Sie sind hier: RAV > PublikationenInfoBriefeInfoBrief #119, 2020 > Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen

Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen

Körperverletzung im Amt in der Praxis der Justiz(1)

Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau und Tobias Singelnstein

Einführung(2)

Polizist*innen setzen das Gewaltmonopol des Staates um und sind unter bestimmten Voraussetzungen gesetzlich befugt, unmittelbaren Zwang in Form körperlicher Gewalt einzusetzen. Werden die Grenzen dieser besonderen Befugnisse (insb. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) überschritten, ist die Gewaltausübung rechtswidrig und in der Regel auch nach § 340 StGB strafbar.
Im Jahr 2018 wurden laut Staatsanwaltschaftsstatistik 2.020 Verfahren gegen Polizist*innen wegen Körperverletzung (KV) im Amt von den Staatsanwaltschaften abschließend erledigt. Dabei wurde in 98 % der Fälle das Verfahren eingestellt, während nur in 2 % der Fälle Anklage erhoben oder ein Strafbefehl beantragt wurde.(3) Laut Strafverfolgungsstatistik lag 2018 auch die Verurteilungsquote bei Verfahren wegen Körperverletzung im Amt mit 41 % deutlich niedriger als im Durchschnitt (82 %) bei anderen Verfahren.(4) Die justizielle Erledigungsstruktur bei diesen Verfahren weist somit erhebliche Besonderheiten auf, die erklärungsbedürftig sind und auf besondere Herausforderungen für die Justiz hindeuten. Ein erheblicher Anteil der Verdachtsfälle verbleibt darüber hinaus im Dunkelfeld.
Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Forschungsprojekt KviAPol (»Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen«) erforscht an der Ruhr-Universität Bochum erstmals für den deutschsprachigen Raum sowohl die Perspektive von Betroffenen auf personale und situative Faktoren rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung, als auch die justizielle Bearbeitung derartiger Fälle.

Empirische Befunde aus dem Forschungsprojekt

Das Forschungsprojekt KviAPol untersucht Viktimisierungsprozesse, Anzeigeverhalten und Dunkelfeldstruktur im Bereich rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung. Dazu wurde zunächst eine Onlinebefragung von Betroffenen durchgeführt, an der 3.374 Personen teilnahmen, die von eigenen Erfahrungen mit übermäßiger physischer Gewalt durch die Polizei berichteten.(5) Im zweiten Schritt werden qualitative Inter­views mit 60 Expert*innen aus Polizei, Justiz und Zivil­gesellschaft geführt, um die Ergebnisse des ersten Teils zu erweitern und zu vertiefen.
In der Viktimisierungsbefragung zeigten sich ähnliche Strukturen der justiziellen Bearbeitung, wie in den amtlichen Statistiken: In den Fällen, in denen ein Ermittlungsverfahren eingeleitet wurde, kam es in 93 % zur Einstellung.(6) Die Ermittlungsverfahren wurden sowohl in der Staatsanwaltschaftsstatistik als auch im Sample der Studie überwiegend nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt. Opportunitätseinstellungen (insb. §§ 153, 153a StPO) kamen deutlich seltener vor (4 % der offiziellen Erledigungen, 6 % der Erledigungen im Sample der Studie). Ein bei Großeinsätzen, wie Demonstrationen und Fußballspielen, häufig genannter Einstellungsgrund war die Nichtidentifizierbarkeit der Tatverdächtigen (über 40 % der Einstellungen in diesem Bereich).
Die Anklagequote lag im Sample der Studie bei 7 % und damit höher als die Quote in den amtlichen Statistiken. Sofern Gerichtsverfahren berichtet wurden (18 Fälle), kam es siebenmal zu einer Verurteilung, es gab sechs Freisprüche, zwei Verfahrenseinstellungen und drei Personen machten keine Angabe zum Verfahrensausgang.
Hervorzuheben ist weiterhin, dass nur 14 % der in der Befragung berichteten Fälle ins Hellfeld gelangten. In 86 % der Fälle wurde kein Strafverfahren eingeleitet, da weder Anzeige erstattet noch von Amts wegen ermittelt wurde. Die vier meistgenannten Gründe gegen eine Anzeigeerstattung waren der Glaube, dass eine Anzeige gegen Polizist*innen zu nichts führen würde; die Nichtidentifizierbarkeit der Täter*innen; die Angst vor einer Gegenanzeige und mangelnde Beweise. Das Vertrauen in eine staatliche Aufarbeitung des Geschehens war bei den Befragten also gering ausgeprägt.
Zum jetzigen Zeitpunkt können die Daten der Viktimisierungsbefragung vor allem Probleme aufzeigen. Die Interviews mit Personen aus der Richter*innen- und Staatsanwaltschaft sowie der Polizei und der Strafverteidigung, deren Analyse noch aussteht, haben u.a. das Ziel, Erklärungsansätze für die besondere justizielle Erledigungspraxis zu liefern. Dennoch gibt es zu einigen neuralgischen Punkten dieser Verfahren bereits bestehende Forschung, welche an dieser Stelle vorgestellt werden soll. Die Ergebnisse des zweiten Projektteils sind Anfang 2021 zu erwarten, und sollen die vorhandene Forschung ergänzen, vertiefen und überprüfen.

Herausforderungen bei Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt

Die besondere Erledigungsstruktur bei Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt folgt zunächst aus den Besonderheiten in diesem Deliktsbereich. Zum einen ist für die Betroffenen nicht immer einfach zu beurteilen, wie weit die polizeilichen Befugnisse für den Einsatz unmittelbaren Zwangs reichen. Darüber hinaus weisen einschlägige Strafverfahren aber weitere strukturelle Besonderheiten auf, die die Erledigungsstruktur beeinflussen.(7) In der Literatur wird insbesondere auf die Beweislage und die Besonderheiten polizeilicher Zeug*innen in diesen Verfahren verwiesen.

1. Besondere Beweissituation

Strafverfahren wegen Körperverletzung im Amt sind in der Regel durch eine besondere Beweissituation geprägt. Erstens fehlt es häufig an Sachbe­weisen, so dass die Ermittlungen auf Zeug*innenaussagen angewiesen sind. Zweitens betrifft dies vor allem die an der Auseinandersetzung Beteiligten, die meist eine stark divergierende Wahrnehmung und Erinnerung der Situation haben.
In der Studie KviAPol schilderten 54 % der Befragten, zwischen dem ersten Kontakt mit der Polizei und der Eskalation der Gewalt seien weniger als zwei Minuten vergangen. Diese Eigen­arten einschlägiger Geschehen führen dazu, dass selbige von den beteiligten Personen oft sehr unterschiedlich wahrgenommen, erinnert und im Strafverfahren entsprechend divergierend rekonstruiert werden.
Im Ergebnis besteht im Strafverfahren häufig eine Aussage-gegen-Aussage-Konstellation. Dieser Befund stellt indes nur einen Ausgangspunkt dar, der alleine nicht in der Lage ist, die besondere Erledigungsstruktur zu erklären. Denn in anderen Deliktsbereichen, bspw. bei Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung, lag die Quote von Anklageerhebung und Strafbefehlsanträgen im Jahr 2018 bei 26 %.(8)

2. Polizeibeamt*innen als Berufszeug*innen

Vor dem Hintergrund der geschilderten Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen kommt es bei Strafverfahren wegen KV im Amt entscheidend darauf an, welche Schilderungen eher als glaubwürdig beurteilt werden. Eine Herausforderung besteht dabei darin, dass Polizeibeamt*innen als Zeug*innen eine besondere Rolle spielen. Sie sind erstens Berufszeug*innen und zweitens als mehr oder weniger unmittelbare Kolleg*innen von Beschuldigten in besonderer Weise involviert. Polizeibeamt*innen als Zeug*innen sind damit anders als in anderen Strafverfahren hier also mehr als nur ermittelnde Instanz oder neutrale Beobachtende des Geschehens.
Polizeizeug*innen können als »vorhersehbarere Zeug*innen«(9) beschrieben werden: Sie erscheinen zuverlässig zu Vorladungen, wissen aus ihrer Berufserfahrung, was wichtig ist, um auch komplexe Situationen und Sachverhalte präzise zu beschreiben; sie sind sprachlich und kognitiv in der Lage, sich verständlich auszudrücken und kennen Details der Vorkommnisse.
Zu diesen alle Strafverfahren betreffenden Umständen bezüglich Polizeizeug*innen kommt hinzu, dass Polizeibeamt*innen, die als Zeug*innen in Verfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen Kolleg*innen aussagen, keine neutralen Beobachter*innen sind, sondern durchaus Eigeninteressen haben. Auch wenn die Beamt*innen selbst nicht unmittelbar an der Situation beteiligt waren, werden einschlägige Strafverfahren nach wie vor oft als Angriff auf die Gemeinschaft der Beamt*innen verstanden.
Richter*innen sind zur Entscheidungsfindung oftmals auf Polizeibeamt*innen als Zeug*innen angewiesen. Die Zuschreibung positiver Attribute zur Polizei aufgrund positiver Erfahrungen in anderen Strafverfahren oder dem professionellen Auftreten vor Gericht befördert möglicherweise die Annahme positiver Eigenschaften sowohl bzgl. Polizeibeamt*innen als Beschuldigten als auch als Zeug*innen in Verfahren wegen Körper­verletzung im Amt.(10)

3. Die Bedeutung von Videomaterial

Nach den Befunden aus dem Projekt KviAPol spielen neben Zeug*innenaussagen (74 %) vor allem ärztliche Befunde (63 %) und Videoaufnahmen eine Rolle. Bei den Fällen, die ins Hellfeld gelangten und bei denen also ein Strafverfahren stattfand, war nach Angaben der Befragten in knapp der Hälfte der Fälle (48 %) privates oder polizeiliches Videomaterial vorhanden. Dies betraf vor allem Geschehen im Kontext von Demonstrationen und Fußballspielen. In den Verfahren, die mit Strafbefehl oder einer Verurteilung endeten, lag überdurchschnittlich häufig Videomaterial vor.
Vor dem Hintergrund der Bedeutung auch privater Videoaufnahmen für die Wahrheitsfindung erscheinen die Bestrebungen problematisch, solche Aufnahmen von öffentlichen Polizeieinsätzen zu unterbinden und zu sanktionieren.(11)

Fazit

Die Ergebnisse des Forschungsprojektes KviAPol zeigen ebenso wie die amtlichen Statistiken eine besondere justizielle Erledigungspraxis bei Strafverfahren wegen KV im Amt durch Polizeibeamt*innen. Es werden sehr viel mehr Verfahren als im Durchschnitt eingestellt, die Anklagequote ist außergewöhnlich niedrig. Dabei ist zu beachten, dass nach den Angaben der Befragten nur in einem geringen Teil der Fälle Strafanzeige erstattet oder von Amts wegen ermittelt wurde. Das Dunkelfeld ist dementsprechend groß einzuschätzen, was nach der Analyse der Angaben der Befragten vor allem auf ein mangelndes Vertrauen in die rechtsstaatliche Aufarbeitung zurückzuführen ist.
In den Verfahren stehen sich zwei Seiten mit ungleicher Definitionsmacht über das Geschehen gegenüber, was es im Verfahren zu berücksichtigen gilt. Dies impliziert einerseits, die mutmaßlichen Geschädigten genau wie mutmaßliche Geschädigte in anderen Verfahren wegen Gewaltdelikten zu behandeln und ihnen möglichst unvoreingenommen entgegenzutreten. Andererseits sind Polizeizeug*innen genau wie andere Zeug*innen auch zu behandeln. Ihre Aussagen sind selbst bei erhöhter Berufserfahrung und Expertise grundsätzlich nicht ›besser‹ als andere Zeug*innenaussagen(12) und angesichts der besonderen Verfahrenskonstellation kritisch auf mögliche Aussagemotivationen zu prüfen. Mehr Videoaufzeichnungen von Polizeieinsätzen könnten die Beweissituation in derartigen Verfahren entscheidend verbessern.

Laila Abdul-Rahman und Hannah Espín Grau sind Mitarbeiterinnen im Forschungsprojekt ›Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen‹ (KviAPol) an der RUB in Bochum. Prof. Dr. Tobias Singelnstein ist Projektleiter sowie Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.


(1)    Es handelt sich um die gekürzte Fassung des Beitrages aus Betrifft JUSTIZ 141 (März 2020). Wir danken Redaktion und Autor*innen für die Nachdruckgenehmigung; die InfoBrief-Redaktion hat den Beitrag leicht gekürzt.
(2)    Unser Dank gilt an dieser Stelle Ricardo Gummert für die tatkräftige Unterstützung.
(3)    Statistisches Bundesamt (2019a). Statistik über die Staatsanwaltschaften 2018, Fachserie 10 Reihe 2.6. Unter: www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/staatsanwaltschaften-2100260187004.pdf [sämtliche Websites wurden zuletzt am 07.01.2020 abgerufen]. Sachgebiet 53 (Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibedienstete) wird nicht in der Broschüre des Statistischen Bundesamtes veröffentlicht.
(4)    Statistisches Bundesamt (2019b). Statistik über die Strafverfolgung 2018, Fachserie 10, Reihe 3. Unter: www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Strafverfolgung-Strafvollzug/strafverfolgung-2100300187004.pdf, S. 20f.
(5)    Zum methodischen Vorgehen vgl. Abdul-Rahman, Espín Grau & Singelnstein (2019b). Die empirische Untersuchung von übermäßiger Polizeigewalt in Deutschland. Methodik, Umsetzung und Herausforderungen des Forschungsprojekts KviAPol. Kriminologie- Das Online Journal, 2, S. 231-249. Unter: www.kriminologie.de/index.php/krimoj/article/view/25/27.
(6)    Abdul-Rahman, Espín Grau, Singelnstein (2019a). Polizeiliche Gewaltanwendungen aus Sicht der Betroffenen. Zwischenbericht zum Forschungsprojekt ›Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen‹ (KviAPol). Ruhr-Universität Bochum, 17.9.2019, kviapol.rub.de/images/pdf/KviAPol_Zwischenbericht.pdf, S. 74.
(7)    Singelnstein, T. (2003), Institutionalisierte Handlungsnormen bei den Staatsanwaltschaften im Umgang mit Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt gegen Polizeibeamte. Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (MschrKrim), 86(1), 1-26; ders. (2014). Körperverletzung im Amt durch Polizisten und die Erledigungspraxis der Staatsanwaltschaften – aus empirischer und strafprozessualer Sicht. Zeitschrift Neue Kriminalpolitik (NK), 25(4), S. 15-27.
(8)    Statistisches Bundesamt (2019a). Statistik über die Staatsanwaltschaften 2018, Fachserie 10 Reihe 2.6. Unter: www.destatis.de/DE/Themen/Staat/Justiz-Rechtspflege/Publikationen/Downloads-Gerichte/staatsanwaltschaften-2100260187004.pdf, S. 56.
(9)    Theune, L. (2019). Zeug*innen wie alle anderen? Polizeibeamt*innen als Tatzeug*innen. Berlin. Protokoll der Podiumsdiskussion vom 07.11.2019, organisiert vom RAV Berlin. Unter: www.rav.de/fileadmin/user_upload/rav/veranstaltungen/Protokoll_Polizeizeugen_Berlin_7.11..pdf.
(10)    Artkämper, H., & Jakobs, C. (2017). Polizeibeamte als Zeugen vor Gericht (Bd. 1). Hilden: Verlag Deutsche Polizeiliteratur GmbH, S. 84.
(11)    Aktuell z.B. LG München I, Urteil vom 11.02.2019 – 25 Ns 116 Js 165870/17. Vgl. auch Ullenboom, D. (2019). Das Filmen von Polizeieinsätzen als Verletzung der Vertraulichkeit des Worts? Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2019, S. 3108-3112.
(12)    Kaminski, K. S., & Sporer, S. L. (2016). Sind Polizisten/-innen bessere Augenzeugen/-innen? Ein Vergleich zwischen Polizisten/-innen und Zivilpersonen hinsichtlich Beschreibungen und Identifizierungsaussagen. Recht und Psychiatrie, 34(1), S. 18-26.