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Wie es zur Gründung des RAV kam(1)

EINE REKONSTRUKTION(2)

Ingo Müller

Mit dem am 11. Februar in der Stadthalle Hannover gegründeten Republikanischen Anwaltsverein sollte bewusst an Traditionen der Weimarer Republik angeknüpft werden, die lange verschüttet waren. Der Name wurde nicht zufällig dem des Republikanischen Richterbundes (1921-1933) nachgebildet, und nicht nur der Name, auch die Organisation. Als der nämlich im Dezember 1921 die Arbeit aufnahm, zählten schon zu seinen Gründungsmitgliedern nicht nur Richter, sondern auch Hochschullehrer wie Gustav Radbruch und Wolfgang Mittermaier, Gewerkschaftsjuristen wie Hugo Sinzheimer und Rechtsanwälte wie Ludwig Bendix und Ernst Fraenkel. Geeint hat sie ihr Kampf für die Demokratie, und unter den fast durchweg republikfeindlichen Justizjuristen waren sie eine kleine Minderheit. Aber die Anwaltschaft war damals von liberalen Kollegen jüdischer Herkunft dominiert: im Wirtschaftsrecht waren Max Hachenburg, Julius Magnus und Hermann Staub tonangebend, die Reflektion über die Grundlagen des Rechts, bald Rechtssoziologie genannt, wurde vorwiegend von Rechtsanwälten betrieben wie Martin Beradt, Ludwig Bendix, Erich Eyck, Ernst Fraenkel, Friedrich Großhut und Hugo Sinzheimer, auch als Begründer des deutschen Arbeitsrechts bekannt. Die theoretische Grundlegung der Anwaltsfreiheit war ein Monopol der Anwälte, vor allem der jüdischen:
Siegbert Feuchtwangers Grundlagenwerk ›Die freien Berufe. Im besonderen die Anwaltschaft‹, Julius Magnus‘ ›Die Rechtsanwaltschaft‹ sowie der Kommentar der Brüder Max und Adolf Friedländer zur Rechtsanwaltsordnung beschrieben die freie Advokatur und verteidigten sie gegen Angriffe, an denen es seit 1879 nie gefehlt hat. Besonders unter Strafverteidigern fand man viele jüdische Anwälte: Max Alsberg, Alfred Apfel, Max Hirschberg, Philip Loewenfeld, Paul Levi, Hans Litten, Rudolf Olden und Kurt Rosenfeld führten den oft vergeblichen Kampf um die Republik, gegen eine ausufernde politische Justiz und gegen diverse rechtsradikale Terrororganisationen. Viele der Anwälte waren außerdem Schriftsteller, schöngeistige und fachwissenschaftliche, Publizisten und Journalisten, eine in Deutschland nie wieder erreichte Verbindung von Geist und Recht. All diese Anwälte standen dem republikanischen Richterbund nahe, wenn sie nicht gar Mitglieder waren.

GLEICHSCHALTUNG – AUCH IN DER NACHKRIEGSZEIT

Damit war schlagartig Schluss nach der Gleichschaltung der Presse, auch der juristischen Fachpresse, im Gefolge der Reichstagsbrandverordnung und nachdem das Gesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft am 7. April 1933 die Entlassung der nicht arischen und politisch missliebigen Anwälte dekretiert hatte. Die Rechtsanwaltschaft verlor in der Folgezeit rund ein Fünftel ihrer Mitglieder, und zwar die lebendigsten, demokratisch engagierten und brillantesten. Im Kammergerichtsbezirk sogar rund die Hälfte. Von diesem Verlust an Rechtskultur hat sich die deutsche Jurisprudenz wohl bis heute nicht erholt.
Die Erinnerung an diese Anwaltskultur und an den linksliberalen Richterbund wurde über vierzig Jahre verdrängt. Die Rechtsanwaltschaft war, anders als der öffentliche Dienst, nach dem Ende des Dritten Reichs nicht entnazifiziert worden, im Gegenteil: Schwer belastete Nazi-Juristen, die nicht weiter im Staatsdienst arbeiten konnten oder wollten, wechselten in die Anwaltschaft. Wer sich in den Nachkriegsjahrzehnten in Norddeutschland auf juristische Examina vorbereitete, hatte die Wahl zwischen den Repetitoren Curt Rothenberger in Hamburg, vormals Staatssekretär im Reichsjustizministerium 1942/43, und Ernst Lautz in Lübeck, vormals Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof.
Die Anwaltschaft war zwar an den ungeheuren Justizverbrechen des Dritten Reichs kaum beteiligt, aber gleichgeschaltet war auch sie, und sie blieb es in der Nachkriegszeit. Die jüdischen und demokratischen Juristenkollegen waren zum großen Teil tot, viele der Vertriebenen blieben im Exil. Was ebenfalls nicht zurückkehrte, waren Geist und Rechtskultur, denn mit den Menschen waren auch ihre Theorien und Gedanken vertrieben worden, auch die Idee der freien Strafverteidigung. Die Rechtswahrerfront gab weiterhin den Ton an und beschönigte, verharmloste oder leugnete gar das geschehene Unrecht. Wie man mit dem Vermächtnis der liberalen Anwälte umging, zeigt sich beispielhaft an Max Alsbergs Standardwerk ›Der Beweisantrag im Strafverfahren‹, einem leidenschaftlichen Plädoyer für das Beweisrecht des Strafverteidigers als dessen einzige Waffe. Es war als jüdisches Gedankengut aus den Gerichts- und Universitätsbibliotheken aussortiert und vernichtet und, was fast noch schlimmer ist, in der Bundesrepublik einem Staatsanwalt zur Überarbeitung gegeben worden. 1983 erschien dann die fünfte Auflage, nun von einem konservativen Strafsenatsvorsitzenden am Kammergericht fortgeführt, verstümmelt, verhunzt und mit entgegengesetzter Tendenz. Zwar gibt es seit 2013 eine Neubearbeitung dreier jüngerer Strafrechtspraktiker, aber von den Nachkriegsbearbeitungen hat sich das Werk nicht erholt.
In der Bundesrepublik dauerte es rund 25 Jahre bis eine nachgewachsene Generation, erschüttert durch die Enthüllungen des Jerusalemer Eichmann-Prozesses und der Frankfurter Auschwitz-Prozesse gegen die Generation der Nazi-Täter und -Mitläufer rebellierte und sich nicht länger mit der Floskel abspeisen ließ:
»Geht doch nach drüben, wenn es euch hier nicht passt«. Ausgerechnet die Generation, die halb Europa in Schutt und Asche gelegt und Deutschland in einen Trümmerhaufen verwandelt hatte, hielt der rebellierenden Jugend entgegen: »Wir lassen uns von euch nicht kaputt machen, was wir hier aufgebaut haben«. An den Universitäten griffen Studenten erstmals nach den frühen Werken ihrer vorher so nachsichtig behandelten Lehrer, und ihnen gingen die Augen über. Zudem schärfte eine Reihe politischer Ereignisse und Skandale das Bewusstsein der nachwachsenden Generation. Die Spiegel-Affäre des Jahres 1962, der dreiste Versuch der Bundesregierung, mit Polizei und Justiz ein kritisches Presseorgan wegen angeblichen Landesverrats mundtot zu machen, trieb erstmals eine kritische, meist studentische Öffentlichkeit auf die Straße. 1965 lehnte der Bundesgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens ab, das Verfassungsgericht weigerte sich allerdings – die Abstimmung fiel 4 zu 4 aus – eine Verletzung der Pressefreiheit festzustellen.
Als 1966 Unionsparteien und SPD sich zu einer Großen Koalition zusammenschlossen, ausgerechnet unter der Kanzlerschaft eines ehemaligen NSDAP-Mitglieds, und es außer der kleinen FDP-Fraktion keine parlamentarische Opposition mehr gab, erhielten die Proteste gegen diese Regierung ihren Namen: Außerparlamentarische Opposition – kurz APO. Das Hauptvorhaben der Regierung, die Notstandsgesetzgebung, mobilisierte erstmals den Protest Hunderttausender.

EIN RECHTSSTAAT SCHEITERT – GRANDIOS

Im Frühjahr 1967 erschien das Buch des FU-Assistenten Bahman Nirumand ›Persien, Modell eines Entwicklungslandes‹. Wie zur Illustration der in diesem Buch beschriebenen Brutalität des iranischen Unterdrückungsapparates erschien kurz darauf Shah Reza Pahlawi zum Staatsbesuch in Deutschland, im Gefolge Gattin Farah Diba und dutzende Geheimdienstmänner, die anlässlich des obligatorischen Berlin-Besuches am 2. Juni 1967 mit Holzlatten auf demonstrierende Studenten einschlugen. Die Situation eskalierte, ein Berliner Polizist erschoss den Studenten Benno Ohnesorg. Das radikalisierte den Protest erneut, zumal der Polizeiobermeister Kurras kurz darauf wegen »Putativ-Notwehr-Exzesses« freigesprochen und zum Hauptmeister befördert wurde.
Der Mitte der sechziger Jahre eskalierende Krieg der USA gegen das kommunistische Nordvietnam und ihre Pressionen gegen das sozialistische Kuba führten zu Solidarisierungen mit den Dritt-Welt-Ländern. Polizei und Justiz reagierten mit unnachsichtiger Härte, die Presse – nicht nur die des Springer-Konzerns – mit Hetzkampagnen wie man sie seit Julius Streicher und Josef Goebbels nicht mehr für möglich gehalten hatte. Vertreter der älteren Generation in Justiz, Verwaltung und Wissenschaft – die Nazijuristen standen kurz vor der Pensionierung und dominierten als Rektoren und Dekane weiterhin die Universitäten (Eberhard Schmidt, Theodor Maunz, Erich Schwinge) – wehrten sich nach Kräften. Die Stabsstellen hatten inzwischen die Frontoffiziere des Weltkriegs übernommen. Sie alle reagierten, wie sie es gelernt hatten, mit Repression und Unbelehrbarkeit und boten damit stets neuen Anlass zu Protesten. 1968 hob zudem der Berliner Strafsenat des Bundesgerichtshofs die einzige Verurteilung eines Mordrichters des Dritten Reichs auf. Bald darauf sprach ein Berliner Schwurgericht Hans-Joachim Rehse endgültig frei.
Anfang der siebziger Jahre verfiel die sehr heterogene, bisweilen recht fröhliche studentische Einheits-Protest-Front in unzählige kommunistische Parteien und Gruppen, Zellen und konspirative Zirkel. Alle von großer verbaler Militanz, alle im Besitz der einzigen Wahrheit und etliche auch gewaltbereit bis zur Ermordung angeblicher Volksfeinde.
Das Establishment – wie man es damals nannte – hatte schnell eine anfängliche Verunsicherung überwunden und schlug organisiert zurück. Ausgerechnet unter der Führerschaft eines selbst von Nazis verfolgten Bundeskanzlers beschlossen die Ministerpräsidenten, dem von der APO propagierten Marsch durch die Institutionen eine rigide Berufsverbotsregelung für alle linksgerichteten Nachwuchskräfte entgegenzusetzen, und zwar nicht nur für den öffentlichen Dienst, sondern auch für die Anwaltschaft. Passenderweise bedienten sie sich dabei der einst im Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums verwandten ›Gewährbieteklausel‹: der Bewerber musste Gewähr bieten, jederzeit rückhaltlos, einst für den nationalen Staat, nunmehr für die freiheitlich demokratische Grundordnung einzutreten, nach dem Verständnis des stets bei Einstellungen zu beteiligenden Verfassungsschutzes war der Unterschied ohnehin nicht groß.
Die Verfolgung anarchistischer Gewalttäter erzeugte eine Hysterie in der Öffentlichkeit, gegenüber der die heutige Reaktion auf islamistische Terrorakte bedächtig und gelassen erscheint. Schon wer die RAF ›Bader-Meinhof-Gruppe‹ nannte statt ›Bande‹, machte sich des Sympathisantentums verdächtig. Die bedrückende Atmosphäre jener Zeit ist in Filmen wie ›Deutschland im Herbst‹ und ›Die bleierne Zeit‹ gut eingefangen, deprimierenden Dokumenten einer schweren Krise der Demokratie und des Rechtsstaats in Deutschland.
Die terroristischen Anschläge der RAF und verwandter Organisationen wurden mit Fug und Recht als Herausforderung des Rechtsstaats bezeichnet. Es hätte seine Bewährungsprobe sein können, aber er ist grandios daran gescheitert. Der in der Haftanstalt Stammheim durchgeführte Prozess vor dem OLG Stuttgart entwickelte sich mehr und mehr zur Schädelstätte bundesdeutscher Rechtsstaatlichkeit, von den Machenschaften bei der Besetzung des Senatsvorsitzenden über zahlreiche Verteidigerausschlüsse samt Ehrengerichts- und Strafverfahren, dauernde Anpassungen der Strafprozessordnung an die Notwendigkeiten dieses Prozesses und einer vom Bundesjustizministerium und Bundesanwaltschaft angezettelten Kampagne gegen die dort tätigen Strafverteidiger. Eine ganze Reihe sog. Anti-Terror-Gesetze bereicherte die Strafprozessordnung um den Verteidigerausschluss, das Verbot der Doppelverteidigung, die Trennscheibe und die Kontaktsperre, von den extralegalen Maßnahmen wie Zwangsverteidigung und Lauschangriff auf Verteidigergespräche ganz abgesehen. Jeder neue Terrorakt gab Anlass zu neuen Strafprozessregelungen und erneuter Verkürzung der Verteidigerrechte. Im Juni 1978 meinte Bundeskanzler Schmidt, nun müsse Ruhe einkehren und neue Gesetze seien nicht erforderlich. Der FDP-Vorsitzende Genscher kündigte, nachdem seine Partei Wahlen in Hamburg und Niedersachsen verloren hatte, die Rückkehr zu Liberalität und Rechtsstaatlichkeit an. Aber als am 25. Juli 1978 Terroristen ein Loch in die Außenmauer der Celler Haftanstalt sprengten, offenbar um dort einsitzende RAF-Genossen gewaltsam zu befreien, bewog dieser Anschlag auf unseren Rechtsstaat den Bundestag wieder zu verschärfter Gesetzgebungsarbeit. Acht Jahre später musste Ministerpräsident Ernst Albrecht einräumen, dass der niedersächsische Verfassungsschutz die Sprengung vorgenommen hatte, gerechtfertigt durch ›übergesetzlichen Notstand‹.

ANWÄLTE DES TERRORS

Ende der siebziger Jahre hatte die damals hundertjährige Strafprozessordnung schließlich einen Zustand erreicht, der dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ein Alibi dafür bot, politisch verfolgte Kurden der berüchtigten türkischen Militärjustiz zu überstellen:
»Dem Bundesamt liegt ein umfangreiches Gutachten des Max-Planck-Institutes vor, das u.a. auch eine synoptische Gegenüberstellung des türkischen Militärverfahrensrecht mit der deutschen Strafprozessordnung enthält. Dieser Vergleich zeigt eine weitgehende Übereinstimmung, teilweise sogar eine liberalere Ausgestaltung des türkischen Militärverfahrensrechts…« (Frankfurter Rundschau, 9.12.1982).
Die Krise des Rechtsstaats in den frühen siebziger Jahren blieb nicht auf Gesetzgebung und Strafgerichtsbarkeit beschränkt, sie äußerte sich auch in einer menschenverachtenden Asylrechtsprechung der Verwaltungsgerichte und machte vor dem Bundesverfassungsgericht nicht Halt. Anfang der Siebziger erschienen auch diesem Gericht Rechtsstaat und Bürgerrechte zunehmend als Sicherheitsrisiko. Man mag darüber streiten, welche Entscheidung die schlimmere ist, das Abhörurteil vom 15. Dezember 1970 (»es kann nicht Sinn der Verfassung sein, den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt [für Verfassungsschutz] die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrages nötig sind«) oder die Berufsverbotsentscheidung vom Mai 1975 mit ihrer Pflicht für den Beamten, »sich hier jederzeit zu Hause zu fühlen«. Das Gericht hatte aber schon in der von den Gründungsmitgliedern des RAV, Heinrich Hannover und Rudolf Monnerjahn, erstrittenen Unteroffiziers-Diskussions-Entscheidung vom Januar 1970 die Grundrechte in Grundpflichten umgedeutet und festgelegt, dass »die Bundesrepublik von ihren Bürgern eine Verteidigung der freiheitlichen Ordnung erwartet und einen Missbrauch der Grundrechte […] nicht hinnimmt«. In einer Diskussion der Notstandsgesetze hatte nämlich ein Stabsunteroffizier der Bundeswehr geäußert, man dürfe in der Bundesrepublik nicht einmal mehr ungestraft seine Meinung äußern. Mit dieser Äußerung handelte er sich eine Disziplinarstrafe ein, und zu seiner Verfassungsbeschwerde urteilte der Zweite Senat wie folgt:
»Die Meinungsäußerung, bei uns würde man für  Meinungsäußerungen  bestraft, diffamiert die freiheitliche Grundordnung und ist so offensichtlich unzutreffend, dass man für sie zu Recht bestraft wird«. Mit dieser feinen Dialektik schaffte es das Gericht sogar, die Verfassungsbeschwerde zurückzuweisen und gleichzeitig dem Beschwerdeführer voll und ganz Recht zu geben.
Die Begleitmusik zur Anti-Terror-Gesetzgebung bildete eine von Bundesjustizministerium und Bundesanwaltschaft initiierte publizistische Offensive gegen die ›Anwälte des Terrors‹. Schon 1972 hatte der spätere Generalbundesanwalt Buback in einem Interview mit der Illustrierten Stern behauptet, „dass die Entgegennahme solcher Mandate standeswidrig ist“. In der Sicherheitsdebatte des Bundestages vom 13. März 1975 stand für Justizminister Vogel fest: »Dass Verteidiger den Verkehr mit Untersuchungsgefangenen missbraucht haben und dass dieser Missbrauch gefährlich ist, bestreitet niemand«. Der Abgeordnete Franz Josef Strauß sah in der Stuttgart-Stammheimer Verteidigerbank ein »Forum zur Verbreitung der Terrorphilosophie der Bader-Meinhof-Bande«, und der bayrische Innenminister Merck fand es »unfassbar und unglaublich, dass es für Terroristen keinen sichereren Ort gibt […] als in den Gefängniszellen, in denen sie mit Hilfe ihrer Anwälte bewacht und ungestört konspirativ terroristische Aktionen […] steuern können«. Bild berichtete, dass die Verteidiger als »Briefträger für Bombenleger und Polizistenmörder die Anleitungen von Zelle zu Zelle schmuggeln«, und die Hamburger Morgenpost wusste, dass die Anwälte »über die Leichen ihrer Mandanten Politik machen wollen«.
Die Bundesanwaltschaft machte ausgiebig von den Möglichkeiten zum Verteidigerausschluss Gebrauch und beantragte ihn gegen nahezu jeden Verteidiger in Terroristenverfahren, jedenfalls wenn er es wagte, aus der Rechtswahrerfront auszuscheren. Daneben liefen gegen alle linksverdächtigen Anwälte Straf- und Ehrengerichtsverfahren, 1977 allein gegen die Rechtsanwälte Eschen, Elfferding, Ehrig, Goy, Groenheit, Heinisch, Hoffmann, Moser, Panka, Reme, Schöndienst, Spangenberg und Stroebele (Berlin), Groenewold, Köhnke, Maeffert und Rogge (Hamburg), Maiergünther (Kiel), Düx, Golzem, Kempff, Knöss, Koch, Kopp, Oberbinder, von Plottnitz, Riedel, Themming und Weidenhammer (Frankfurt/M.), Becker und Härdle (Heidelberg), Baier (Mannheim), Heldmann (Darmstadt), Arnsberger, Croissant, Müller und Newerla (Stuttgart), Gildemeier (Augsburg), Bahr-Jendges, Hannover und Tönnies (Bremen), Arnold, Bendler, Langmann, Montag, Niepel, Wächtler und Wolff (München) sowie Fischer (Köln). Hans-Heinz Hellmann berichtete, die Anschuldigungsschriften der Staatsanwaltschaft seien bei ihm »regelmäßig wie die Ergänzungslieferungen für die Gesetzessammlung eingegangen«.
Meist wurden harmlose, keineswegs strafbare Handlungen zum Anlass für Ausschlüsse, Ehrengerichts- und Strafverfahren genommen. Klaus Croissant hatte z.B. dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel ein Interview mit seinem Mandanten vermittelt: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Christian Stroebele warf man vor, seinen Mandanten mit Du und Vornamen angesprochen und »sich in Form und Inhalt seiner Äußerungen der kriminellen Vereinigung angeglichen zu haben«. Als Beleg dafür diente folgendes Schreiben:
»Vielleicht macht ihr Euch bis zu meinem nächsten Besuch […] auch mal grundsätzliche Gedanken zur Funktion der Anwälte, Eurer Anwälte in dem kommenden Verfahren und überhaupt. Aber bitte realistische, die Anwälte als Speerspitze der Revolution oder der verlängerte Arm der RAF-Genossen, die inhaftiert sind? Wohl kaum, oder dann eben keine juristische Hilfe mehr«.
Auch darin sah das OLG Stuttgart die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung und schloss ihn am 13. Mai 1975 von der Verteidigung aus. Kurt Groenewold hatte nach dem Verbot der Mehrfachverteidigung ein System zur internen Information unter den zahlreichen Verteidigern sowie zwischen ihnen und den inhaftierten Beschuldigten aufgebaut, deren einzelne Sendungen stets vom Ermittlungsrichter gelesen und gebilligt worden waren. Dafür wurde er vom Landgericht Hamburg zu zwei Jahren Freiheitsstrafe verurteilt und vom Ehrengericht mit einem langjährigen Vertretungsverbot in Strafprozessen belegt, denn auch in diesem Verteidigerhandeln sah man in Hamburg die Unterstützung einer terroristischen Vereinigung.

WERNER HOLTFORT UND DER RAV

Etliche der Genannten zählen zu den Gründungsmitgliedern des RAV. Die treibende Kraft bei der Gründung der neuen Anwaltsorganisation, der Hannoveraner Anwalt Werner Holtfort, hatte zwar nicht die Stammheimer Verteidigererfahrung gemacht, dafür aber eine ganz eigene. Der Vizepräsident der Rechtsanwaltskammer beim OLG Celle und Präsident der dortigen Notarkammer kokettierte mit seiner durch und durch bürgerlichen Vergangenheit und stellte sich gern wie folgt vor:
»Geboren 1920, verheiratet. Mehrfach verwundeter und dekorierter Frontoffizier. Studium der Rechts- und Staatswissenschaft, Volkswirtschaft, Philosophie und Geschichte. Seit 1955 Rechtsanwalt, seit 1960 Notar. Florierende Praxis in Hannover […] November 1972 Bundesverdienstkreuz Erster Klasse«.
1965 hatte Holtfort als Berichterstatter im Vorstand der Celler Rechtsanwaltskammer das Zulassungsgesuch des Juristen und Steuerberaters Dr. Schmidt-Rux zu prüfen, insbesondere im Hinblick auf seine Würdigkeit. Damals wurde Steuerberatern regelmäßig die Anwaltszulassung verweigert, und außerdem war Schmidt-Rux Vergangenheit zu untersuchen. Aber da er im Dritten Reich nur Oberregierungsrat der Danziger Finanzverwaltung war, hatte Holtfort keine Bedenken, die Zulassung Schmidt-Rux, der nebenbei auch Präsident der Steuerberaterkammer und enger Berater der Zeitungsverlegerin Luise Madsack war, gegen die Dünkel seiner Vorstandskollegen durchzusetzen.
Zehn Jahre später enthüllte die Illustrierte Stern Schmidt-Rux wahre Identität. In Wirklichkeit hieß er nämlich Schmidt-Römer und war Büroleiter Martin Bormanns gewesen, des Leiters der Parteikanzlei, Sekretärs des Führers und seit 1941, nach Rudolf Heß Englandflug, faktisch Hitlers Stellvertreter und in Nürnberg in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Schmidt-Römer hatte den Rang eines Reichsamtsleiters, eine der höchsten Funktionen der NSDAP überhaupt. Holtfort beantragte die Rücknahme der Anwaltszulassung nach § 14 der Rechtsanwaltsordnung, da Schmidt-Römer sie sich durch falsche Angaben erschlichen hatte. Der Antrag erwies sich als Stich ins Wespennest. Die Anwaltskammer lehnte die Rücknahme der Zulassung mehrheitlich ab, wobei die Stimme des Kammerpräsidenten und ehemaligen Ortsgruppenleiters von Celle den Ausschlag gab, und beantragte beim Generalstaatsanwalt ein Ehrengerichtsverfahren gegen Holtfort. Nun begann eine Kampagne, an der sich die einflussreichsten Hannoveraner Juristen, unter anderem Josef Augstein, Bruder des Spiegel-Herausgebers, und der Justizstaatssekretär Erich Bartsch beteiligten. Das Büro Augstein verschickte anonyme Pamphlete, meist Spottverse, deren einer mit den Worten endete: »Mein Gott, Werner, bleib zu Haus. Immer schlechter siehst Du aus. Blas doch ab den Trauermarsch, sonst kriegst Du Feuer unterm Arsch«. Es gab nächtliche Anrufe und Morddrohungen gegen Holtfort sowie zwei Brandanschläge, bei denen sein Auto ausbrannte und seine im Wohnhaus gelegene Garage Feuer fing. Als die Lokalpresse über den Brand berichtete, u.a. mit einem Foto Holtforts, gab dies Anlass für ein weiteres Ehrengerichtsverfahren, diesmal wegen verbotener Werbung. Einer Abwahl als Präsident der Notarkammer kam Holtfort mit seinem Rücktritt zuvor. Auch aus dem Vorstand der Anwaltskammer zog er sich zurück.
Nachdem ein von Holtfort angeregter Arbeitskreis Grundsätze für die Verteidigertätigkeit aufstellte und sich dabei auf programmatische Schriften Franz von Liszts, Max Alsbergs und Max Güdes (des ehemaligen Oberbundesanwalts und CDU-Rechtspolitikers) bezog, diffamierten Richterbund und Anwaltsverein diese als ›marxistisch‹ und ›ostzonal‹. Nach der ebenso polemischen wie niveaulosen Typisierung als ›klassenkämpferisch‹ durch den Göttinger Strafrechtsprofessor Hans-Ludwig Schreiber und seinen Schüler Werner Beulke stellte Holtfort in seinem programmatischen Aufsatz ›Ein Stück Gegenmacht – zur Rollenfindung des Rechtsanwalts‹ richtig: »Bei dem Streit um den Begriff Organ der Rechtspflege stehen sich nicht Sozialisten und Kapitalisten gegenüber, sondern Anhänger des Obrigkeitsstaates und des freiheitlichen Rechtsstaates«.
Da sich fast alle Strafrechts- und Ehrengerichtsverfahren gegen Strafverteidiger richteten, gründeten sich lokale und regionale Strafverteidigervereinigungen und -initiativen zum Widerstand gegen die Repressalien und gegen die immer neuen ›Anti-Terror-Gesetzes-Pakete‹, die weniger der inneren Sicherheit dienten, als vielmehr dem Abbau von Verteidigungsrechten im Strafprozess. Im Mai 1977 trafen sich die Verteidigerinitiativen zum 1. Strafverteidigertag in Hannover. Das Treffen wurde vom Deutschen Anwaltverein nach Kräften sabotiert, und auf dem 2. Strafverteidigertag, Anfang Mai 1978 in Hamburg, beschlossen die 350 Teilnehmer, »einen bundesweiten Zusammenschluss aller konsequent liberalen Rechtsanwälte herbeizuführen«. Am 10. und 11. Februar 1979 gründete sich dann die »bundesweite Anwaltsvereinigung zur Verteidigung der freien Advokatur«, die wenig später in Anknüpfung an die Tradition des Republikanischen Richterbund den Namen Republikanischer Anwaltsverein annahm. Wie der damalige Richterbund, der nur zur Hälfte aus Richtern, zur anderen aus Rechtslehrern und Anwälten bestand, sollte der neue Anwaltsverein auch Berufsfremden offenstehen. Die Kollegen Holtfort, Hannover, Eschen, Groenewold, Husmann, Preuß, Wächtler und Schily sowie die Kollegin Driest bildeten den ersten Vorstand. In einem flammenden Appell an die »lieben Genossinnen und Genossen« forderte der stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juristen, Werner Holtfort, und der Jungsozialistenvorsitzende, Rechtsanwalt Gerhard Schröder, die Sozialdemokraten auf, dem Verein beizutreten. Schröder selbst ist kurz darauf mangels Beitragsentrichtung ausgeschieden.
Das hat dem RAV, der sich später gendergerecht in Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein umbenannte, nicht geschadet. Auch nicht, dass er wegen der anfangs dominierenden Stellung des ersten Vorsitzenden einige Zeit Holtfort-Verein genannt wurde. Ohne Werner Holtfort, von 1979 bis 1986 Vorsitzender, danach bis zu seinem frühen Tod am 16. April 1992 „Ehrenpräsident“, wäre es nicht zur Gründung des RAV gekommen, und an seinem vierzigsten Geburtstag sollte man sich dessen noch einmal erinnern.

Dr. jur. Dr. phil. Ingo Müller ist pensionierter Professor für Strafrecht und Strafprozess an der Hochschule der Polizei Hamburg, Gründungs- und langjähriges Vorstandsmitglied des Forum Justizgeschichte, Träger des Carl-von-Ossietzky-Preises der Stadt Oldenburg; zahlreiche Publikationen zur juristischen Zeitgeschichte, insbesondere zur Justiz im Dritten Reich und in Nachkriegsdeutschland.

(1) Überarbeitete Fassung eines Festvortrags zum 25. RAV-Jubiläum.
(2) Unterüberschrift und Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt; es handelt sich um den Nachdruck aus: Volker Eick/Jörg Arnold (Hg.), 40 Jahre RAV. Im Kampf um die freie Advokatur und um ein demokratisches Recht. Münster 2019.