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Repression gegen katalanische Unabhängigkeitsbewegung

GERICHTSPROZESS GEGEN DIE KATALANISCHE FÜHRUNG

Generalitat de Catalunya

Am 14. Oktober 2019 gab der Oberste Spanische Gerichtshof seine Entscheidung im so genannten katalanischen Prozess bekannt, einem Strafverfahren gegen zwölf katalanische Persönlichkeiten aus Politik und Zivilgesellschaft aufgrund ihrer Rolle bei den Ereignissen rund um das katalanische Selbstbestimmungsreferendum am 1. Oktober 2017. Wir dokumentieren nachfolgend Auszüge der Stellungnahme des katalanischen Ministeriums für ausländische Aktivitäten, Institutionelle Beziehungen und Transparenz.(1)

Der Prozess begann am 12. Februar 2019 und war vier Monate später, am 12. Juni 2019, nach 52 Sitzungen und den Aussagen von 422 Zeugen (wobei 80 % der Zeugen der Anklage Mitglieder der spanischen Polizeikräfte waren) und 16 Sachverständigen spruchreif. Neben der Staatsanwaltschaft und dem Rechtsdienst des spanischen Staates, die den Staat vor Gericht vertraten, nahm die rechtsextreme politische Partei Vox als Privatkläger am Verfahren teil. Im Einklang mit ihrer aggressiven antikatalanischen Rhetorik und ihrer Überzeugung von der quasi heiligen Einheit Spaniens forderte Vox die Höchststrafen für die Angeklagten und verlangte Gefängnisstrafen von bis zu 74 Jahren. Neun der zwölf Angeklagten – sechs ehemalige regionale Minister, die ehemalige Präsidentin des Parlaments von Katalonien und zwei Bürgerrechtler – haben je nach Fall fast zwei Jahre in Untersuchungshaft verbracht (seit Oktober oder November 2017 bzw. März 2018).
Obwohl sie ebenfalls Parteien sind, standen der damalige Präsident von Katalonien sowie vier seiner regionalen Minister nicht vor Gericht, da sie sich derzeit im Exil befinden. Trotz der Anklage in Spanien wurden die zunächst ausgestellten Europäischen Haftbefehle später wieder zurückgezogen, nachdem europäische Gerichte eine Reihe von Entscheidungen getroffen hatten, welche die Auslieferungsanträge Spaniens zurückwiesen. Das Urteil des Obersten Gerichtshofs ist ohne jeden Zweifel eine inakzeptable Entscheidung und ein Fehler historischen Ausmaßes. Seit Prozessbeginn hat die Regierung von Katalonien die politische Natur des Prozesses angeprangert, in dem die Angeklagten aufgrund ihrer demokratischen Überzeugungen verurteilt wurden. Die Regierung von Katalonien hat immer den Standpunkt vertreten, dass der einzige Weg zur Lösung dieses Konflikts in Dialog und Verhandlungen besteht und nicht in Gerichtssälen und Gefängniszellen.
Kritische Stimmen zum Prozess kamen aber nicht nur aus Katalonien. Auch mehrere internationale Akteure äußerten sich, darunter sogar die Vereinten Nationen über ihre Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen, die zwei Stellungnahmen ausgegeben hat, in denen die sofortige Freilassung von sieben der katalanischen politischen Gefangenen verlangt wurde. Weitere internationale Organisationen, die in anderen Angelegenheiten im Zusammenhang mit dem Verfahren Stellung bezogen haben, beispielsweise zur Untersuchungshaft, waren der Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte oder die Internationale Juristenkommission. Hinzu kommen weitere Erklärungen von Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern zu der Notwendigkeit, eine Verhandlungslösung für die katalanische Frage zu finden.
Die katalanische Regierung möchte betonen, dass die Auswirkungen dieses Urteils weit über die Grenzen Kataloniens hinausgehen und zu einem spanischen Staat führen können, in dem politisches Andersdenken kriminalisiert wird, wovon die bürgerlichen und politischen Rechte der Bürger in Spanien und somit auch der EU betroffen sein können.

DIE ANKLAGEN

Die Angeklagten wurden der folgenden Straftaten angeklagt:
Rebellion: Eine »gewalttätige und öffentliche Erhebung«, die mit bis zu 25 Jahren Gefängnis bestraft wird. Der einzige Präzedenzfall im modernen Spanien war der versuchte Staatsstreich von Oberstleutnant Tejero am 23. Februar 1981, als bewaffnete Truppen das Parlament stürmten und Panzer auf den Straßen eingesetzt wurden. Aufruhr: Ein »öffentlicher und tumultuöser Aufstand«, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft wird.
Kriminelle Verschwörung: Eine Straftat, die eingeführt wurde, um die Aktivitäten von Gruppen zur Begehung schwerer Straftaten (z. B. Terrorismus oder Drogenhandel) zu verfolgen. Die Straftat der kriminellen Verschwörung besteht unabhängig davon, ob die kriminelle Gruppe in der Lage war, die beabsichtigte Straftat durchzuführen.
Veruntreuung öffentlicher Gelder: Bei dieser Straftat nutzen Personen, die mit der Verwaltung öffentlicher Gelder betraut sind, diese für private Zwecke und schädigen somit die verwalteten Güter.
Ungehorsam: In den letzten Jahren wurden im katalanischen Kontext Anklagen wegen Ungehorsam verwendet. Im März 2017 wurden der frühere Präsident Artur Mas und zwei seiner Minister wegen Ungehorsams für ihre Rolle in der Organisation eines nicht bindenden Unabhängigkeitsreferendums am 9. November 2014 verurteilt.

DAS URTEIL DES OBERSTEN GERICHTSHOFS

Der spanische Oberste Gerichtshof hat für die neun derzeit inhaftierten katalanischen Politiker und Bürgerrechtler eine Haftstrafe von insgesamt fast 100 Jahren verhängt. Die Haftstrafen liegen zwischen neun und 13 Jahren und werden wegen Aufruhr und Veruntreuung öffentlicher Gelder verhängt. Der spanische Oberste Gerichtshof veröffentlichte das Urteil am Morgen des 14. Oktober 2019, vier Monate nach dem Ende des Gerichtsprozesses in Madrid. Die höchste Haftstrafe ist für den ehemaligen Vizepräsidenten von Katalonien und derzeitig gewählten EU-Abgeordneten, Oriol Junqueras, der zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde für Aufruhr und Missbrauch von öffentlichen Mitteln. Er darf zudem 13 Jahre lang kein Amt ausüben. Für die gleichen Straftaten hat das Hohe Gericht in Madrid eine Freiheitsstrafe von 12 Jahren und ein 12-jähriges Amtsverbot für die anderen ehemaligen Minister verhängt: Raül Romeva, Jordi Turull und Dolors Bassa. Carme Forcadell, die frühere Präsidentin des katalanischen Parlaments wurde wegen Aufruhr zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Die ehemaligen Minister Joaquim Forn und Josep Rull wurden zu zehneinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Die Bürgerrechtler Jordi Cuixart und Jordi Sànchez, die als erste inhaftiert wurden, sind zu neun Jahren Gefängnis verurteilt worden.
Die Minister, die nicht in Haft waren, Carles Mundó, Meritxell Borràs und Sant Vila, wurden des Ungehorsams für schuldig befunden, mit einer Geldstrafe belegt und erhalten Amtsverbot für ein Jahr und acht Monate.
Mit diesem Urteil, das fast 500 Seiten umfasst, geht der Oberste Gerichtshof auf die Bitte des spanischen Rechtsdienstes ein, der wegen Aufruhr und Veruntreuung von öffentlichen Geldern lange Haftstrafen forderte. Die Richter sind der Ansicht, dass Gewalt nachgewiesen wurde, weil sie »instrumentell, funktional, auf direktem Wege ohne Vermittler ausgeübt wurde«. Die Richter betonten auch, dass es »Gewalt zur Erreichung der Sezession, aber nicht Gewalt zur Schaffung eines Klimas oder eines Szenarios gab, um eine nachfolgende Verhandlung zu erreichen«. Darüber hinaus geht der Gerichtshof davon aus, dass, um Aufruhr auszuführen, die Angeklagten zuvor öffentliche Gelder missbraucht haben müssen.

EIN INAKZEPTABLES URTEIL

Seit Beginn des Prozesses hat die Regierung von Katalonien, dessen politische Natur und Beweggründe angeprangert werden, betont, dass Verhandlungen – statt Gerichtssälen und Gefängniszellen – der einzige Weg aus der gegenwärtigen politischen Sackgasse sind und das einzige akzeptable Ergebnis gefordert: den umfassenden Freispruch und die Freilassung aller Angeklagten. Nach Auffassung der Regierung von Katalonien ist dieses Urteil ein Fehler historischen Ausmaßes und ein Beweis dafür, dass die Angeklagten in diesem politischen Prozess aufgrund ihrer demokratischen Überzeugungen verurteilt wurden. Die zweifelhaften Auslegungen des Strafprozessbuchs, die irregulären Untersuchungen, die unorthodoxen Abweichungen vom Fallrecht und der regulären Rechtspraxis zeugen von den Bemühungen des spanischen Gerichts, die politischen Aktivitäten der Angeklagten gesetzlich zu bestrafen.
Die internationalen Prozessbeobachter (International Trial Watch) erklärten in ihrem Abschlussbericht: »Wenn alle untersuchten Handlungen dem Strafgesetzbuch fremd sind und dieses übermäßig weit ausgelegt werden muss, um die Anklage aufrechterhalten und diese Handlungen strafen zu können, dann ist dies ein untrügliches Zeichen, dass hinter derartigen Anklagen eine Verfolgung nicht von kriminellem Verhalten, sondern von politischen Überzeugungen steckt«.(2)
Die Regierung von Katalonien hat immer den Standpunkt vertreten, dass dieses Problem nicht durch noch mehr Konflikt, sondern nur auf politischen und demokratischen Wegen gelöst werden kann, wobei der Dialog entscheidend ist. Der Prozess hat jedoch gezeigt, dass Pedro Sánchez nicht nur nicht in der Lage ist, das Problem zu lösen, sondern dass er dies auch gar nicht will. Dieser Umstand wird durch die Strafen unterstrichen, die von der Staatsanwaltschaft und vom spanischen Rechtsdienst des Staates gefordert wurden, die beide auf Vorschlag der spanischen Regierung ernannt werden. Zudem wird dieses Urteil nun die internationale Gemeinschaft unter stärkeren Druck setzen. Es ist an der Zeit, dass die globalen Akteure das Wort ergreifen: Niemand kann angesichts dieses inakzeptablen Urteils schweigen, bei dem Grundrechte verletzt wurden. Schweigen ist keine Lösung mehr, da es das Problem bislang nicht behoben hat und dessen Lösung nur noch weiter verzögert. Weshalb glaubt also die Regierung von Katalonien, dass dieses Urteil des Obersten Gerichtshofs inakzeptabel ist, wie wiederholt betont wurde?

INAKZEPTABLE ANKLAGEN

1. Sie dienten dem Zweck, eine straffrei gestellte Handlung zu kriminalisieren

Das Referendum am 1. Oktober war nach spanischem Recht keine Straftat. Im Jahr 2005 verabschiedete das spanische Parlament das Ausführungsgesetz 2/2005, in dem das spanische Strafgesetzbuch geändert und Artikel gestrichen wurden, welche diesen Sachverhalt zuvor als Straftat definiert hatten. Wie in der Präambel des Ausführungsgesetzes 2/2005 erklärt, beziehen sich diese Artikel »auf Verhaltensweisen, die nicht genügend Gewicht haben, um als Straftat verfolgt zu werden, insbesondere wenn die vorgesehene Strafe eine Gefängnisstrafe ist [...]. Die Ausübung des Rechts zur Einberufung oder Durchführung von Volksbefragungen durch Personen, denen dieses Recht gesetzlich nicht zusteht, kann vollkommen durch andere als strafrechtliche Mittel kontrolliert werden«.

2. Es wird absichtlich versucht, eine Verfassungskrise als Straftat darzustellen

Durch die absichtliche Fehldarstellung von politischen Aktivitäten als Straftaten anstelle von nicht verfassungskonformen Handlungen wird versucht, die politische Natur des Prozesses zu überdecken und der Gefängnishaft der Angeklagten den Anstrich der Rechtmäßigkeit zu geben. Professor López Garrido – der Verfasser des Artikels über Rebellion im Strafgesetzbuch – argumentiert, dass „die Vorgehensweise eine [...] sehr fragwürdige Mischung aus verfassungswidrigen [...] und dem Strafgesetzbuch entgegengesetzten Elementen aufgewiesen hat. Eine Unabhängigkeitserklärung [...] ist keine Straftat, wenn dabei keine Gewalt angewendet wird, aber sie ist radikal verfassungswidrig [...]. Eine Verfassungswidrigkeit darf nicht mit einer Straftat verwechselt werden. [...] Wir haben einem bipolaren Prozess beigewohnt, bei dem die politischen und kriminellen Domänen auf verwirrende Weise vermischt wurden«.

3. Sie erfüllen nicht die Voraussetzungen, die vom Strafgesetzbuch selbst vorgegeben werden

Die Straftaten der Rebellion und des Aufruhrs (Art. 472 und 544-545 des spanischen Strafgesetzbuchs) stützen sich beide auf die Gewaltanwendung gegen die bestehende Ordnung. In seiner abschließenden Erklärung betonte der Staatsanwalt, dass »die gewalttätige Natur eines Aufstands nicht bedeutet, dass ernsthafte oder bewaffnete Gewalt vorliegen muss«. Laut einer Entscheidung des Verfassungsgerichts gilt jedoch, dass »per Definition die [Straftat der] Rebellion von einer Gruppe begangen wird, die die Absicht hat, ungesetzlicher Weise Kriegswaffen oder Sprengstoffe mit dem Ziel einzusetzen, die verfassungsrechtliche Ordnung zu zerstören oder schwer zu schädigen« (STC 199/1985).
Wie vom ehemaligen Richter des Obersten Gerichtshofs Joaquín Giménez betont wurde, »sind viele Generalstreiks von Gewalt geprägt: Es werden Straßen gesperrt und Autos verbrannt. Nicht jede Art von Gewalt kann genutzt werden, um die Straftat der Rebellion zu begründen«. Selbst Professor López Garrido – wie bereits erwähnt, Verfasser des Artikels über Rebellion im Strafgesetzbuch – argumentiert, dass »schon allein der Umstand, dass es der Regierung [...] nicht einfiel, nach dem 1. Oktober den Belagerungszustand oder Notstand auszurufen, beweist, dass die angebliche ›Gewalt‹ [...] nicht die nötige Stärke hatte, um die territoriale Integrität des Staates zu gefährden, wie es der Auslegung von Artikel 472 des Strafgesetzbuchs entspricht«.
Des Weiteren erklärte die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen, dass »die spanische Regierung keine Informationen zu konkreten Aktivitäten der Angeklagten vorbrachte, welche Gewalt bedeutet hätten und somit eine Straftat im Sinne des anwendbaren Rechts darstellten«.

4. Sie sind politisch motiviert

Das Beharren auf den Anklagen der Rebellion und des Aufruhrs ist kein Zufall. Im Rahmen der spanischen Strafprozessordnung (Art. 384) können Gefangene, die der Rebellion angeklagt sind, vorläufig von der Ausübung öffentlicher Ämter ausgeschlossen werden. Die Wahl dieser Anklagen (anstelle anderer wie Ungehorsam, mit der die Organisation des nicht bindenden Referendums von 2014 verfolgt wurde) war entscheidend, um neun der Angeklagten in Untersuchungshaft zu halten. Zudem dienten sie dazu, die demokratischen Entscheidungen des katalanischen Volkes künstlich zu verändern:
Parlament von Katalonien (Dezember 2017): Durch das Eindringen der Judikative in den ordentlichen Betrieb des Parlaments von Katalonien wurden neun der Angeklagten und insgesamt 15 demokratisch gewählte, die Unabhängigkeit befürwortende Abgeordnete davon abgehalten, die Funktionen auszuüben, die ihnen von den Bürgern von Katalonien anvertraut worden waren. Darüber hinaus wurde in die Wahl von drei Abgeordneten zum Präsidenten von Katalonien eingegriffen, der Rücktritt von acht Abgeordneten verursacht und letztlich der Verlust der parlamentarischen Mehrheit der die Unabhängigkeit befürwortenden Parteien herbeigeführt.
Spanische Parlamentswahlen und Kommunalwahlen (April 2019): Fünf der inhaftierten katalanischen Politiker wurden bei den Parlamentswahlen im April 2019 gewählt. Der ehemalige katalanische Vizepräsident Oriol Junqueras, der Aktivist Jordi Sànchez und die ehemaligen katalanischen Minister Jordi Turull und Josep Rull wurden zu Abgeordneten des spanischen Parlaments gewählt, während der frühere katalanische Minister Raül Romeva einen Sitz im spanischen Senat erhielt. Sie wurden suspendiert und somit ihrer Rechte als gewählte Volksvertreter beraubt.
Wahlen zum Europäischen Parlament (Mai 2019): Drei die Unabhängigkeit befürwortende führende katalanische Politiker wurden im Mai 2019 zu Mitgliedern des Europäischen Parlaments gewählt: der frühere katalanische Präsident Carles Puigdemont und der frühere katalanische Minister Toni Comín, beide im Exil in Belgien, sowie der frühere katalanische Vizepräsident Oriol Junqueras, derzeit in Untersuchungshaft. Trotz der zahlreichen erhaltenen Wählerstimmen (1.720.500 Stimmen, 49,7 %) konnten sie ihre Arbeit als Abgeordnete des Europäischen Parlaments nicht aufnehmen.

IRREGULÄRES VERFAHREN

Die Regierung von Katalonien ist der Auffassung, dass der gesamte Prozess zahlreiche Unregelmäßigkeiten aufwies:

1. Weil der Prozess das festgelegte Verfahren bei Bedrohung von Grundrechten ignorierte

Niemand sollte für die Ausübung von Grundrechten verfolgt werden. Wie im ersten Bericht von ITW über den Prozess erklärt, würde in dieser Hinsicht »die Formulierung der Anklagen die verfassungsrechtlich durchsetzbare Auslegungsreihenfolge umkehren«. Mit anderen Worten »berücksichtigen die Anklagen nicht den Umstand, dass einige der Handlungen der Angeklagten von Grundrechten gedeckt sein könnten«, wie der Versammlungsfreiheit oder dem Demonstrationsrecht. Zunächst hätte entschieden werden müssen, ob dies der Fall war, weil »dann die Angeklagten unmöglich eine Straftat begangen haben konnten«. Darüber hinaus haben internationale Beobachter die wiederholte Weigerung des Gerichts kritisiert, Fragen zu Grundrechten zuzulassen (Bericht zur 9. Woche), und ihre Besorgnis geäußert, »dass die von der Anklage gestellten Fragen auf eine Kriminalisierung der praktischen Ausübung des Demonstrationsrechts hindeuten« (Bericht zur 3. Woche).

2. Weil sich das Verfahren auf eine irreguläre Untersuchung stützte

Wie die digitale spanische Zeitung Público in einer Reihe von 2018 und 2019 veröffentlichten Artikeln geschrieben hat, stützten sich die Anklagen auf Beweise, die als Ergebnis einer im Jahr 2015 eingeleiteten »prospektiven Untersuchung« gesammelt wurden – nicht, um bestimmte Sachverhalte zu untersuchen, sondern eine politische Bewegung und deren potenzielle Auswirkungen.
Wie von ITW aufgezeigt, soll es sich hier um den Beginn eines Generalverdachts handeln, der vom spanischen Rechtssystem verboten ist, und um das Vorliegen eines weitreichenden Verfahrens im Vorfeld des Prozesses, bei dem die Angeklagten keinerlei Möglichkeit hatten zu erfahren oder anzufechten, was an Material bereits zusammengetragen war.
In der gleichen Richtung ergaben Nachforschungen von Público, dass der leitende Ermittlungsbeamte Twitter nutzte, um »Politiker anzugreifen, gegen die er in den drei Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit dem [Referendum vom] 1. Oktober ermittelt, wobei er seine politischen Überzeugungen in Ermittlungen einfließen lässt, die objektiv sein müssten«.

3. Verstoß gegen das Recht auf einen ordentlichen, gesetzlich bestimmten Richter

Hinsichtlich des Rechts, vor einen ordentlichen, gesetzlich bestimmten Richter gestellt zu werden (Art. 24.2 SC und Art. 6 ECHR) erklärt ITW, dass »das Verfahren aufgrund der offensichtlich fehlenden Zuständigkeit des Nationalen Gerichtshofs (Audiencia Nacional) nichtig ist«. »Die Übertragung des Falls an den Obersten Gerichtshof kann die vorherigen Unregelmäßigkeiten nicht beheben. Keiner von ihnen ist der verfassungsgemäß anerkannte natürliche Richter [...] Dies ist der Oberste Gerichtshof von Katalonien«. Des Weiteren war die UN-Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen nicht überzeugt, dass »die Gerichte, die derzeit die mutmaßlichen Straftaten dieses Falls bearbeiten, die gesetzlich hierzu bestimmten waren« (§135), und schließt somit, dass das Recht der Angeklagten, »vor ein zuständiges und unparteiisches Gericht gestellt zu werden, außer Acht gelassen wurde«. (§136)

4. Verstoß gegen das Recht auf ein unparteiisches Gericht

Wie dem Gutachten des katalanischen Ombudsmanns zu entnehmen ist, »wurde von einem objektiven Standpunkt aus die gerichtliche Unparteilichkeit gefährdet, als durch Mitglieder der höchsten Ränge der Judikative, einschließlich des Präsidenten des Obersten Gerichtshofs, öffentliche Aussagen gemacht wurden, in denen es als Aufgabe der Justiz bezeichnet wurde [...], die Einheit Spaniens zu garantieren«.
Des Weiteren erinnert der katalanische Ombudsmann daran, dass der »Untersuchungsrichter des Obersten Gerichtshofs sich in einigen seiner Verfügungen von den mutmaßlichen Straftaten, die er untersucht, persönlich beleidigt zu fühlen scheint und so einen Mangel an Unparteilichkeit beweist, der seine Eignung als Richter beeinträchtigt, selbst als Untersuchungsrichter«. Die Kritik bezieht sich auf die Verwendung persönlicher Formulierungen in Verfügungen des Richters Llarena (z.B. als er das Unabhängigkeitsprojekt als »die Strategie, unter der wir leiden«, bezeichnet). Dies läuft dem Standpunkt des Verfassungsgerichts zuwider, dass ein Richter »keine vorherige Haltung zu Gunsten oder zu Ungunsten [des Angeklagten] zeigen oder äußern darf« (STC 140/2004).
Ebenso weisen die Berichte des ITW darauf hin, dass die Verteidiger wiederholt die Unparteilichkeit »von mindestens vier der sieben Richter in Frage gestellt haben, da diese dem Gericht angehörten, das die von der Anklage eingereichte Beschwerde annahm und die Einzelheiten des Falls geprüft hatte«. Weiterhin heißt es, „sie sind nicht entscheidungsfähig, da sie beeinflusst waren, weil sie eine rechtliche Beurteilung in einer Phase vor dem Prozess vornahmen«.

5. Verstoß gegen das Recht auf Berufung

Im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 2, Protokoll 7) und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Art. 14.5) hat das Fallrecht des spanischen Verfassungsgerichts festgelegt, dass »zu den Garantien eines Strafverfahrens, auf das sich die Verfassung in Art. 24.2 allgemein bezieht, die Berufung vor einem höheren Gericht gehört« (STC 42/82).
Ferner erklärt der Verband Europäische Demokratische Anwälte (AED-EDL), dass »aufgrund des Umstands, dass die Angeklagten vor dem Obersten Gerichtshof angeklagt sind, die Möglichkeit einer Berufung entfällt. Eine eventuelle Verurteilung müsste vor das Verfassungsgericht gebracht werden, mit allen diesbezüglichen verfahrensrechtlichen Einschränkungen«.

6. Inakzeptable Untersuchungshaft

Die Untersuchungshaft für neun der zwölf Angeklagten ist eine völlig ungerechtfertigte Maßnahme, und zwar wegen des Nichtvorliegens mutmaßlicher Straftaten, welche diese begründen würde, wegen ihres Ausnahmecharakters und unter anderem wegen ihrer Rechtfertigung mit ideologischen Gründen. Kritik an der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahme wurde auch von einer Reihe internationaler Organisationen geübt. Insbesondere erklärte der UN- Menschenrechtsrat über seine Arbeitsgruppe gegen willkürliche Inhaftierungen zwei Mal (Mai 2019 und Juni 2019), dass diese Gefängnishaft als willkürliche Untersuchungshaft zu bewerten sei.

MANGELNDE UNABHÄNGIGKEIT DER SPANISCHEN JUSTIZ

Die Unabhängigkeit der Justiz ist grundlegend in einer demokratischen Gesellschaft und wesentlich für das öffentliche Vertrauen in ihre Institutionen. Der GRECO Interim Compliance Report zu Spanien vom Dezember 2017 schloss, dass keine der Empfehlungen im Fourth Round Evaluation Report zufriedenstellend implementiert worden waren, einschließlich der Reform des Rechtsrahmens für den Generalrat der rechtsprechenden Gewalt. Die Staatengruppe gegen Korruption (GRECO) empfahl auch, die Ernennung der höheren Ränge der rechtsprechenden Gewalt zu überprüfen. Außerdem gab ein Richterverband eine Erklärung heraus, in der die schockierende Handhabung der Ernennungspolitik durch den Generalrat der rechtsprechenden Gewalt angeprangert wurde.
Spanien ist der sechst-schlechteste Mitgliedsstaat des EU-Justizbarometers zur Wahrnehmung der Unabhängigkeit der Justiz. Laut dem Justizbarometer 2018 der Europäischen Kommission glauben 49 Prozent der Spanier, dass die Unabhängigkeit ihrer Gerichte und Richter »ziemlich schlecht« (32 %) oder »sehr schlecht« (17 %) ist. Das ist fast jeder Zweite der Befragten. Die einzigen Mitgliedsstaaten, die noch schlechter abschnitten, waren Italien (53 %), Slowenien (54 %), Bulgarien (57 %), Slowakei (58 %) und Ungarn (69 %). Vor einem Jahr war Spanien das drittletzte Land auf der Liste.
Diese Wahrnehmung wird auch durch verschiedene Umfragen gestützt, die nach der Entscheidung der spanischen Regierung für Parlamentswahlen im April 2019 veröffentlicht wurden. Eine Umfrage ergab, dass 68,5 Prozent der katalanischen Befragten daran zweifelten, dass die Angeklagten einen fairen Prozess haben würden.
Abgesehen davon werden die Richter des Obersten Gerichtshofs, der das Urteil im katalanischen Prozess abzufassen hat, vom Generalrat der rechtsprechenden Gewalt gewählt, und dieser wiederum wird vom spanischen Abgeordnetenhaus und dem Senat gewählt. Dieser Auswahlmechanismus ist vom Europarat über die Staatengruppe gegen Korruption scharf kritisiert worden, da er die Unabhängigkeit der Justiz nicht garantiert.

FOLGEN ÜBER KATALONIEN HINAUS

Die Gefährdung durch diesen Prozess geht weit über Katalonien hinaus. Der Prozessgegenstand und das Urteil können einen Präzedenzfall schaffen, der schließlich die politische Dissidenz in Spanien als Ganzem betreffen kann, ebenso wie die Demonstrationsfreiheit und die bürgerlichen und politischen Rechte der Bürger in Spanien und somit in der Europäischen Union.
Spanien hat in den letzten Jahren bereits derartige Fälle erlebt, wie die Inhaftierung von zwei Puppenspielern, die im Februar 2016 in Madrid angeblich den Terrorismus verherrlicht hatten. Ein weiteres Beispiel ist Valtònyc, ein Rapper, der wegen mutmaßlicher Verleumdung, Diffamierung der Krone und Verherrlichung des Terrorismus in seinen Texten verurteilt wurde und einige Tage vor Antritt seiner Gefängnisstrafe von dreieinhalb Jahren im Mai 2018 nach Belgien floh, um seiner Verhaftung zu entgehen.
Das Gesetz zur öffentlichen Sicherheit, im Volksmund als ›Knebelgesetz‹ bezeichnet, wurde 2015 von der spanischen Regierung unter Mariano Rajoy verabschiedet und ist immer noch in Kraft. Diesem Gesetz widersprach bei seiner Verabschiedung die ganze Opposition, und es wurde von bedeutenden Gesellschaftsteilen abgelehnt, da es als eine Bedrohung der Ausübung der Redefreiheit und des Demonstrationsrechts verstanden wurde. In diesem Sinn veröffentlichte Amnesty International den Bericht »Tweet… If You Dare«, der kritisierte, wie die vage formulierten Antiterrorismus-Gesetze in Spanien die Redefreiheit einschränken.
Neben diesem umstrittenen Gesetz wird das Urteil des Obersten Gerichtshofs im katalanischen Prozess einen weiteren Präzedenzfall zur Kriminalisierung der Dissidenz und zur  Knebelung der spanischen Gesellschaft schaffen. Der ehemalige Vizepräsident des spanischen Verfassungsgerichts und ehemalige Richter am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Luis López Guerra argumentiert: »Wenn das Konzept der Gewalt unangemessen ausgeweitet wird – wenn wir jede Art von Aktion als Gewalt bezeichnen –, dann gefährden wir die Ausübung von Rechten wie der Redefreiheit, der Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Und dieser Prozess wird zu dieser Art Definition verwendet«. Im gleichen Sinn schloss ein Manifest von mehr als 300 spanischen Juristen und Juraprofessoren, dass »nach Ansicht des öffentlichen Anklägers [...] die Gefahr darin liegt, Demonstrationen zu unterstützen, was bedeutet, dass die Ausübung von Grundrechten als Verbrechen ausgelegt wird«. Ähnliche Bedenken wurden vom UN-Sonderberichterstatter zum Schutz des Rechts auf Freiheit der Meinung und des Ausdrucks geäußert, der erklärte, er sei »besorgt, dass die Anklage wegen Rebellion aufgrund von Handlungen, die nicht mit Gewalt oder Aufforderung zur Gewalt einhergingen, die Rechte auf öffentlichen Protest und abweichende Meinung beeinträchtigen könnten«.
Wenig überraschend kündigte die Parlamentarische Versammlung des Europarates an, dass sie sich um die Lage inhaftierter Politiker sowohl in Spanien als auch in der Türkei kümmern werde. Diese Ankündigung folgte auf einen Antrag, der Besorgnis »aufgrund der wachsenden Anzahl nationaler, regionaler und lokaler Politiker, die wegen Erklärungen in Ausübung ihres Mandats verfolgt werden, insbesondere in Spanien und der Türkei«, äußerte.
Insgesamt kann das Urteil gegen führende katalanische Politiker zur Bildung einer geknebelten Gesellschaft und zu einer Umgebung in Spanien beitragen, in der Dissidenz kriminalisiert wird. Daher ist dieser besorgniserregende Trend nicht nur ein Problem für Katalonien, sondern für ganz Spanien, und reicht sogar bis zur Ebene der Europäischen Union: Wie das Europäische Netz der Räte für das Justizwesen in einem Schreiben an den Präsidenten der Europäischen Kommission feststellte, »ist die Unabhängigkeit der Justiz schwer bedroht, und die Gewaltenteilung zwischen der Exekutive und der Judikative wird abgebaut. [...] Mitgliedsstaaten streben danach, die Judikative in ihren Ländern hauptsächlich als Instrument für Regierungspolitik einzusetzen. Die Zerstörung der Unabhängigkeit der Justiz wird schwerwiegende Folgen für die Bürger aller Mitgliedstaaten haben«.

Generalitat de Catalunya bezeichnet die Gesamtheit aller politischen Institutionen, die im Rahmen des Autonomiestatuts die Selbstverwaltung der spanischen Autonomen Gemeinschaft Katalonien umsetzt.

(1) Einige Zwischenüberschriften hat die Redaktion leicht modifiziert.
(2) Vgl. https://internationaltrialwatch.org/wp-content/uploads/2019/07/ITW-OBSERVATION-REPORT_ENG.pdf .