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Martin Lemke

24. AUGUST 1959 BIS 18. APRIL 2019
EIN NACHRUF

Hannes Honecker

Martin Lemke war Rechtsanwalt und Strafverteidiger in Hamburg. Er war Mitglied im Vorstand des RAV seit 1996 und Vorstandsvorsitzender der Werner-Holtfort- Stiftung von 2001 bis 2013.
Ich erinnere mich an einen Castoren-Transport Anfang der 2000er-Jahre:
Martin Lemke war einer der Rechtsanwälte der Bäuerlichen Notgemeinschaft im Wendland. Er setzte sich mit seinem ganzen Wissen, mit seinem Charme und seiner Chuzpe sowie der Kraft seiner breiten Schultern ein. Hinter diesen fanden nachfolgende junge Kolleginnen und Kollegen Schutz, die er zu Ausbildungszwecken einfach mitnahm, in seinem Kielwasser konnte auch ich Polizeiabsperrungen überwinden. Ein Mandant hatte Martin Lemke zu einer Blockade einer Kreuzung mit mehreren Dutzend Traktoren gerufen. Jedenfalls behauptete Martin Lemke dies an einer Absperrung dem Einsatzleiter einer sächsischen Einsatzhundertschaft gegenüber. Er trug dem Beamten des gehobenen Dienstes vor, er wolle mit seinem Mandanten sprechen. Das glaubte der Einsatzleiter natürlich nicht. Lemke habe keine schriftliche Vollmacht vor- zuweisen; auch wies er auf die in seinem Auto anwesenden jungen Anwältinnen und Anwälte hin, die sicherlich nicht alle denselben Mandanten hätten. Martin ignorierte das, hielt ihm erst einen Vortrag über den 163a und 136 StPO, und als der Beamte das noch immer nicht verstehen wollte, rief er den Ermittlungsrichter an und bat ihn, dem Polizisten die Rechtslage zu erläutern und für freies Geleit zu sorgen. Nach Überwindung der Sperre konnte Martin Lemke seinen 70jährigen Mandanten und die anderen 30 bis 40 Bauern aus dem Kessel herausverhandeln, er und auch die anderen Bauern bekamen ihre Traktoren zurück. Allerdings auch, weil ein ortskundiger und ortsansässiger Einsatzleiter die Konfrontation mit 20 Traktoren und ihren Fahrerinnen und Fahrern meiden wollte. Martin wies mich und die anderen von seinem anwaltlichen Einsatz begeisterten jungen Kolleginnen und Kollegen darauf hin, dass die Auflösung des Kessels weniger auf sein Verhandlungsgeschick zurückzuführen sei. Vielmehr habe seine Zuspitzung Anlass für eine willkommene Lösung gefunden. Der Karren sei durch Einsatzleiter anderer Bundesländern festgefahrenen worden; die ortskundigen und -ansässigen Beamten wollten ihn gegenüber ihren Bauern lösen. Die Bauern fuhren mit Ihren Traktoren auf eine andere Kreuzung. Martin war unser und wohl auch der Held der Bauern.

Ich glaube sagen zu können, dass Martin weder ein Held war, noch einer sein wollte. Er zeigte uns jüngeren Anwältinnen und Anwälten nur, wie er vorging. Martin lieferte sozusagen Lehrstunden. Dabei war er nie belehrend. Er wies uns darauf hin, dass Beamte leichter den Imperativ verstehen, dass sie Befehlen gegenüber empfänglich seien. Diese Befehle erteilte er; er konnte dazu aber auch die ortsgebundenen und damit den Bauern verpflichteten Beamten, alternativ auch den Bereitschaftsrichter nutzen. Er war fasziniert vom Widerstand der alten Bäuerinnen und Bauern, der Schülerinnen und Schüler im Wendland, wo er später mit seiner Frau Elisabeth ein Wochenendhäuschen anmietete. Er war über lange Jahre Teil des Protestes gegen das Zwischenlager Gorleben. Er liebte den anarchischen Widerstand, die Menschen. Begeistert berichtete er von den Kommunikations- und Diskussionsformen, als er mir das Prinzip der human microphones erklärte und von einem Erlebnis auf einem Feld in nächtlicher Kälte erzählte. Eine Gruppe von etwa 100 Menschen hatte die Methode, unter Beteiligung aller miteinander zu diskutieren – und zwar, indem alle Anwesenden das Statement eines der Diskussionsteilnehmerinnen zunächst wiederholten (human microphone), bevor der nächste Diskussionsteilnehmer seinen Beitrag abgab. Martin war fasziniert davon, welche Wucht das wiederholte Wort bekam. Er war fasziniert von dem durchaus militanten, aber nicht sinn- und ziellosen Einsatz des Körpers im Pyramidenbau der Demonstranten, bei den Baumkletterern und den Traktorfahrerinnen.

Martin war aber für mich vor allem Strafverteidiger, und zwar sowohl im politischen Raum als auch im Gerichtssaal. Seit den 1990er-Jahren war er im Vorstand des RAV; eine längere Zeit im Vorstand verbrachte meines Wissens nur Wolf Dieter Reinhard. Als vehementer Kritiker nicht zuletzt der Grünen begleitete er deren Politik missbilligend, wie die all derer, die opportunistisch ihre Grundsätze fortwarfen; so unkte er gern, dass es mutmaßlich ein Grüner sein werde, der ›Stuttgart 21‹ eröffnet. Er kritisierte die Zustimmung Ströbeles zum Europäischen Haftbefehl; er polemisierte gegen die polizeiliche Pressearbeit im Wendland und überhaupt sowie zunehmend bei Großeinsätzen um die jeweiligen Gipfeltreffen; er setzte sich intensiv mit den neuen Eingriffsmaßnahmen um die Telekommunikationsüberwachung und das V-Mann-Wesen auseinander, er nahm auch an den Debatten um das Feindstrafrecht teil. Er war Ausbilder vieler Kolleginnen und Kollegen, war Referent im Fachanwaltskurs des RAV und zuletzt RAV Kassenwart, bevor er im November 2018, schon schwer von seiner Krankheit gezeichnet, nicht mehr für den Vorstand kandidieren wollte.

Mit der Bezeichnung Kassenwart ist seine Rolle im RAV mehr als unvollständig beschrieben. Ich glaube, dieses Amt hatte er inne, weil er der Mann der zweiten Reihe bleiben wollte; weil es ihn nicht in den Vordergrund drängte. Martin baute die jungen Kolleginnen und Kollegen auf, gab ihnen Rückhalt und stärkte sie in der Bereitschaft, Ämter und Aufgaben zu übernehmen. Als Kassenwart agierte er mit der ständigen Mahnung, politische Arbeit zu finanzieren, für die er jederzeit Geld lockermachen wollte; er achtete darauf, dass der Verein keinen Wasserkopf bekommt und war damit andererseits eine Stimme der vorsichtigen Ausgabepolitik. Überhaupt war er – für mich – die Stimme der Vernunft. Meist war er der zurückhaltende Mahner, mitunter auch polemisch, immer witzig, meistens ironisch, vor allem sehr geistreich. Überhaupt, er hatte einen zurückhaltenden, hintergründigen Humor. Wenige Veranstaltungen sind dokumentiert. Für jene, die einen Eindruck bekommen wollen, soll der Text zum 37. Strafverteidigertag in Freiburg in 2013 dienen. Er trägt den Titel ›Von der Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz‹ (vgl. den nachfolgenden Abdruck); auch das ein ironischer Titel. Neben seiner Vorstandstätigkeit im RAV war Martin Lemke fals Vertreter des RAV auch Vorsitzender der Werner-Holtfort-Stiftung, die unter seinem Vorsitz Preise an Ulrike Donat für ihren Einsatz gegen die polizeiliche Freiheitsentziehung im Wendland, an die CILIP und an den Chaos Computer Club verlieh.

Vor allem aber war Martin Strafverteidiger mit Leib und Seele. Er war geprägt von einem abgrundtiefen Misstrauen gegenüber der Justiz. Er konnte moderat sein; er konnte vor allem aber auch streiten. Er war ein hervorragender Redner. Vor einigen Jahren gab er eine Lesung mit einer Reihe von Verteidigungsreden und Beweisanträgen, teilweise auch Berichten aus Verfahren, die er als Audiofile im kleinen Kreise veröffentlichte und in denen sein Witz, seine Polemik und seine rhetorischen Fähigkeiten deutlich wurden. In Strafverfahren gelang es Martin Lemke, V-Männer im Verfahren zu enttarnen. Er verteidigte einen Cannabisdealer in einen für diesen akzeptablen Deal hinein, indem er die Hamburger Innensenatoren Hartmut Wrocklage und Olaf Scholz in den Zeugenstand rief. Diese sollten ein Stillhalteabkommen mit Cafés im Schanzenviertel nach dem Vorbild holländischer Coffee Shops vereinbart haben. Das war aber aus wahltaktischen Gründen beendet worden. Er verteidigte die Einfuhr von Heroin aus Afghanistan und lud Bundeswehroffiziere in den Zeugenstand, die bestätigen sollten, dass sie Abkommen mit den Heroinbauern um Kundus herum trafen (die Bundeswehr schützte deren Anbau, die Heroinbauern schützten die Bundeswehr vor den Taliban). Er enttarnte polizeiliche Machenschaften, die deren fehlende Akzeptanz des Rechtsstaates in einer Vielzahl von Verfahren deutlich machten. Auch hier war er oft in doppelter Funktion (als Verteidiger und Ausbilder, der sein Wissen jeweils gerne weitergab) tätig. Allerdings konnte er auch selbst um Rat fragen und gab auch von dieser Kraft zur Selbstreflektion anderen etwas ab. Er referierte 2017 auf den Choriner Tagen der Vereinigung Berliner Strafverteidiger. Als er einen Fall schilderte, in dem eine Große Strafkammer ein umfangreiches Verfahren wegen rechtsstaatswidriger Beweismanipulation durch Sondereinheiten der Polizei einstellte, sprang sein Diskussionsteilnehmer, Strafkammervorsitzender am Berliner Landgericht, puterrot auf und verließ das Podium. Martin Lemkes lakonischer Kommentar lautete, er sei noch gar nicht fertig mit der Schilderung der Manipulationen der Polizei. Martin war ein beliebter, ein aufgesuchter Verteidiger. Seinen Mandanten riet er, keine größeren Fahrzeuge zu fahren als die Beamten des mittleren Dienstes. Wiederholt forderte er sie auf, sich von den großen aufgemotzten Autos und vor allem von ihren Handys zu trennen. Er war schon lange im Krankenhaus, als noch Mandanten bei ihm anriefen. Nach der Beschlagnahme mehrerer Kilogramm Kokain im Hamburger Hafen meldeten sich von den neun Verhafteten alleine sechs in seinem Büro mit der Bitte um Mandatsübernahme. Dazu kam es nun nicht mehr.

Martins Witz, Martins Lakonie, seine Ironie, seine geistreichen und manches Mal spöttischen Kommentare werden dem RAV, werden mir, werden seinen Mandant*innen fehlen. Mit ihm verlieren wir einen großen Streiter und ein großes Herz.

Seinen Eröffnungsvortrag auf dem Strafverteidigertag 2013 schloss Martin Lemke mit einem Zitat von Charles Laughton (als Sir Wilfrid in ›Zeugin der Anklage‹): „»In einem Gerichtssaal gibt es nur zwei Ehrenplätze – auf einem sitzt schon der Angeklagte«. Wir Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger, so ergänzte Martin Lemke, sollten uns bemühen, den zweiten Ehrenplatz im Gerichtssaal angemessen auszufüllen.

Hannes Honecker ist Rechtsanwalt in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV.