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Hans-Christian Ströbele wird 80

KANONIER, KRIEGSGEGNER, KULTFIGUR – UND MEHR

Wolfgang Wieland

Eigentlich ist über Christian schon alles gesagt oder geschrieben, nicht zuletzt in der großen Biografie von Stefan Reinecke aus dem Jahre 2016. Aber Christian gefiel sie nicht uneingeschränkt, insbesondere störte ihn das Kapitel über die RAF. Er werde nun selbst seine Geschichte schreiben, sehr umfänglich. Bis diese finale Ausarbeitung vorliegt, können es im Folgenden nur vorsichtige Annäherungen sein: Annäherungen an eine Art Gesamtkunstwerk aus Politiker und Jurist.

»Wolfgang, die Revolution geht ja am Stock« – dies rief mein recht jugendlicher Mitarbeiter aus, als mich alte SDS-Recken wegen des immer noch fehlenden öffentlichen Gedenkens an Benno Ohnesorg besuchten. Etwas altväterlich belehrte ich ihn, dass zwar möglicherweise die Revolutionäre, aber niemals die Revolution hinfällig werden. Überzeugt hat es ihn, im Osten aufgewachsen, nicht wirklich.
Christian geht nun seit einigen Jahren tatsächlich am Stock. Auch er glaubt nicht mehr, dass er die Welt-Revolution noch erlebt. Dieses in aller Nichtkonkretheit herbeiphantasierte Ereignis unmittelbar so Ende der 60er-Jahre erwartet zu haben, ist einer der wenigen Irrtümer, zu denen sich Christian bekennt. Ansonsten ist er stolz darauf, heute noch im Wesentlichen die gleichen Reden zu halten wie vor 30-40 Jahren. Und das stimmt sogar. Wo man wohl jedem anderen eine fehlende Lernbereitschaft und einen gehörigen Altersstarrsinn bescheinigen würde, gibt es bei Christian vor allem Anerkennung und Bewunderung.
»Nur wer sich ändert, bleibt sich treu« sang Wolf Biermann. Er sang im Übrigen auch: »Junge, ich hab‘ Leute sich ändern seh‘n. Junge, das war manchmal schon nicht mehr schön«. Weil diese Art des Änderns, des Anpassens an den Zeitgeist oder an die Obrigkeit das Normale, das Vorherrschende heute ist, konnte Christian zum Anti-Typen werden. »Ich mag zwar die Grünen nicht, aber der ist authentisch, der ist sich treu geblieben« – hundertmal so gehört.

DER KANONIER

Vorherbestimmt war diese Rolle nicht. Kurz vor Beginn des Krieges in Halle geboren, wuchs er mit den generationsüblichen Konflikten zu dem Vater, einem NSDAP-Mitglied, auf. Das Schießen lernte er bei der Bundeswehr, wo man ihn zum Kanonier ausbildete. Wobei er Wert darauf legt, selbst die Beförderung zum Gefreiten abgelehnt zu haben, also auf eine militärische Nicht- Karriere zurückzublicken.
Die entscheidende Politisierung begann, wie bei so vielen, mit der APO und der Studentenbewegung. Sie führte ihn zum einen in die SPD und als Referendar in das Anwaltsbüro von Horst Mahler. Danach bildete er dort mit Klaus Eschen als drittem Partner Deutschlands erstes ›Sozialistisches Anwaltskollektiv‹. Das Schild an der Hausfassade musste alsbald abgeschraubt werden, weil die Anwaltskammer auf die Beschwerde eines Kollegen hin zu der Ansicht kam, hier werde Gemeinnützigkeit vorgetäuscht.
Dann spielte die eingangs erwähnte RAF eine Rolle in zweierlei Hinsicht. Horst Mahler schloss sich ihr an und ging in den Untergrund. Christian schickte Anwaltspost an die Inhaftierten der RAF und wurde wegen der Anrede »Genossen« in diesem Zusammenhang aus der SPD ausgeschlossen.

DER VERTEIDIGER

Wenn schon eine politische Partei derart überreagierte, ließ sich der Staat nicht zweimal bitten und reagierte noch härter. Quasi an seinem Arbeitsplatz, auf der Gerichtstreppe des Kriminalgerichtes Moabit, wurde Christian festgenommen und in die U-Haftanstalt im selben Gebäudekomplex verbracht. Dieses demonstrative Machtsignal war ein anhaltender Schock für alle Kolleginnen und Kollegen, die in den damaligen politischen Verfahren tätig waren. Sie fühlten sich nunmehr weitgehend vogelfrei.
Als Begründung war im Haftbefehl das sog. Info-System für die Gefangenen angegeben. Diese bereiteten sich auf ihre Hauptverhandlungen vor und hatten wegen des Gruppenzusammenhanges Interesse an Texten und Materialien der anderen Beschuldigten. Diese Schriftstücke, darunter Aufrufe zum Hungerstreik und zur Fortsetzung des Kampfes, wurden von den Anwälten per Post allen zugesandt. Dies geschah, bevor insbesondere im Hinblick auf das Verfahren in Stuttgart-Stammheim, das Verbot der Mehrfachverteidigung § 146 StPO und die Beschränkung der Verteidigerzahl § 137 Abs. 1 Satz 2 StPO in die Strafprozessordnung aufgenommen wurden. Ebenfalls schuf man mit den §§ 138a ff. StPO erstmals die Möglichkeit zum Verteidigerausschluss. Im Fall des sog. Ensslin-Kassibers hatte nämlich das Bundesverfassungsgericht gegenüber Otto Schily festgestellt, dass es für eine solche vom BGH beschlossene Maßnahme keine rechtliche Grundlage gäbe.
Allgemein wurde zu dieser vom Links-Terrorismus geprägten Zeit das Motto des BKA- Chefs Horst Herold befolgt: Wenn wir feststellen, dass wir etwas ohne rechtliche Grundlage machen, dann schaffen wir sie eben. Dies war der Grundtenor, der gipfelnd in der Einführung von Trennscheibe und Kontaktsperre die ganzen 70er-Jahre prägte.

DER VERURTEILTE

Für Christian folgte eine Verurteilung wegen der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung durch das Landgericht Berlin. Sein Kollege Kurt Groenewold war in Hamburg zuvor zu demselben Strafmaß verurteilt worden. Beiden war ein Verbotsirrtum zugebilligt worden, allerdings ein vermeidbarer. Nicht so dem Dritten im Bunde, Klaus Croissant. Dieser habe sich nicht geirrt und sei auch nicht einsichtig und müsse deshalb für zweieinhalb Jahre in das Gefängnis. Wie der BGH, mit allen drei Fällen befasst, erkennbar nicht in der Lage ist, legitime Verteidigertätigkeit von strafbarer Unterstützungshandlung zu unterscheiden und entsprechende allgemeingültige Abgrenzungskriterien aufzustellen, liest sich heute noch oder gerade wieder abenteuerlich.
Da verwundert es nicht wirklich, wenn Christian als einer der Betroffenen, dem diese Verurteilung in der politischen Auseinandersetzung immer wieder um die Ohren gehauen wurde, seinen Frieden mit diesem Staat noch nicht machen konnte.
Christian erhielt im Übrigen Haftverschonung mit der denkwürdigen Begründung, er sei verheiratet und lebe in einer Eigentumswohnung. Dies lasse eine Flucht unwahrscheinlich erscheinen. Wir fragten uns damals als Gerichtsrefendar*innen, ob wir nun wenigstens heiraten sollten – zu dieser Zeit unüblich –, wenn wir uns schon eine Eigentumswohnung in dieser Lebensphase nicht leisten konnten.
Wie es zu einer derartigen Kriminalisierung anwaltlicher Tätigkeit kommen konnte, ist heute kaum noch zu vermitteln. Selbst der seinerzeitige Justizminister Hans-Jochen Vogel spricht inzwischen von einer »Staatlichen Überreaktion«. Am Anfang stand, wie in der Regel vor Gesetzesverschärfungen, der konzertierte Einsatz von Strafverfolgern, Polizeigewerkschaften und ihnen hörigen Medien. ›Bild am Sonntag‹ wusste im Mai 1972 von 45 linksradikalen Anwälten zu berichten. Ihre Tätigkeit wurde wie folgt dargestellt:
»Sie präparieren Zeugen, die bei einem Geschehen gar nicht zugegen waren, um angeklagte Bandenmitglieder – gleichsam meineidig – zu entlasten. Sie übernehmen den Transport von Gegenständen, die der Ausübung von Straftaten dienen, zum Beispiel den Transport von Sprengkörpern. Sie verbringen Haschisch, Rauchwaren, Fotoapparate in die Zellen, transportieren Nachrichten aus den Gefängnissen und vermitteln Kassiber…«.(1)
Dieses Bild der »Linksanwälte« lag ihrer Behandlung zugrunde. Dass wesentlich später einige Kollegen aus diesem Kreis tatsächlich in den Untergrund gingen, auch in der Realität Waffen nach Stammheim schmuggelten, war so etwas wie die ›self-fulfilling prophecy‹. Dass dies heute noch zum Teil bestritten wird, ebenso wie die Selbstmordannahme in Stammheim, fällt wiederum unter die Kategorie Realitätsverweigerung.

DER GRÜNDER

Christian war einer der Gründer der taz. Täglich eine linke, radikale (das Komma betonten die einen mehr, die anderen weniger) Tageszeitung – das war 1978 noch ein Versprechen, war Fritz Teufels Traum wie von einer schönen Frau. Christian war nicht nur einer der Ideengeber und Veranstalter der legendären Redaktionsfrühstücke, sondern er verkaufte die Zeitung auch selbst auf Berlins Trödelmärkten. Mit denselben Clocks an den Füssen, mit denen er auch in die Gerichtssäle stürmte.
Gründer der AL, der Alternativen Liste, war  er allen Wikipedia-Einträgen zum Trotz nicht. An den Vorläufen beteiligt, trat er zunächst aus Furcht vor einer K-Gruppendominanz nicht bei, um dann später umso sichtbarer in Erscheinung zu treten. Die AL schickte ihn in den Bundestag nach Bonn. Dies war zu dieser Zeit noch möglich, als die Berliner Abgeordneten nicht direkt gewählt, sondern vom Abgeordnetenhaus entsandt wurden.

DER PARLAMENTARIER

Es war der Beginn einer jahrzehntelangen Parlamentskarriere, die Christian noch in Zeiten der Zweijahres-Rotation voll Abscheu als Inbegriff etablierter Politik von sich gewiesen hätte. Nach eigener Einschätzung wäre er ohne seine Erkrankung heute noch im Bundestag. War es doch sein Traum, einmal als Alterspräsident die Legislaturperiode zu eröffnen und endlich all das Aufgestaute und Unausgesprochene ohne Ermahnung und ohne Ordnungsruf eines noch nicht existenten Präsidiums aussprechen zu können. Angst davor, dass er sich und die Fraktion dabei blamiert, musste niemand haben. Bei aller Eigenständigkeit, bewahrter Widerborstigkeit aus APO-Zeiten und ›Alter-Naivität‹ gab es nie einen Zweifel an Christians Grundloyalität zu dem grünen Projekt. Das mussten die vielen aus dem linken Spektrum über die Jahre erkennen, die ihn aus diesem Zusammenhang herauslösen und in irgendein neues Organisations-Abenteuer hineinziehen wollten.

DER KRIEGSGEGNER

Diverse Anlässe zum Hadern mit den Entscheidungen seiner Partei und vor allem der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder gab es.
Stichworte dafür sind unter anderem der Kosovo–Einsatz und Afghanistan. Christian stimmte immer dagegen und sorgte zugleich mit dafür, dass die Kanzlermehrheit bei der Vertrauensfrage durch zu viele Nein-Stimmen nicht gefährdet war. Sollten andere den denkwürdigen Satz aussprechen, ›Mein Ja ist in Wirklichkeit ein Nein‹. So war er geradezu beleidigt, als Gerhard Schröder zur Begründung seiner unechten Vertrauensfrage zur Herbeiführung von Neuwahlen auch Christians Verhalten mit heranzog. Prinzipientreue, scharfe Kritik war das eine, die Erkenntnis, dass nach Rot-Grün vieles schlechter würde, war das andere.
Christian war zweifelsohne bunt schillernd, aber vor allem doch ein Grüner.

DER AUFKLÄRER

Was hat sich eingebrannt von den langen Jahren im Parlament. Vor allem die hartnäckige, bedingungslose Kontrolle der Exekutive, und zwar da, wo es am schwierigsten ist: Im Bereich der Nachrichtendienste. Sei es in Untersuchungsausschüssen wie Murat Kurnaz/Guantanamo, NSU-Morde, NSA/Snowden oder in der kontinuierlichen Arbeit im Parlamentarischen Kontrollgremium: Wo andere sich mit Regierungsverlautbarungen abspeisen ließen oder vor der Schwierigkeit kapitulierten, die Fakten im Digitaldschungel aufzuspüren, reiste Christian an und kontrollierte. Seit es nichts mehr in Leitz-Ordnern oder Karteikästen zu finden gab, musste er nolens volens zum IT-Experten werden. Der Aufklärungsauftrag, dem er vorbehaltlos verpflichtet war, verlangte es.

DIE KULTFIGUR

Hierbei gingen anwaltliches know how und politisches Engagement direkt eine Verbindung ein. Aber nicht nur deswegen wurde Christian als erster Bundestagsabgeordneter der Grünen dreimal direkt in Friedrichshain-Kreuzberg gewählt. Christian war Kult. Die von Seyfried gezeichneten Plakate, der dort vom Zeichner platzierte Spruch »Ströbele wählen heißt Fischer quälen«, der von Stefan Raab vertonte Ausruf »Gebt das Hanf frei« (gar nicht generell gemeint, sondern auf beschlagnahmtes Gut bei der Hanf-Parade bezogen), sein Kampf um Wahrheit und Klarheit (Mark Brandenburg) auf Milchtüten,(2) seinem Lieblingsgetränk, – eine Kette ohne Ende in der Erkenntnis, dass gute Politik von der Substanz lebt, aber auch eine Showseite hat.
Das gäbe Christian wohl nicht wirklich zu. Mit durch nichts zu erschütternder Gewissheit hielt und hält er daran fest, dass nur eine linke Politik gut ist. Mit politologischen Diskussionen über ›what`s left‹ hält er sich nicht lange auf. Was er tut, ist allemal links.

Zum Schluss ganz persönlich: Lieber Christian, bekanntlich rauchst Du nicht, trinkst nicht und isst kein Fleisch. Aus so viel Askese folgt eine Verpflichtung. Bleibe uns noch ganz lange erhalten!

Wolfgang Wieland ist Rechtsanwalt in Berlin und Gründungsmitglied sowie ehemaliger Vorsitzende des RAV. Unterüberschrift und Endnoten wurden von der Redaktion eingefügt.

(1) Vgl. Heinrich Hannover, Strafanzeige gegen Springer wegen Volksverhetzung, in: Kritische Justiz 5/3 (1975), S. 279.
(2) Wer sich nicht erinnert, hier der Beitrag zur ›Wahrheit und Klarheit‹: Björn Seeling, Jetzt kommt wieder Brandenburg in die Tüte, in: Der Tagesspiegel v. 10. Juli 2014, https:// www.tagesspiegel.de/berlin/nach-etikettenschwindel- bei-milch-jetzt-kommt-wieder-brandenburg-in-die-tue- te/10177188.html.