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Rechtsstaat im Home Office

Anmerkungen zum Zugang zum Recht während der Corona-Krise

Wilhelm Achelpöhler und Matthias Lehnert

Durch die erheblichen Einschränkungen zur Prävention des Corona-Virus sind und waren auch die Justiz und die Anwaltschaft in ganz erheblichem Maße getroffen. Gerichtsverhandlungen finden kaum oder gar nicht mehr statt, die Geschäftsstellen und die Richter*innenschaft arbeiten nur eingeschränkt, Rechtsantragstellen werden geschlossen und Rechtssuchende auf schriftliche Anträge verwiesen, und Anwaltskanzleien können und wollen nur in wenigen oder gar keinen Fällen mehr persönliche Beratung in ihren Kanzleien anbieten.

Davon sind freilich nicht nur Richter*innen, Staatsanwält*innen und die Mitarbeiter*innen in den Gerichten, sowie die Rechtsanwält*innen betroffen. Vor allem bedeuten die massiven Einschränkungen, dass der Zugang zum Recht in diesen Zeiten gravierend eingeschränkt ist.
Der Rechtsstaat bewährt sich in der Krise: Dies mag ein Allgemeinplatz sein. Tatsächlich haben sich während der Corona-Krise zahlreiche rechtliche und tatsächliche Probleme und Fragen an den Rechtsstaat und die Justiz ergeben: die auch im Normalbetrieb geklärt und gestellt werden müssen. So siehe etwa die Zivilprozessordnung in ihrem § 128a zwar vor, dass Gerichtsverhandlungen auch per Videokonferenz durchgeführt werden können – während sich dies in diesen Zeiten erst recht angeboten hätte, ist diese Praxis aber noch längst nicht an allen Gerichten üblich.(1) In anderen Rechtsbereichen, etwa im Arbeitsrecht, wo Verhandlungen per Videokonferenz bislang nicht möglich sind, wurde eine entsprechende Änderung im Zuge der Corona-Beschränkungen diskutiert – was wiederum Grundsatzfragen vor allem zur Öffentlichkeit des Verfahrens aufwirft.(2) Schließlich weisen erst recht die starken Einschränkungen aller Beteiligten im Justizwesen darauf hin, wie wichtig die Fortentwicklung des elektronischen Rechtsverkehrs und elektronischer Kommunikation sein kann – und dass diese Entwicklung noch längst nicht ideal vollendet ist.

Einschränkungen der Justiz durch die Exekutive?

Neben diesen organisatorischen Fragen müssen sich bei derart gravierenden Einschnitten in das gesellschaftliche Leben – die im Großen und Ganzen notwendig sind und waren, um die Ansteckungskurve zu senken – alle Beteiligten fragen: Was ist vermeidbar und was kann aufgeschoben werden, welches Verfahren kann wie lange warten? In welchen Fällen rechtfertigt der Schutz der Gesundheit die Einschränkung des Zugangs zum Recht und zu einem effektiven Rechtsschutz? Und vor allem: Wer sollte über die Einschränkungen entscheiden?
Die Einschränkungen im Justizbetrieb beruhten ganz wesentlich auf Vorgaben oder jedenfalls Empfehlungen der Justizministerien der Länder.(3) Dies ist auf ein Grundproblem der deutschen Justiz zurückzuführend: Ihrer mangelnden Selbstverwaltung. Während es undenkbar erscheint, dass die Bundesregierung dem Bundestag Vorgaben zur Durchführung seiner Sitzungen macht, erfährt eben dieses Vorgehen gegenüber der Judikative wenig bis gar keine Kritik. So auch in der Corona-Krise, als zahlreiche Stimmen – auch aus der Anwaltschaft – einheitliche Vorgaben aus den Ministerien forderten. Wenngleich ein einheitliches Vorgehen auch aus Sicht der Anwaltschaft und der Rechtssuchenden zunächst wünschenswert erscheint: Ebenso wichtig ist es, dass erst recht in Zeiten eines vorgeblichen Ausnahmezustandes rechtsstaatliche Grundsätze reflektiert werden anstatt allein schnelle und pragmatische Lösungen eines Problems zu fordern.

Zugang zu Anwält*innen

Dass es vielmehr darauf ankommt, an die Vernunft aller Beteiligten zu appellieren, anstatt eine staatlich verordnete Lösung der Exekutive zu fordern, galt und gilt erst recht bei der Frage, ob und inwiefern der Kontakt von Anwaltschaft und Mandantschaft beschränkt oder gar völlig unterbunden werden soll. Die schärfsten Beschränkungen fanden auch hierbei in Italien statt: So wurden per Gesetz Anfang März alle Anwaltskanzleien für den persönlichen Kontakt grundsätzlich geschlossen, und auf das Telefon oder Internet verlegt. Die deutschen Bundesländer haben dies mit ihren Corona-Verordnungen unterschiedlich entschieden: Während einige Länder jegliche Termine bei Anwält*innen von den Kontaktbeschränkungen ausgenommen haben, verlangten andere Länder eine besondere Dringlichkeit des Anliegens. In Berlin wurde überdies in der Verordnung verlangt, dass eben diese Dringlichkeit gegenüber der Polizei und den Ordnungsbehörden glaubhaft gemacht werden muss.
Solche Hürden können für Rechtssuchende unüberwindbar sein: Nicht allen Menschen ist es möglich, ihr Anliegen sprachlich oder inhaltlich gegenüber einer Behörde offenzulegen. Vor allem kann es etwa Menschen, die von einer Abschiebung bedroht sind, traumatische Erfahrungen mit Polizeibehörden in ihrem Herkunftsland haben, oder Opfer von häuslicher Gewalt sind, nicht zugemutet werden, diese Umstände wildfremden Beamt*innen gegenüber zu erklären. Hinzu kommt die nicht abwegige Gefahr, dass Polizeibehörden von derartigen Ermächtigungen in übermäßiger Form Gebrauch machen, und etwa zu rassistischen Kontrollen instrumentalisieren. Ein Verfahren der Autoren gegen eben diese Bestimmung der Berliner Corona-Verordnung vor dem Verwaltungsgericht Berlin und dem Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg war letzten Endes nicht erfolgreich, jedenfalls aber stellten die Richter*innen des OVG fest, dass es »keiner Offenlegung der Einzelheiten des Sachverhalts« bedürfte, sondern die Dringlichkeit durch den*die Anwält*in mittels eines Anrufes bestätigt werden könne.(4)
Dies hat die Vorschrift praktisch entschärft, belässt aber ein, wenn auch zunächst nur symbolisches, Problem: Darf der Staat danach fragen, ob Rechtsrat dringlich ist oder nicht, ob ein persönliches Gespräch erforderlich ist oder nicht? Die Antwort kann nur lauten: Nein. Und zwar jetzt erst recht nicht: Zu keiner Zeit in der jüngeren Vergangenheit wurde das gesellschaftliche Leben mitsamt den Grundrechten derart massiv eingeschränkt. Kaum jemals in der jüngeren Vergangenheit hat zuvorderst die Exekutive derart intensive Einschnitte in persönliche Freiheiten vorgenommen, auf der vagen Grundlage einer Generalklausel aus dem Infektionsschutzgesetz.(5) Zugleich geraten zahlreiche Menschen durch die Einschränkungen im Arbeitsleben in existenzielle Notlagen – während die einen Arbeitnehmer*innen ihren Job und Selbständige ihre Aufträge verlieren, werden andere etwa als Angestellte in Supermärkten oder im Gesundheitsbereich zu Mehrarbeit angehalten. Die Ausgangsbeschränkungen verstärken die Gefahr von häuslicher Gewalt, die Schließung von Behörden führen zu Unsicherheiten bei Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus.
Diese Gemengelage zeigt: In diesen Zeiten ist der Zugang zum Rechtsrat unabdingbarer denn je – und darf nicht von staatlichen Vorgaben und Hürden abhängig gemacht werden. Viele Verfahren mögen aufgeschoben werden können, ein Großteil der Arbeit von Rechtsanwält*innen kann ohne persönliche Kontakte erledigt werden. Menschen können ins Home Office gehen – Rechtsstaat und Rechtsschutz hingegen nicht. Und wann es diesen Rechtsschutz braucht, hat den Staat nicht zu interessieren.

Wilhelm Achelpöhler ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht in Münster. Dr. Matthias Lehnert ist Rechtanwalt im Bereich Migrationsrecht in Berlin. Beide sind Mitglieder im RAV.


(1)    Kaufmann, Richter, Anwalt und Zeuge beim Skype-Chat, Legal Tribune Online, 02.01.2020, www.lto.de/recht/justiz/j/online-verhandlung-zivilverfahren-128a-zpo-videokonferenz-skype-zivilprozess/.
(2)    Kaufmann/Lorenz/Sehl, Plant die Regierung »Online-Gerichte«?, Legal Tribune Online, 02.04.2020, www.lto.de/recht/justiz/j/corona-online-gerichte-courts-justiz-video-verfahren-arbeitsgerichte-gerichtssaal-oeffentlichkeit/.
(3)    Kaufmann, Die Gerichte schalten auf Notbetrieb, Legal Tribune Online, 17.03.2020, www.lto.de/recht/justiz/j/corona-justiz-gerichte-notbetrieb-zugang-beschraenkungen-termine-verlegen-bundeslaender/.
(4)    Zu dem Verfahren: Lorenz, Zugang zum Anwalt zu Recht beschränkt, Legal Tribune Online, 09.04.2020, www.lto.de/recht/juristen/b/ovg-berlin-ovg-11-s-20-20-corona-verordnung-berlin-anwalt-dringend-erforderlicher-termin-rechtmaessig/.
(5)    Klafki, Corona-Pandemie: Ausgangssperre bald auch in Deutschland?, JuWissBlog Nr. 27/2020 v. 18.3.2020,
www.juwiss.de/27-2020/.