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»DAS SALZ DES ENGAGEMENTS«

WOLF-DIETER NARR (1937 BIS 2019)

Wolfgang Kaleck

Mit Wolf-Dieter Narr ist im Oktober dieses Jahres ein langjähriger Mitstreiter des RAV nach langer und schwerer Krankheit verstorben. Er war einer der wichtigsten linken Intellektuellen seiner Generation und einer, der kritische Theorie mit einer gelebten Praxis in vielen unterschiedlichen Bewegungen verbunden hatte.
Wolf-Dieter entstammte der undogmatischen Linken und war Mitbegründer des Sozialistischen Büro (SB), sowie des Komitee für Grundrechte und Demokratie, seit langem eine Partnerorganisation des RAV. Mehr als 30 Jahre, bis 2002, lehrte er als Politikwissenschaftler am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin und hat dort vor allem immer wieder kritische Studentinnen und Studenten in ihrem Wirken unterstützt und gleichzeitig für eine wirklich freie Universität gekämpft.
Seine Sprache war bildreich und ironisch, sich selbst stellte er nie in den Vordergrund. So führte er beispielsweise über das bürger- und menschenrechtliche Engagement in der alten Bundesrepublik aus: »Ohne das Salz dieses Engagements, das Autoritäten zur Legitimation nötigt, das selbst andersgeartete Urteile und Verhaltensweisen beeinflusst, das in Bewusstsein und Verhalten derjenigen ein stückweit ›sozialisierend‹ eingeht, die sich herrschaftlich täglich darüber hinwegsetzen – ohne dieses Salz schmeckte das Leben in der Bundesrepublik Deutschland anders«. Natürlich sprach er damit auch über sich selbst. Er war einer, der zahlreiche Bewegungen in Wort und Tat begleitete, seien es die Zustände in psychiatrischen Anstalten, Abschiebehaftanstalten oder in ganz normalen Gefängnissen – ein Themenkomplex, der heute fast von allen ausgeblendet wird; in der Umweltbewegung war er ebenso aktiv wie in der Friedensbewegung.
Uns verband natürlich sein Engagement für die Bürgerrechts- und Menschenrechtsbewegung, etwa bei der Zeitschrift Bürgerrechte und Polizei/CILIP und dem schon erwähnten Komitee. Sein Ausgangspunkt war oft die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, so etwa in einem seiner letzten Bücher: ›Trotzdem: Menschenrechte! Versuch, uns und anderen nach nationalsozialistischer Inhumanität Menschenrechte zu erklären‹.
Und nicht erst, wenn er Ernst Bloch zitiert, »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst«, sondern in vielen seiner Texte ist der Duktus des utopischen Sozialisten erkennbar. Wie sehr unterscheiden sich seine Worte von dem manchmal sehr glatten Menschenrechtssprech hauptamtlicher Funktionäre und Politiker von heute. Und wie aktuell ist sein Hinweis darauf, dass Menschenrechte »ständig neu erfunden und ständig neu errungen werden« müssen und dass »Menschenrechte, wie Menschen nie fertig« und »nie definitiv erreicht sein werden«. Es spricht der Herrschaftskritiker, wenn er ausdrücklich feststellt, dass Menschenrechte keine »von äußeren oder höheren Instanzen gegebenen Rechte« sind, sondern »menschliche Bedürfnisse in einer begrifflichen Form zusammenfassen, die den Namen Menschenrechte erhalten haben«.
Auch auf dem internationalen Kolloquium des RAV ›EU – Grundrechtecharta nach Nizza‹ im Juni 2001 geht er in seinem Vortrag »Grundrechtecharta: Auf dem Weg zu einer Verfassung Europas?« von seinem Referenzpunkt, dem Jahre 1945, aus und beschreibt, dass er nach 1945 ein begeisterter Europäer war, für den Europa den endgültigen Abschied vom kriegsbluttriefenden Nationalstaat und von den unsäglichen nationalstaatlich herrschaftlich bornierten Konflikten bedeutete. Von dieser Position aus kritisierte er die Grundrechtecharte und die EU. Es geht also: sich als begeisterter Europäer zu verstehen und gleichzeitig an dem Institutionengefüge, insbesondere wegen des nach wie vor bestehenden demokratischen Defizits, Kritik zu üben. Als geschulter Sozialist wies er uns europäische Jurist*innen darauf hin, dass Europa eine Realverfassung habe und diese von den Spitzeninstitutionen der EU und vor allem aber von einer global orientierten, konzentrierten europäischen Ökonomie dominiert sei. Erst wenn man das Verhältnis von Ökonomie, Exekutive europäischer Politik sowie Demokratie und Menschenrechte erörtere, könne man zu einer wahrlich demokratischen Verfassung gelangen.
Der Bericht von der damaligen Veranstaltung bliebe unvollständig, wenn ich nicht erwähnte, dass seine langen bildhaften Ausführungen für die europäischen Kolleginnen und Kollegen unverständlich blieben. Ein Fremdkörper, auch unter den versammelten linken Juristinnen und Juristen, was in keiner Weise gegen den Verstorbenen, vielmehr aber für die Borniertheit und Beschränktheit unserer Profession spricht. Und, um in seinem Bild zu bleiben: Der Querdenker und Querredner Narr wird uns fehlen, nicht nur weil der Salzvorrat des bürger- und menschenrechtlichen Engagements in Deutschland mit seinem Tod um einige Körner kleiner geworden ist.

Wolfgang Kaleck ist Rechtsanwalt in Berlin, Fachanwalt für Strafrecht und Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights; von 2000 bis 2008 war er Vorsitzender des RAV.