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Höchststrafe Mindestlohn

Zum Straf- und Wohlfahrtssystem in den USA

Volker Eick

Beginnend in den frühen 1990er-Jahren ist die Kriminalität in den Vereinigten Staaten bis heute auf einen historischen Tiefstand gesunken. Und, obwohl detaillierte Literatur zu diesem Phänomen Regalmeter um Regalmeter füllt, gelten der offiziellen Politik ausschließlich die ›Zero Tolerance‹-Strategie, wie sie u.a. der damalige Polizeichef von New York City, William ›Bill‹ Bratton propagierte und die Masseninhaftierungen, die der Kriminologe Nils Christie als ›Gulags, Western Style‹ bezeichnete, als Grund für diesen Erfolg.
Bonnet erinnert aber daran, dass sich ohne einen historischen Rückblick und vor allem ohne Blick in die Sozialpolitik weder der Rückgang der Kriminalitätsraten noch Masseninhaftierungen erklären lassen – und vice versa. So hat die neoliberale Restrukturierung des Wohlfahrtsstaats (»ending welfare as we know it« war der vom damaligen US-Präsidenten Bill Clinton geprägte Slogan, ›workfare‹ das dafür installierte System) auch eine koloniale Vorgeschichte in den USA, die sich in zwei Sozialsystemen für Schwarze und für Weiße bis weit in die 1950er-Jahre fortsetzt.
Die regierungsamtlich erklärten ›Kriege‹ – vom war on poverty (der 1960er-Jahre) zum war on drugs (1970er) und war on crime (1980er) bis zum war on terror gehören ebenso dazu und bereiteten den Boden für die Masseninhaftierungen (Kap. 1 und 2).

›VERSCHOLLENE DEUTSCHE THEORIE‹

Theoretisch greift Bonnet u.a. auf die 1939 erschienene Schrift ›Punishment and Social Structure‹ von Otto Kirchheimer und Georg Rusche zurück, die erst spät in deutscher Übersetzung erscheint.(1) Bonnet ruft so in Erinnerung, dass ›Strafe‹ historisch dem Management und der Durchsetzung von Lohnarbeit diente – die Behauptung, sie habe sich gleichermaßen gegen diejenigen gerichtet, die nicht arbeiten konnten und nicht arbeiten wollten (S. 20), wird man allerdings zurückweisen müssen. Gleichwohl, »Hintergrund von Bestrafung ist (nicht allein) Kriminalitätskontrolle, sondern (auch), die Armen in Lohnarbeit zu zwingen« (ebd.). Zusammen bestimmen die Höhe der (niedrigsten) Löhne, der (niedrigsten) Sozialleistungen und die Härte des Strafsystems, ob Kriminalität sinkt oder steigt – und was die sozialen und gesellschaftlichen Kosten eines solchen Systems sein werden. Wohlfahrtsleistungen müssen weniger attraktiv sein als Niedriglohnarbeit (workfare) und (Klein-)Kriminalität weniger attraktiv als Wohlfahrt. Aus dieser Perspektive bestimmt der Lebensstandard der untersten Klasse von Arbeitnehmer*innen in einer Gesellschaft die Obergrenze (das upper limit) für die Großzügigkeit der Wohlfahrtsleistungen und für die Humanität des Strafsystems in der jeweiligen Gesellschaft. Kapitel 3 beschreibt diese Logik für East New York, ein Stadtteil von Brooklyn, in dem die Kriminalität in den 1990er-Jahren ebenfalls zurückgegangen, zur selben Zeit aber die Polizeigewalt – weitgehend unhinterfragt – auf den Straßen zugenommen hat. Willkürliche heißt dabei nicht ungezielte Polizeigewalt, denn die Angriffe richteten sich nicht nur gegen die schwarze Bewohner*innenschaft, sondern maßgeblich gegen diejenigen, die sich im Zuge der Aufwertung (Stichwort ›gentrification‹) des Quartiers gegen Privatisierung und Enteignung von bezahlbarem Wohnraum richteten (Kap. 4). Die Eindämmung von Kriminalität funktioniert also – ist funktional für die diversen ›Märkte‹. Was ist noch der Preis?

›ONCE YOU WERE IN, YOU ARE OUT‹

Nach Bundesgesetz dürfen Ex-Gefangene in den USA sich nicht in Wohnungen des Öffentlichen Wohnungsbaus einmieten (den es in den USA durchaus gibt); auch Angehörige können ihnen keinen Unterschlupf gewähren, wollen sie sich nicht strafbar machen (Vergleichbares gilt für Großbritannien). Um das Gesetz zu umgehen und eine hohe Anzahl entlassener und wohnungsloser Strafgefangener auf den Straßen zu vermeiden, greift – das beschreibt Kapitel 5 – die New Yorker Stadtregierung auf innova- und kreative nonprofits – also freie Träger, organisiert als Verein oder gGmbH – zurück. Im Ergebnis (ein wenig fühlt man sich wie in Berlin-Neukölln…) versuchen diese nonprofits, das verdeutlicht Kapitel 6, entweder als hochprofessionelle Dienstleister oder als Basisorganisationen – jedenfalls mit sehr begrenzten öffentlichen Mitteln – die schlimmsten Auswirkungen dieser sozialräumlichen Ausgrenzung zu überwinden. Sie tragen daher – like it, or not – dazu bei, die Sozialstandards und erzielbaren Niedriglöhne weiter abzusenken. Denn es scheint ja mit ›weniger‹ zu gehen… Merksatz: Je mehr (professionalisierte) nonprofits, desto mehr Privatisierung, Kommodifizierung und Abschichtung von Verantwortung öffentlicher Dienstleistungen auf die lokale Ebene oder auf Dritte (devolution, gern auch als ›Subsidiarität‹ verbrämt). Auch hierfür ist und bleibt Berlin das Paradebeispiel in Deutschland.2

WELCOME TO EAST NEW YORK

Kapitel 7 führt aus, dass und wie die New Yorker Stadtregierung dafür sorgt, dass der Druck auf die in diesen kreativen Nischen (Über)Lebenden so hoch bleibt, dass sie sich – wie prekär auch immer – in den privaten Wohnungsmarkt flüchten: »Für diejenigen, die die Straße vorziehen, stehen Haft- und Gefängnisplätze bereit« (S. 7). Der Aufwand, der betrieben wird, um ein dem Grunde nach dysfunktionales System am Laufen zu halten, ist enorm. Aus sozial- und kriminalpolitischer Perspektive, aber auch mit Blick auf (neo)liberale Theorievorstellungen, wird es unabweisbar klar:
Über sinnvolle Strafrechtsreformen kann sicher und muss nachgedacht werden, aber es wird sie nicht geben können, wenn nicht auch insgesamt der Lebensstandard ›unterer Schichten‹ und der Mindestlohn – die leidlich etablierte Forderung in den USA lautet daher ›living wage‹ (statt minimum wage) – steigen. Die Vehemenz, mit der das Trump-Regime, aber auch die Bundesregierung – etwa jetzt im Zeichen von COVID-19 – diese ›billigen‹ Wahrheiten beschweigen, macht die Funktionalität kriminalpolitischer Lösungen für den Erhalt des bestehenden Systems deutlich.
In seiner kleinteiligen empirischen Analyse ist Bonnet das große Ganze nicht aus dem Blick geraten – die gewählte Schriftgröße für die Veröffentlichung war für einen alten weißen Mann in prekärer Lohnabhängigkeit und ohne private Krankenversicherung eine Herausforderung. Auch insoweit ein authentisches Leseerlebnis am ›oberen Limit‹…

Franҫois Bonnet, The Upper Limit. How Low-Wage Work Defines Punishement and Welfare, (University of California Press: Oakland/CA 2019)

Volker Eick ist Politikwissenschaftler und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.


(1)    Vgl. O. Kirchheimer & G. Rusche, Sozialstruktur und Strafvollzug. Frankfurt/M. 1974.
(2)    Vgl. V. Eick, B. Grell, M. Mayer, J. Sambale, Nonprofit-Organisationen und die Transformation lokaler Beschäftigungspolitik. Münster 2004 [vergriffen],
www.socialnet.de/rezensionen/4016.php.