu regelmäßigen Besucher*innen von politischen Strafprozessen.
SCHLEPPENDE ERMITTLUNGEN
In den folgenden Jahren setzten sich die Anschlagsserien fort, die Liste wurde regelrecht ›abgearbeitet‹. Dabei bemühten sich die Täter*innen stets um kurze Aktionen mit geringem Entdeckungsrisiko. Die Ermittlungen unter der Überschrift »Sachbeschädigung« wurden mit mäßigem Elan geführt. Die vermutete Täterschaft in der Neonazi-Szene wurde teilweise schon von den aufnehmenden Beamt*innen als Spekulation unwillig zur Kenntnis genommen. Die Möglichkeit einer längeren Serie von Neonazi-Anschlägen ohne Bekennerschreiben drängte sich für die Beamtinnen – Jahre vor dem NSU-Verfahren – nicht gerade auf. Ermittlungen, die über die eigenen Dokumentationen der Betroffenen hinausgingen, waren in der Regel nicht ersichtlich, die Einstellungen folgten oft schnell.
Teilweise entstand sogar der Eindruck, der Verdacht einer rechtsextremen Täterschaft sollte bewusst vermieden werden. So finden sich in den Aufnahmeberichten Beschreibungen wie »die beiden Buchstaben ›s‹ wurden in keltischer Schrift geschrieben« – anstelle einer Benennung als SS-Runen oder, »es war ein Smiley mit einem Seitenscheitel und schmalem Bart gesprüht« als Umschreibung einer Hitler-Darstellung.
Glücklich, wer eine* Sachbearbeiter*in auf dem gleichen Abschnitt bekam, der oder die den gleichen Sachverhalt als das beschrieb, was er war – »ein eindeutiger Bezug zum SS-Symbol« – und die Sache an das LKA weiterreichte.
›FEINDESLISTEN‹, ABER »KEINE ANHALTSPUNKTE…«
Kaum glücklicher verliefen auch die Ermittlungen zu der Internet-Seite selbst. Jahrelang wurden die Betroffenen und die Öffentlichkeit damit vertröstet, der Server sei in den USA beheimatet, dem Zugriff der deutschen Behörden entzogen und ein Rechtshilfeersuchen laufe. Parallel setzte jedoch die Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien die Seite auf den Index, so dass sie über die üblichen Suchmaschinen nicht mehr zu erreichen war. Im Dezember 2012 wurde die Seite schließlich abgeschaltet.
Die aufgeführten Personen auf der Feindesliste bekamen unterdessen Schreiben des Berliner LKA, dass sich aus ihrer dortigen Listung »keine Anhaltspunkte für eine konkrete Gefährdung« ergeben würden. Fast gleichzeitig wurde jedoch durch eine Kleine Anfrage Anfang 2012 im Abgeordnetenhaus bekannt, dass von den rund 100 gelisteten Personen immerhin 23 Opfer von Gewalttaten wurden, bei 13 sieht die Polizei einen eindeutig politischen Hintergrund der Übergriffe.
Die Anschläge gewannen indes an Gefährlichkeit, seit spätestens 2011 gehörten auch Brandanschläge zum Repertoire der Täter*innen, betroffen u.a. das Anton-Schmaus-Haus in Neukölln-Britz, ein Jugendzentrum der SPD-nahen Jugendorganisation Die Falken, das erheblich beschädigt wurde und grundrenoviert werden musste.
Zwar versuchten die Täter*innen ein berlinweites Agieren zu suggerieren, ihr absoluter Schwerpunkt blieb jedoch Neukölln und dessen angrenzenden Kieze.
Für den Zeitraum 2009 bis 2015 wurden allein in Neukölln vier Brandanschläge auf Fahrzeuge von gegen Rechtextremismus Engagierten bekannt, zwei Brandanschläge auf das Anton-Schmaus-Haus sowie über 50 rechte Sprühereien und Sachbeschädigungen. Viele der betroffenen Örtlichkeiten waren vorher auf der Auflistung ›Linke Läden‹ der Seite NW-Berlin aufgeführt. In 14 Fällen kam es zu Sprühereien oder Steinwürfen auf private Wohnanschriften.
WIEDERERSTARKEN MILITANTER NAZI-ANSCHLÄGE
Nach einer etwa einjährigen Pause gewann die Anschlagsserie ab Mai 2016 an neuer Dynamik, insbesondere durch Brandstiftungen an Fahrzeugen von Engagierten gegen Rechtsextremismus im südlichen Teil von Neukölln. Flankiert wurde die Serie erneut mit einer – diesmal auf Facebook – eingerichteten Seite der ›Freien Kräfte Berlin Neukölln‹ (FKBN) und eingestellten Listen von antifaschistisch engagierten Personen, Projekten und Parteiadressen, ebenso eine Neuauflage der Liste ›Linke Läden‹, die bereits 2011 auf der Seite ›nw-Berlin‹ aufgetaucht war. Facebook sperrte die Seite und Nachfolgeprojekte schließlich. Nach einer Hausdurchsuchung bei dem mutmaßlichen Betreiber der Seite im Februar 2017 erfolgte keine Neuerstellung.
Die Serie von Brandstiftungen an Kfz führte auch zu einer Neuaufstellung der Ermittlungsbehörden im Neukölln-Komplex. Im Januar 2017 richtete der Staatsschutz des Berliner LKA eine eigene Ermittlungsgruppe Rechtsextreme Straftaten in Neukölln (EG RESIN) ein, bereits vorher war im Polizeiabschnitt Neukölln eine Ermittlungsgruppe Rechtsextremismus (EG Rex) eingesetzt. Im Fokus der RESIN waren insbesondere ein ehemaliger NPD-Kreisvorsitzender in Neukölln sowie ein Mitglied im Bezirksvorstand der AfD. Trotz umfassender Überwachung brennen weiter Autos. Am 1. Februar trifft es u.a. das Fahrzeug eines Politikers der Partei Die Linke. Das Feuer greift auf den Carport über und nur durch Glück kommt es nicht zur Explosion der nahen Gasleitung. Der Vorfall wird zur Zäsur für die Ermittlungsbehörden. Denn wie spätere Presseberichte enthüllten, hatte der Verfassungsschutz zwei Wochen vor dem Anschlag ein Gespräch der Hauptverdächtigen mitgeschnitten, in dem offenbar ein neues Opfer und dessen Fahrzeug ausgespäht wurde – und teilten dies dem LKA mit; zunächst telefonisch und am 30. Januar per Behördenzeugnis – allerdings mit »Verwendungsverbot«; der Betroffene selbst erhielt keine Warnung.
Der Vorgang führte im März 2019 zur Einrichtung eines »gemeinsamen Informations-und Bewertungszentrums Rechtsextremismus« (GIBZ). Innerhalb des GIBZ sollen sich Polizei und Verfassungsschutz regelmäßig über relevante Sachverhalte austauschen.
AUSSPÄHLISTEN UND DATENBANKEN
Am Tag nach dem Anschlag setzt das LKA alles auf eine Karte und beantragt Durchsuchungsbeschlüsse und Haftbefehle gegen die zwei Hauptverdächtigen. Bei der Durchsuchung wurde bei einem der Tatverdächtigen u.a. eine handschriftliche Liste von Rechercheergebnissen über Ausspähopfer sowie eine Festplatte mit Personenlisten beschlagnahmt. Die betroffenen Personen werden derzeit vom LKA über ihre Nennung informiert.
Der Schwerpunkt dieser personenbezogenen Daten und Fotos von über 500 mutmaßlichen Ausspähopfern bezieht sich auf den Zeitraum 2011/2012 und weist große Überschneidungen mit Veröffentlichungen auf der damaligen Feindesliste des sog. ›Nationalen Widerstandes Berlin‹ auf der Seite ›nw-berlin.net‹ aus.
Doch das LKA hat seinen größten Trumpf verspielt, die Haftanträge werden abgelehnt, der Tatverdacht mit viel Indizien und wenig Beweisen reicht nicht. Und die Verdächtigen wissen jetzt, wie nah ihnen die Behörden auf den Fersen sind; die Brandstiftungen hören auf. »Die verpasste Chance« der Ermittler*innen titelt die Berliner Morgenpost treffend und dass es vermutlich »keine zweite geben werde«.
Die Vorgänge in Neukölln finden den Weg von der Berliner Presse in die bundesweiten Medien: Wie kann es sein, dass eine rechte Anschlagsserie über zehn Jahre nicht zu stoppen ist? Was wusste der Verfassungsschutz? Und woher bekommen die Neonazis die Daten der Opfer? Erste Forderungen nach einem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss werden laut.
Der Berliner Innensenator begegnete dem wachsenden Druck mit der Einrichtung einer Sonderkommission. Ab Mai 2019 soll die Besondere Aufbauorganisation Fokus (BAO Fokus) mit im Kern rund 30 Beamt*innen die Ermittlungsverfahren fortführen und die Altfälle erneut aufrollen. Inzwischen geht es um mehr als 70 Straftaten allein seit 2016. Doch der öffentliche Druck bleibt hoch, immer neue Enthüllungen über schlampige Ermittlungen und Nähebeziehungen von Beamten zur rechten Szene erreichen die Öffentlichkeit:
Wie weitere Betroffene wurden Opfer von Brandanschlägen aus dem Januar 2017 von einem Beamt*innen der Sonderermittlungsgruppe Rex in Neukölln in Sicherheitsfragen beraten. Drei Monate später soll sich der Beamte außer Dienst an einem rassistischen Übergriff am S-Bahnhof Karlshorst durch Fußballfans gegen einen Afghanen beteiligt haben. Der Angegriffene erlitt Kopf- und Schulterverletzungen und kam zur ambulanten Behandlung in ein Krankenhaus.
Der Beamte verschwand plötzlich aus der Beratungsarbeit in Neukölln und die Betroffenen beschwerten sich sogar, dass er nicht mehr ansprechbar war und die Kontinuität der Ermittlungen in Gefahr sei. Ihnen wurde mitgeteilt, der Beamte sei leider krank.
Vor wenigen Wochen erfuhren die Betroffenen, dass ausgerechnet dieser Beamte Mittäter des rassistischen Übergriffs in Karlshorst gewesen sein soll und dass die auch für ihre eigenen Anzeigen zuständige Abteilung der Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen ihn einstellte, weil das Opfer abgeschoben worden war. Erst auf Betreiben der Opferanwältin wurde das Verfahren wieder aufgenommen.
Parallel konnte der Presse entnommen werden, dass ein anderer Polizeibeamter, der in einer regelmäßig von den Anschlägen betroffenen Siedlung wohnt, Diensterkenntnisse in einer telegram-Chat-Gruppe mit Personen aus dem Umfeld des AfD-Kreisverbandes Neukölln geteilt haben soll, an welcher auch einer der Hauptverdächtigen der Anschlagsserie angebunden war. Bereits im März 2018 soll sich gemäß Presseberichten ein Polizeibeamter in einer als rechtem Treffort bekannten Kneipe in Süd-Neukölln mit einem der Hauptverdächtigen der Anschlagsserie getroffen haben, so zumindest die Auffassung des Verfassungsschutzes, der das Treffen beobachtete. Nach einigem Hin und Her teilte der Verfassungsschutz mit, er hätte sich auch geirrt haben können und er sei nicht mehr sicher, dass es der Tatverdächtige gewesen sei.
Die politische Abteilung der Berliner Staatsanwaltschaft, getrieben von der zunehmenden Dichte der Presseberichterstattung, verfiel in der Folge in eine möglichst restriktive Herausgabepraxis hinsichtlich der Akteneinsichtsgesuche der Betroffenen. Ausbaden musste dies u.a. die Kollegin, die den Politiker der Partei Die Linke hinsichtlich des Brandanschlages auf sein Fahrzeug vertritt. Nach mehrmonatigen erfolglosen Versuchen Akteneinsicht zu erhalten, erstattete sie Fachaufsichtsbeschwerde bei der Generalstaatsanwaltschaft. Die Generalstaatsanwältin konnte der Akte eine Äußerung eines der Hauptverdächtigen der Anschlagsserie entnehmen, dass dieser sich keine Sorgen mache, denn er habe den Eindruck, der Staatsanwalt sei sinngemäß ›auf ihrer Seite‹ und ›AfD-Wähler‹.
Die Generalstaatsanwaltschaft reagierte umgehend, zog sämtliche Ermittlungsverfahren im Neukölln-Komplex an sich und versetzte den betroffenen Oberstaatsanwalt, den bisherigen Leiter der politischen Abteilung, in ein anderes Dezernat. Dies sei nötig geworden, um jedem Anschein einer Befangenheit und nicht sachgerechten Bearbeitung in diesem Verfahren zu begegnen. Ein weiterer Staatsanwalt, der den entsprechenden Vermerk über die Äußerung nicht gemeldet hatte, wurde auf eigenen Wunsch in eine andere Abteilung versetzt.
Und noch bevor die BAO Fokus in diesem Herbst ihren Abschlussbericht vorlegte, kündigte der Berliner Innensenator an, zwei externe Experten würden sich nun mit dem Neukölln-Komplex befassen, der Ex-Bundesanwalt Diemer und die frühere Eberswalder Polizeipräsidentin Leichsenring. Es dürfte der letzte Versuch sein, einem Untersuchungsausschuss auszuweichen.
BISHER KEIN EINZIGES GERICHTSVERFAHREN
Bei keinem der über 70 Fälle, die allein seit 2016 der Serie zugerechnet werden, kam es bisher zu einem Gerichtsverfahren. Bis auf eine Ausnahme: Ende August 2020 standen nun überhaupt einmal die beiden Hauptverdächtigen vor Gericht, wegen gesprühter Parolen zum Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess und des Verklebens von AfD-Aufklebern. Doch dieser Prozess steht wegen fehlender Aussagegenehmigungen der LKA-Beamten vor dem Scheitern. Wie auch schon im Fall des Anschlags auf das Fahrzeug des Politikers der Partei Die Linke scheint hier der Schutz der Ermittlungsmethoden Vorrang zu haben.
Es sind nicht nur die ausbleibenden Ermittlungserfolge, sondern die irritierenden Begleitumstände der Ermittlungen, die im Neukölln-Komplex das Vertrauen in den Rechtsstaat erschüttern. Fast alle Betroffenen können skurrile Begebenheiten erzählen. Sie haben zunehmend die Befürchtung, dass die ausbleibenden Ermittlungserfolge nicht nur auf Pannen beruhen, sondern dass möglicherweise Personen in den Sicherheitsbehörden die Ermittlungen hintertreiben. Die Vorkommnisse in anderen Bundesländern, wie etwa die Drohschreiben des sog. ›NSU 2.0‹ und die Verstrickungen hessischer Polizeistrukturen, haben hier die Aufmerksamkeit noch einmal geschärft.
Schon seit längerem fordern sie daher, die Ermittlungen den bisher Beteiligten in den Ermittlungsbehörden aus den Händen zu nehmen, durch Übergabe des Verfahrens an die Bundesanwaltschaft und/oder Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Die Bundesanwaltschaft hat schon mal ein Beobachtungsvorgang eingerichtet.
Sven Richwin ist Rechtsanwalt in Berlin und RAV-Mitglied.
Die Unter- und Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.