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Mit aller Härte

EINE BETRACHTUNG DES NATIONALSOZIALISTISCHEN STRAFRECHTS

Jörg Arnold

Mit Kai Ambos aus Göttingen hat einer der renommiertesten und zugleich kritischsten Strafrechtsprofessoren der Generation 50 plus ein Buch über Nationalsozialistisches Strafrecht geschrieben.(1) Dies verdient nicht allein wegen des wissenschaftlichen Themas an sich eine besondere Erwähnung, sondern auch, weil damit wertvolle Anregungen zur Auseinandersetzung mit rechten, nazistischen bzw. – wie es Matthias Quent, Direktor des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena bezeichnet – prä- oder protofaschistischen Symptomen unserer Zeit gegeben werden. Die für solche Auseinandersetzungen in Frage kommenden Impulse werden im Buch zwar nur an wenigen Stellen explizit angesprochen, dem politisch und historisch interessierten Leser erschließen sie sich aber von selbst.
Es geht hier vordergründig nicht darum, eine eindimensionale Kontinuität zwischen dem ›Nationalsozialismus‹ und dem heutigen Kapitalismus feststellen zu wollen. Dennoch darf nicht übersehen werden, dass die Aussage von Max Horkheimer: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen«, aktuell ist und prä- bzw. protofaschistische Symptome als schleichendes Gift die heutige gesellschaftliche Wirklichkeit durchziehen und damit insoweit eine erschreckende Kontinuität – bei aller Diskontinuität – sichtbar wird. Von einer »Holzhammerthese«, mit der unlängst in der Welt Thomas Schmid den Satz Horkheimers bezeichnet hat, kann keine Rede sein. Es ist keineswegs ausgemacht, dass ein Erklärungsansatz, der Ursachen für den Faschismus nicht zuletzt auch materialistisch, mithin ökonomisch sieht, obsolet geworden ist. Dies zeigt auch der erst unlängst veröffentlichte Vortrag von Theodor W. Adorno aus dem Jahre 1967 über Aspekte des neuen Rechtsradikalismus,(2) der sich passagenweise wie ein Kommentar zu aktuellen Entwicklungen liest.
Nicht unerwähnt bleiben soll, dass gerade auch Historiker aus der DDR wie der inzwischen verstorbene Faschismusforscher und langjährige junge Welt-Autor Kurt Pätzold sich aus gutem Grund auch auf Horkheimer und Adorno beziehen konnten. Dass der Begriff des Faschismus in letzter Zeit überhaupt wieder in verwendbarer Weise in das Blickfeld geraten ist, ist auch eine Folge des Wirkens von DDR-Wissenschaftlern wie Kurt Pätzold. Würde man dem aber wirklich Rechnung tragen wollen, müsste dieser Begriff jenen des ›Nationalsozialismus‹ in der bundesdeutschen Wissenschaft ersetzen. Das Buch von Kai Ambos hieße dann konsequenterweise ›Faschistisches Strafrecht‹.(3)
Horkheimer kritisiert in dem bereits erwähnten Aufsatz jene Intellektuellen, die sich nicht mehr der Waffe des an die Wurzel gehenden kritischen Geistes bemächtigten, sondern sich im ›Neuhumanismus‹ eingerichtet hätten. Ohne eine Gleichsetzung der historischen Epochen vorzunehmen, geht es auch bei dem heutigen gesellschaftlichen Zustand darum, dass nicht zuletzt Intellektuelle wie Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller und Kulturschaffende ihr klares Nein gegen das sich immer mehr ausbreitende schleichende Gift rechtsradikaler und nazistischer Gedanken, gegen rassistische und menschenfeindliche Angriffe auf Demokratie und Rechtsstaat ausrufen. Dafür gibt es viele ermutigende Beispiele. »Steh auf und sage nein«, singt Konstantin Wecker stellvertretend für so viele. Auch das Buch von Kai Ambos ist ein solches Nein. Andreas Fischer-Lescano, Lehrstuhlinhaber für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Bremen, hat unlängst gezeigt, wie wichtig es ist, sich der gegenwärtigen Mechanismen bewusst zu werden, wie Gedankengut rechter Intellektueller in die Rechtswissenschaft hineingetragen wird.(4)

DIE SPRACHE DER NAZIS

Kai Ambos versteht das NS-Strafrecht als rassistisch (antisemitisch), völkisch (»germanisch«) und totalitär ausgerichtete Fortschreibung der autoritären und antiliberalen Tendenzen des deutschen Strafrechts der Jahrhundertwende und der Weimarer Republik, eine Kontinuität, die auch nach 1945 fortwirkte. Zugespitzt könne man das NS-Strafrecht als politisierte und radikale Fortschreibung der neoklassischen und finalen Verbrechenslehre charakterisieren.
Es war Victor Klemperer, der von den Nazis verfolgte jüdische Dresdner Professor für romanische Philologie, der sich nach 1945 mit der Sprache des ›Nationalsozialismus‹ und ihrer Wirkung befasst hat. Als einen Grundzug der Lingua Tertii Imperii (LTI) bezeichnet Klemperer ihre »Armut«: Sie verzichtet auf jegliche Nuancierung oder Variation und kommt mit einem kleinen Bestand an Schlagwörtern und Phrasen aus. Sie kennt ausschließlich den Modus der Agitation: »Alles in ihr war Rede, musste Anrede, Aufruf, Aufpeitschung sein«. Die Einförmigkeit ist für die Sprache des »Dritten Reichs« kein Mangel, erkennt Klemperer: Erst sie macht die Sprache tauglich zum Herrschaftsinstrument. Durch ständige Wiederholung werden den Menschen die immergleichen Ausdrucksschablonen ins Gedächtnis gestanzt. Irgendwann sind sie so alltäglich, dass selbst Gegner und Opfer der Nazis sie ganz unreflektiert verwenden.
An anderer Stelle als in seinem Buch hat Kai Ambos, wie übrigens auch der frühere Richter am Bundesgerichtshof Thomas Fischer,(5) verdeutlicht, dass ein Gesetzentwurf der AfD im Deutschen Bundestag, der darauf abzielt, dass rückfällige Straftäter künftig schärfer bestraft werden, sprachlich den Ungeist des ›Nationalsozialismus‹ atmet.(6)
Zunächst greife der Entwurf die Grundidee des NS-Gewohnheitsverbrechergesetzes von 1933 wieder auf. Der AfD-Gesetzentwurf ist nach Ambos und Fischer ein Beispiel der (rückwärtsgewandten) Kontinuität des NS-Strafrechts. Der eigentliche Skandal bestehe darin, dass er nationalsozialistische Begriffe (»verbrannte Wörter«)(7) und damit kriminalpolitische Inhalte wieder hoffähig macht: »Gemeinschaftsspielregeln«, »besonders sozialschädliche Gewohnheitsverbrecher«, »wegsperren«, »schädliche Neigung«, »Charakterprüfung des Täters«, »negative Gesinnung«, »hartnäckige Rechtsfeindlichkeit«.
Der Entwurf erweise sich damit als Ausdruck eines gesinnungsorientierten Täterstrafrechts, dem es nicht auf die konkrete Tat, sondern auf die »Lebensführungsschuld« (Edmund Mezger) ankommt. Mezger, den die AfD auch zitiert, hatte schon 1934 die völkische und rassische Orientierung des »neuen« Strafrechts betont, »typische Gruppen von Gesellschaftsfeinden« ausgemacht und die »Ausscheidung volks- und rasseschädlicher Bestandteile« aus der Volksgemeinschaft gefordert. Für Mezger war die Schuld nicht nur an der Tat, sondern vor allem auch an Wesen und Persönlichkeit des Täters (Täterstrafrecht), genauer an der Lebensführungs- und Entscheidungsschuld zu messen. Hieran knüpfe der Entwurf an, wenn er von der »gerichtlichen Charakterprüfung des Täters« spricht und die »Relevanz des Vorlebens des Täters« betont. Er gehe auch den weiteren Schritt vom Täter- zum Gesinnungsstrafrecht, sei doch »die negative Gesinnung des Täters […] entsprechend zu würdigen«.
Wenn der Entwurf weiter den Begriff der »schädlichen Neigung« zum Kriterium einer Strafverschärfung machen will, wird damit auch die täterzentrierte, kriminalbiologisch begründete NS-Sichtweise wieder hoffähig gemacht. In diesem Sinne führten die Nazis den Begriff mittels der »Verordnung über die unbestimmte Verurteilung« vom 10. September 1941 in das deutsche Recht ein, später nahmen sie ihn in das Reichsjugendgerichtsgesetz von 1943 auf. Ambos betont den Umstand, dass sich dieser Begriff bis heute im deutschen Jugendgerichtsgesetz befinde, mache die Sache nicht besser, sondern belege nur die (zukunftsgerichtete) NS-Kontinuität des bundesrepublikanischen Strafrechts. Der AfD-Entwurf gehe aber eben einen Schritt darüber hinaus, indem er den im (eher täterstrafrechtlich ausgerichteten) Jugendstrafrecht noch existierenden Begriff nun in das Erwachsenenstrafrecht herüberholen wolle.
Nach Fischer habe die AfD im Hinblick auf das Strafrecht nichts anderes zu bieten, als dass man Ausländer möglichst hart bestrafen und ansonsten eben mit dem Knüppel auf alles draufschlagen solle. So heißt es in verschiedenen Aussagen von AfD-Politikern in den Parlamenten, beispielsweise im Landesparlament von Baden-Württemberg: »Die AfD-Fraktion erteilt allen Versuchen, einen verurteilten Straftäter sanft anzufassen, eine klare Absage. Straftäter müssen die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen, es gilt Opferschutz statt Täterschutz. Im Strafrecht muss wieder der Schwerpunkt auf der Abschreckungswirkung der Strafe liegen«.(8)
Am 16. Oktober 2018 legte der AfD-Bundestagsabgeordnete Roman Johannes Reusch den Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Inneren Sicherheit vor.(9) Der hierin vorgeschlagenen Gesetzesänderungen zeugen letztlich von der Zielrichtung der Abschaffung des Rechtsstaates. Strafverschärfungen im Sinne einer reinen Vergeltungstheorie, Abschaffung des Rechtsmittels der Revision und Ersetzung durch Annahmeberufung, Ausdehnung der Untersuchungshaft bei Wiederholungsgefahr, Neuerung des Strafvollzugsrechts durch schuldangemessene Sühne als weiteres Vollzugsziel, Verschärfung des Ausländerrechts durch Einführung der Präventivhaft, die solange andauern soll, wie von dem Betreffenden eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder die Allgemeinheit ausgeht. Und dies sind nur einige Beispiele aus dem Gesetzentwurf.
Auch wenn der Entwurf keine Chance auf eine parlamentarische Umsetzung hatte, so darf doch nicht übersehen werden, dass sich damit der Diskurs weiter nach rechts verschiebt. Auf diese Weise entstehen rechtsstaatsfeindliche Allianzen, ja mehr noch, offenbaren sich auch hier gefährliche Kontinuitäten.
Das zeigt sich an dem offiziellen Unwort des Jahres 2018 ›Anti-Abschiebe-Industrie‹. Der Ausdruck wurde im Mai 2018 durch Alexander Dobrindt, den Vorsitzenden der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, als offensichtlicher Kampfbegriff in die politische Diskussion eingeführt: Eine »aggressive Anti-Abschiebe-Industrie«, so Dobrindt, sabotiere die Bemühungen des Rechtsstaates und gefährde die öffentliche Sicherheit. Damit richtete sich Dobrindt sowohl gegen den Rechtsschutz von Flüchtlingen wie auch gegen jene Anwältinnen und Anwälte, die Flüchtlinge vertreten, wozu auch Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger in Wahrnehmung der Verteidigung von Flüchtlingen gehören, denn oftmals sind die Abschiebungen mit der Kriminalisierung von Flüchtlingen durch die Justizbehörden wie auch mit realer Kriminalität verbunden. Bei Dobrindt sind quasi alle abzuschiebenden Flüchtlinge Kriminelle.

PERSONELLE KONTINUITÄTEN

Ausführlich verweist Ambos auf die Kontinui tät nach 1945 im Hochschulbereich. Sie erkläre nicht nur das verbreitete Schweigen, sondern auch die fehlende Rechenschaftspflicht zahlreicher belasteter Juristen, die durch die Politik der Adenauer-Regierung und die bis 1989 vor allem mit Hilfe des Auswärtigen Amtes aktive »Kriegsverbrecherlobby« auf höchster Ebene sanktioniert wurde.(10) Moralphilosophisch bzw. -geschichtlich ist nach Ambos die personelle Kontinuität darauf zurückzuführen, dass die NS-Moral derart stark in der deutschen Gesellschaft verankert war, dass sie diese auch noch lange nach 1945 prägen konnte und die Integration der Nachkriegsgesellschaft samt der in ihr weiterlebenden Nazis garantiert hat.
In seinem Buch Furchtbare Juristen: Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz hat der Rechtshistoriker und Strafrechtswissenschaftler Ingo Müller eindrucksvoll die Restauration der bundesdeutschen Justiz beschrieben. Man lese als aufschlussreiche Ergänzung das 1996 publizierte Buch des Historikers Norbert Frei über Vergangenheitspolitik: Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit sowie das jüngst erschienene Buch des Journalisten Willi Winkler Das braune Netz. Wie die Bundesrepublik von früheren Nazis zum Erfolg geführt wurde. So nimmt es auch nicht wunder, dass die Strafverfolgung von NS-Verbrechen in der Bundesrepublik nicht in der notwendigen Weise erfolgte. Müller zeichnet ein für die Geschichte der Bundesrepublik insgesamt widersprüchliches Bild des strafrechtlichen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Darin sind die Bemühungen und ›Erfolge‹ bundesdeutscher Gesetzgebung und Justiz für eine Politik der Straflosigkeit, ›möglichst viele Naziverbrecher ungeschoren davonkommen zu lassen‹, ebenso festgehalten, wie die Frankfurter Auschwitz-Prozesse zu Beginn der 1960er-Jahre.
Kritisch setzt sich Ingo Müller aber auch mit der strafrechtlichen ›Bewältigung‹ der Nazivergangenheit in der DDR auseinander, indem er aufzeigt, dass nach Abschluss der ›Waldheimer Prozesse‹ Anfang der 1950er-Jahre das Problem für erledigt erklärt wurde, und dies offenbar deswegen, weil man der auch in der DDR aus ehemaligen Nazimitläufern bestehenden Bevölkerung nicht zu viel zumuten wollte, weshalb nur noch einzelne exemplarische Strafprozesse gegen Naziverbrecher stattfanden. Und in der neuesten von Norbert Frei und anderen Historikern vorgelegten Publikation wird hinsichtlich der DDR die durchaus bedenkenswerte Feststellung getroffen, dass der Antifaschismus in der DDR insoweit ambivalent gewesen sei, als er zwar Breitenwirksamkeit erzielte, aber der historische Nationalsozialismus kein »Gegenstand reflektierender Betrachtung« gewesen sei, so dass ein Gefühl entstand, »frei von historischer Verantwortung« zu sein.(11) Diese Auffassung steht wohl in gewissem Gegensatz zu dem am 28. August 2019 in der jungen Welt veröffentlichten Beitrag von Hans Bauer, wobei dort allerdings u.a. die Rede davon ist, dass der Antifaschismus in der DDR »nicht nur verordnet war«.(12)  Beide Publikationen sind der weiteren gerade auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Vergangenheitspolitik in Bezug auf die Nazizeit dienlich, aber auch von Bedeutung im Hinblick auf die weitere Beschäftigung mit den Ursachen für die in den beiden so unterschiedlichen Gesellschaftssystemen vorhandene Symptomatik von Rechtsradikalismus und der Reaktion des Strafrechts.

NS-RELIKTE

Vor Kai Ambos hatten sich in der jüngeren Zeit mehrere Strafrechtsprofessoren mit dem tatsächlichen Einfluss des Nationalsozialismus auf das Strafrecht der Bundesrepublik befasst. Dabei wurden vielfältige Relikte der NS-Zeit im geltenden StGB ausfindig gemacht, so Teile des Tatbestandes der Nötigung, die Tatbestände der Erpressung, der Untreue, der Urkundenfälschung, aber auch das gesamte System der Maßregeln zur Besserung und Sicherung. Deutlich kritisiert wird das Fortbestehen des Tatbestandes des Mordes im heutigen StGB, der 1941 eingeführt worden war und direkt auf den berüchtigten späteren Präsidenten des Volksgerichtshofes Roland Freisler zurückgeht. Eine Expertenkommission, die beim damaligen Bundesjustizminister Heiko Maas eingesetzt worden war, um die Vorschriften zu Tötungsdelikten zu reformieren und jenen den Mordparagraphen prägenden Ungeist des Nationalsozialismus zu überwinden, gelangte im Jahre 2015 zu dem Ergebnis, dass die Begriffe ›Tätertypen eines Mörders‹ oder ›Tätertypen eines Totschlägers‹ überholt seien. Diese Begriffe sollten aus dem Gesetz getilgt werden. Stattdessen müsse es künftig um die ›Tathandlung‹ gehen. Die Kommission sprach sich leider dafür aus, dass die lebenslange Freiheitsstrafe erhalten werden soll, allerdings solle bei Mord eine lebenslange Freiheitsstrafe nicht mehr die zwingende Konsequenz sein. Der Richter solle stattdessen die Möglichkeit bekommen, auch mildernde Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Der daraufhin im Jahre 2016 erarbeitete Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Tötungsdelikte wurde offenbar sang- und klanglos fallen gelassen, nachdem klargeworden war, dass er gegen die CDU/CSU nicht durchgesetzt werden könnte. Der emeritierte Direktor des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht, Albin Eser, hatte schon zuvor darauf aufmerksam gemacht, dass ähnliche Reformanstöße, die bereits aus den 1980er-Jahren stammen, in der Schublade verschwunden waren.
Eine Kontinuität lässt sich auch in der Hinsicht behaupten, dass das NS-Strafrecht als ein starker Pendelausschlag innerhalb einer weit ausgreifenden historischen Entwicklungslinie von einem liberalen rechtsstaatlichen Strafrecht der Aufklärung zu einem ›Feindstrafrecht‹ der Moderne verstanden werden kann. Die ›Feinde‹ der Moderne des insbesondere durch den Bonner Strafrechtslehrer Günther Jakobs beschriebenen ›Feindstrafrechts‹  waren  zunächst  die sogenannten islamistischen Terroristen im Zusammenhang mit dem 11. September 2001, wonach diese Täter nicht als bürgerliche Rechtspersonen anerkannt werden sollen. Rechtsstaatliches Strafrecht sei nicht für Feinde der bürgerlichen Gesellschaft da.
Inzwischen hat sich das Kriminalitätsgeschehen hinsichtlich der ›Feind‹-Symptomatik erweitert. Dazu zählen nun auch all jene, denen der Prozess wegen Nähe zu oder Mitgliedschaft in der PKK gemacht wird. Dazu zählen aber auch Demonstranten, die sich aktiv gegen den G-20-Gipfel 2017 in Hamburg gewandt hatten und heute vor Gericht stehen. Stimmen aus einer kritischen Kriminologie sehen darin die Etablierung eines ›Terrorismusstrafrechts‹.

HERAUSFORDERUNGEN

Bei Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund lässt sich bisher die Anwendung eines ›Feindstrafrechts‹ nicht erkennen, ein solches soll und darf auch diesbezüglich nicht postuliert werden. Dennoch fällt auf, dass die Erweiterung der Eingriffs- und Verfolgungsbefugnisse im »Terrorismusstrafrecht« wohl nicht in derselben Weise für Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund gelten sollen, die einen Angriff auf Demokratie und Rechtsstaat darstellen. Diese Straftaten sind ein besonders schwerwiegender und auf die Spitze getriebener Teil »gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit«, so der Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer.
Ein rechtsstaatliches Strafrecht hat auf das Kriminalitätsgeschehen, dem eine »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit« zugrunde liegt, konsequent zu reagieren, aber seinerseits die solcher Straftaten Verdächtigten und Beschuldigten nicht als Feinde, sondern als Rechtspersonen zu behandeln. Polizei und Staatsanwaltschaften müssen aber vor allem mit jener in der Vergangenheit allzu oft anzutreffenden Tendenz aufräumen, Straftaten mit rechtsradikalem Hintergrund überhaupt nicht zu erkennen (oder nicht erkennen zu wollen); man denke nur an die NSU-Ermittlungen, bei denen rassistische Motive zunächst ausgeklammert wurden und stattdessen das familiäre Umfeld der Opfer ins Visier von Polizei und Staatsanwaltschaft geriet.
Richtig ist die in der Fachzeitschrift Strafverteidiger erhobene Forderung, dass die Strafverfolgung und Ahndung von rechtsradikalen bzw. rassistischen Straftaten effektiver werden muss. Richtig ist es ferner auch, fragwürdige Entscheidungen zu kritisieren, wie beispielsweise die durch die Staatsanwaltschaft Mühlhausen erfolgte Einstellung des Strafverfahrens wegen Volksverhetzung gegen Alexander Gauland, der im Wahlkampf öffentlich geäußert hatte, dass er hoffe, die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoguz »in Anatolien entsorgen« zu können. Berechtigt ist auch die Kritik an dem kürzlich gesprochenen Urteil des Landgerichts Berlin, mit dem die im Internet verbreiteten gravierenden Hasskommentare gegen Renate Künast als noch von der Meinungsfreiheit gedeckt angesehen werden. Und gleichfalls berechtigt erscheint die Kritik an dem Urteil des Landgerichts Chemnitz vom 22. August 2019, wonach Recht »im Namen des zornigen Volkes gesprochen« worden sei. Dem zugrunde lag der Fall eines im August vergangenen Jahres getöteten Chemnitzer Bürgers. Nach der Tat kam es zu Demonstrationen der AfD und der rechtsgerichteten Bewegung ›Pro Chemnitz‹, in deren Folge Gewalttäter durch die Stadt marodierten. Der Polizeibericht spricht von »Vermummten«, die sich »mit Steinen bewaffnen«, »Ausländer suchen« und ein jüdisches Restaurant überfallen. Da der wegen der Tötung angeklagte Syrer trotz wohl äußerst dürftiger Beweislage durch das Landgericht Chemnitz verurteilt wurde, kritisierte nicht nur die Verteidigerin, dass das Urteil vom ersten Verhandlungstag festgestanden habe. Man habe einen Schuldigen gebraucht, damit in Chemnitz wieder Ruhe herrscht.
Gleichwohl ist zu betonen, dass dem rechtsstaatlichen Strafrecht auch im Kontext von rechtsradikalen und rassistisch motivierten Straftaten Grenzen gesetzt sind und ihm nicht etwa eine ›Allheilfunktion‹ gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit zukommen kann. Rechtsstaatliches Strafrecht allein bietet keine Gewähr dafür, dass ein prä- bzw. protofaschistisches Klima, in dem nach den Verbrechen des NSU solche Straftaten wie die Ermordung des Politikers Walter Lübcke oder der antisemitische Anschlag auf die Synagoge in Halle möglich sind, beseitigt wird. Indem der Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestages, Stephan Brandner (AfD), auf Twitter die antisemitische, rassistische und misogyne Dimension des Anschlags von Halle verleugnete, wird vor Augen geführt, worin die moralische Mitverantwortung der AfD und ihresgleichen für derartige Menschenfeindlichkeit besteht.
Kai Ambos Buch ›Nationalsozialistisches Strafrecht‹ ist eine Mahnung, sich bestimmter Kontinuitäten und der realen Gefährdungen von Rechtsstaat und Demokratie bewusst zu werden und die dafür vorhandenen gesellschaftlichen – auch systemischen – Ursachen zu hinterfragen und zu verändern. Dazu gehört vor allem auch die Herausbildung und dauerhafte Sicherung eines antifaschistischen Konsenses.

Prof. Dr. Jörg Arnold ist Strafrechtswissenschaftler in Freiburg und Münster; Mitglied im erweiterten Vorstand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein sowie Vertrauensdozent der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Nachdruck aus der jungen Welt vom 26.10.2019, Seite 12. Wir danken Verlag und Autor für die Nachdruckgenehmigung. Inzwischen liegt der Band auch in englischer Sprache unter dem Titel »National Socialist Criminal Law. Continuity and Radicalization« im selben Verlag vor.

(1) Kai Ambos ist an der Universität Göttingen Professor für Strafrecht, Rechtsvergleichung, internationales Strafrecht und Völkerrecht. Vgl. auch die Rezension des Buches von Ambos durch den Autor in: Strafverteidiger 11/2019. Inzwischen ist der Band auch in englischer Sprache unter dem Titel ›National Socialist Criminal Law. Continuity and Radicalization‹ im selben Verlag erschienen.
(2) Theodor W. Adorno: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Berlin 2019.
(3) Ambos weist allerdings auf den oft erwähnten – auch von damaligen Naziprotagonisten selbst propagierten – Unterschied zwischen dem NS-Deutschland und dem faschistischen Italien hin, »wonach bei jenem die Volksgemeinschaft im Mittelpunkt stehe und der Staat ihrem Zweck zu dienen habe, während bei diesem die Nation sich im totalen Staat verwirkliche«. (Ambos, a.a.O., S. 32, Fn. 86).
(4) https://verfassungsblog.de/rechte-und-rechtswissenschaft/
(5) Fischer, https://www.spiegel.de/panorama/justiz/strafrecht-rueckfaelle-und-gewohnheitstaeter-kolumne-a-1257312.html
(6) https://t1p.de/Alles-was-recht-ist.
(7) Vgl. Matthias Heine: Verbrannte Wörter. Wo wir noch reden wie die Nazis – und wo nicht. Berlin 2019. Siehe auch: Heinrich Detering: Was heißt hier ›wir? Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Ditzingen 2019.
(8) https://t1p.de/Opferschutz.
(9) https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/19/050/1905040.pdf.
(10) Vgl. Felix Bohr: Die Kriegsverbrecherlobby. Bundesdeutsche Hilfe für im Ausland inhaftierte NS-Täter. Berlin 2018.
(11) Norbert Frei et al.: Zur Rechten Zeit. Wider die Rückkehr des Nationalismus, Berlin 2019.
(12) https://t1p.de/Bauer.