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Die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz

ERÖFFNUNGSVORTRAG AUF DEM 37. STRAFVERTEIDIGERTAG IM MÄRZ 2013

Martin Lemke

Liebe Kolleginnen und Kollegen,
das Thema der Tagung ist das meines Vortrages: Die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz.
Um am Freitagabend, nach einer womöglich langen Arbeitswoche und womöglich noch längerer Anreise, Ihre Aufmerksamkeit zu erlangen, möchte ich Ihnen als erstes sagen, wer uns hier gleich begegnen wird:
Da sind von Seiten der Justiz: die Generalbundesanwälte aus Karlsruhe, der Oberste Gerichtshof der Britischen Zone in Deutschland, natürlich der Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht; von Seiten der Wissenschaft: die Professoren und Hochschullehrer Wolfgang Abendroth, Joachim Perels, Eberhard Schmidt, Tobias Singelnstein, Ingo Müller und zum Glück nur kurz der unvermeidliche Carl Schmitt; von Seiten der Anwaltschaft: die Strafverteidiger Sebastian Cobler und Heinrich Hannover; und von Seiten der Kunst: Billy Wilder, Charles Laughton und Marlene Dietrich.

Sie merken, diese Aufzählung ist extrem ›männerlastig‹ und das auch noch ausgerechnet heute, am 8. März, dem internationalen Frauentag, aber diese Art patriarchaler Strukturen teilen der Rechtsstaat und die Justiz bei allen sonstigen Unterschieden seit mehr als 60 Jahren.

Das Thema also noch einmal: Die Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz.
Zunächst geht es um die Anfänge und die Entstehung des Rechtsstaates und der Justiz. Im zweiten Teil beschäftige ich mich mit der Entwicklung von den 50er- bis zu den 90er-Jahren und am Schluss mit dem aktuellen Zustand des Rechtsstaates und der Justiz.

Betrachten wir zunächst die Anfänge und die Entstehung des Rechtsstaates und der Justiz in Deutschland. Nach dem 8. Mai 1945, der Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur, entsprach es dem Willen der alliierten Siegermächte, in Deutschland unmittelbar und zügig demokratische und rechtsstaatliche Verhältnisse auch in der Justiz einzuführen. Die Justiz ihrerseits, oder richtiger: der bestehende Justizapparat der NS-Diktatur, hatte den 8. Mai 1945 als Debakel und Zusammenbruch erlebt. Aus dem erhofften Endsieg mit dem Führer, auf den man einen Eid geschworen hatte, war eine bedingungslose Kapitulation geworden. Statt tausendjährigem Reich nun Demokratie und Rechtsstaat. Der bis dahin herrschende NS-Justizapparat versuchte, sich ab 1945 auf zwei Ebenen zu organisieren, um dem Anspruch der Siegermächte zu widerstehen oder diesem zumindest möglichst unbeschadet auszuweichen. Die zwei Ebenen waren erstens die personelle Kontinuität des Apparates und daraus erwachsend zweitens die Kontinuität nationalsozialistischen Rechtsdenkens, insbesondere im Verfassungsrecht, im Arbeitsrecht und im politischen Strafrecht.
Es entwickelte sich 1945 über mehrere Jahre bis etwa Anfang der 50er-Jahre eine mehr oder weniger offen geführte rechtspolitische, personelle und ideologische Auseinandersetzung um den Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates einerseits und den personellen und rechtspolitischen Kontinuitätsanspruch nunmehr ehemaliger NS-Juristen andererseits. Diese saßen zunächst ja alle noch auf ihren Posten und hatten in der übergroßen Mehrzahl nicht die Spur von Scham, Skrupeln oder nur ein schlechtes Gewissen hinsichtlich ihrer Tätigkeit zwischen 1933 und 1945.
Im Ausnahmezustand, so Carl Schmitt, tritt das Recht zurück, aber die Ordnung bleibt erhalten. Mit dieser Definition der Justizpraxis im NS-Staat als Entschuldigung wollten es viele Richter und Staatsanwälte, die bis dahin Karriere gemacht hatten, auch nach dem 8. Mai 1945 noch einmal versuchen und auf ihren Posten bleiben. Die Täter, das waren die Anderen, jedenfalls nicht die Juristen. Was bis gestern Recht war, konnte ja, frei nach Filbinger, ab 9. Mai 1945 nicht alles Unrecht sein.
Personelle Alternativen durch schlichte Auswechslung des Personals des Justizapparates standen den alliierten Mächten bei weitem nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung. Die Alliierten wussten das, und die NS-Juristen wussten das auch. Die wenigen sozialdemokratischen und jüdischen Richter und Justizmitarbeiter waren seit langem aus dem Dienst entfernt und viele von ihnen umgebracht oder in die Emigration gezwungen worden. Ebenso erging es den sozialdemokratischen, kommunistischen und jüdischen Anwälten. Die wenigen Rückkehrer aus dem Exil wurden nach 1945 gemieden oder soweit sie Richter waren, gleich als Vaterlandsverräter behandelt. Der Roman Landgericht von Ursula Krechel, ausgezeichnet mit dem Deutschen Buchpreis 2012, behandelt dieses Thema. Die Alliierten bemühten sich mangels personeller Alternativen zunächst auf formalem Weg, rechtsstaatliche Verhältnisse in den bestehenden deutschen Justizapparat einzuführen.
Als der Rechtsstaat kam, war die Justiz schon da. Das sollte sich als fatal erweisen.
Der strukturelle Bruch mit der NS-Herrschaft wurde geschaffen durch die Erklärung der Alliierten vom 6. Juni 1945, vier Wochen nach Kriegsende. Damit übernahmen die Alliierten die oberste staatliche Gewalt auch auf judikativem Gebiet. Durch die Proklamation Nr. 3 des Kontrollrates der alliierten Mächte vom 30.10.1945 wurden Grundsätze für die Umgestaltung der Rechtspflege erlassen. Darin hieß es u. a.:
Mit der Ausschaltung der Gewaltherrschaft Hitlers durch die alliierten Mächte ist das terroristische System der Nazigerichte abgeschafft worden. An seine Stelle muss eine Rechtspflege treten, die sich auf die Errungenschaften der Demokratie, der Zivilisation und der Gerechtigkeit gründet.
Weiter heißt es:
Das deutsche Gerichtswesen muss auf der Grundlage des demokratischen Prinzips, der Gesetzmäßigkeit und der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz ohne Unterschied von Rasse, Staatsangehörigkeit oder Religion umgestellt werden. Die Grundsätze des Rechtsstaats waren damit bestimmt.

Für solche Forderungen und demokratischen Rechtsprinzipien waren Monate zuvor, also noch kurz vor Kriegsende, beispielsweise die Mitglieder des Kreisauer Kreises verurteilt und hingerichtet worden durch jene Richter, die jetzt das neue Recht sprechen sollten. Diese Grundsätze einer demokratischen Rechtspflege galten den NS-Juristen bis dahin als Hochverrat. Viele von ihnen hatten sich ohne Bedenken dem NS-Staat dienstbar gemacht und im Reichsgericht, dem Volksgerichtshof, den Sondergerichten oder als Wehrmachtsjuristen zehntausende Angeklagte zum Tode verurteilt und umbringen lassen.
Sie wussten auch was sie taten. Generalstaatsanwalt Dr. Jung 1935 in Berlin: die Staatsanwaltschaft ist zu einem Werkzeug in der Hand des Führers geworden, das ihm bis in seine letzte Gliederung hinein in treuem und unbeugsamen Gehorsam zur Verfügung steht. Diesen NS-Juristen konnte es natürlich nicht passen, was der Oberste Gerichtshof in der Britischen Zone in Deutschland feststellte. Es konnte ihnen nicht passen, weil es nicht ihren ideologischen und rechtspolitischen Vorstellungen entsprach, und es konnte ihnen nicht passen, weil sie, die ehemaligen NS-Juristen, eine eigene Strafverfolgung für ihr Handel und Tun als Richter und Staatsanwälte fürchten mussten.
Es schien die Möglichkeit auf, dass sie für ihr Tun verantwortlich gemacht werden könnten. Der Oberste Gerichtshof in der Britischen Zone in Deutschland entschied 1948: nach Auffassung aller sittlich empfindsamen Menschen wurde durch den NS-Staat schweres Unrecht begangen. Schweres Unrecht, dessen Bestrafung rechtsstaatliche Pflicht gewesen wäre. Die nachträgliche Heilung solcher Pflichtversäumnisse entspricht der Gerechtigkeit. Das bedeutet auch keine Verletzung der Rechtssicherheit, sondern die Wiederherstellung ihrer Grundlagen. Unrechtsicherung ist nicht die Aufgabe von Rechtssicherheit.
Wer als Richter vor 1945 sein Pensum an Todesurteilen erfüllt hatte, konnte nach solchen Sätzen des Obersten Gerichtes schon unruhig werden. Tatsächlich bestimmten die alliierten Mächte 1945 in verschiedenen Direktiven, dass alle früheren Mitglieder der Nazipartei und alle Personen, die an den Strafmethoden des Hitlerregimes Anteil hatten, ihres Amtes als Richter oder als Staatsanwalt enthoben werden. Sie dürften nicht zu solchen Ämtern zugelassen werden. Infolge dieser alliierten Bestimmungen verlor eine höhere Anzahl der obersten NS-Juristen ihre Funktion, nämlich alle Richter und Staatsanwälte des Volksgerichtshofes, alle Vorsitzenden und ständigen Richter und Staatsanwälte der Sondergerichte, der Präsident des Reichsgerichtes, alle Präsidenten und Vizepräsidenten sowie Generalstaatsanwälte der Oberlandesgerichte sowie alle Präsidenten der Landgerichte und Oberstaatsanwälte. Damit jedenfalls waren die handverlesene Elite der NS-Justiz, oder wie sie der Bundesgerichtshof in einer neueren Entscheidung einmal genannt hat, »die Blutrichter« der obersten NS-Gerichte, ihrer Posten enthoben. Das war immerhin ein Anfang und ein zunächst wirksamer personeller Bruch.

Ernst Fraenkel beschrieb in seinem Buch Der Doppelstaat das NS-System als durch seine »bürokratische Rechtlosigkeit« bestimmt und verlangte die Beseitigung dieser bürokratischen Rechtlosigkeit für die Konstituierung einer rechtsstaatlichen Demokratie. Dies war für ihn eine unabdingbare Voraussetzung zur Einführung des Rechtsstaates. Notwendig hierzu war ein Bruch mit den personellen Kontinuitäten im Justizapparat. Wolfgang Abendroth schrieb in seinem Buch Demokratie und Rechtspflege hierzu bereits 1946: Im Dritten Reich wurde der Richter gehorsamer Diener der nationalsozialistischen Rechtlosigkeit. Die werdende neue Demokratie findet diese Juristen schlicht vor. In ihrer Hand wäre die richterliche Unabhängigkeit eine Waffe gegen die Demokratie und ihre Träger. Deshalb darf diese Schicht nicht die Richter des neuen Staates stellen. Das Volk darf kein Vertrauen in einen Richter setzen, der Mitglied der NSDAP war, der in politischen Prozessen des Dritten Reiches tätig wurde. Mit den Schlüsselstellungen in der Justiz müssen Juristen betraut werden, deren positiv demokratische Haltung durch ihre frühere politische Tätigkeit bewiesen ist, nicht aber »unpolitische Fachleute« die ihre alten Vorurteile durch formale Bedenken verdecken.
Ein britischer Besatzungsoffizier brachte es etwas deutlicher auf dem Punkt: Die beste Lösung ist die Schließung der deutschen Gerichte auf zehn Jahre und die zwischenzeitliche Erziehung einer neuen Richtergeneration. Dazu ist es, wie wir wissen, in der Folge nicht gekommen.
Die Forderung Abendroths und der Wunsch des britischen Offiziers wurden nicht erfüllt.
Statt der notwendigen Zäsur gab es eine Kontinuität. Der ursprüngliche Ansatz der alliierten Siegermächte, die wichtigen und einflussreichen NS-Juristen nicht mit Positionen in der Justiz des neuen Rechtsstaats zu betrauen, löste sich nach und nach auf. Joachim Perels bemerkt hierzu in seinem Aufsatz Die Ausschaltung des Justizapparates der NS-Diktatur – Voraussetzung des demokratischen Neubeginns: Der Bruch mit dem nationalsozialistischen Justizsystem wurde während der Besatzungsherrschaft, ungeachtet der eindeutigen Festlegung der Kontrollratsge- setzgebung, keineswegs aufrechterhalten. So änderten die Westalliierten ihre Position von 1945/1946 zum Ende der 40er-Jahre im Zuge der Ost-West-Konfrontation. Artikel 131 des GG trat in Kraft, mit der Möglichkeit, all jene Richter und Staatsanwälte der alten NS-Justizelite wieder auf ihre Posten zu bringen, von welchen sie wenige Jahre zuvor entfernt worden waren. Die Rekonstruktion des NS-Beamtenapparates konnte ihren Lauf nehmen und dies ging einher mit einer Neulegitimation des NS-Rechtes. Personell galt bis 1946 die Regel des Kontrollrats der Alliierten, dass frühere NSDAP-Mitglieder vom Justizdienst auszuschließen sind. Die Briten lösten in ihrer Zone diesen Grundsatz als erste auf. Dort wurde das sog. Huckepackverfahren eingeführt. Für einen Unbelasteten konnte ein Belasteter in den Justizdienst zurückkehren. Die eingesetzten unbelasteten deutschen Richter des Obersten Gerichtshofes in der Britischen Zone, von deren Prinzipien zur Bestrafung der NS-Juristen wir vorhin gehört hatten, konnten zwar rechtsstaatlich legitimiert ihre Urteile verkünden; auf ihrem Rücken jedoch rückten die alten Nazi-Juristen wieder in die hohen Posten ein. Für einen Demokraten gab es immer auch einen Nazi-Juristen dazu. Ab Mitte 1946, also schon ein Jahr nach Kriegsende, war für sämtliche NSDAP-Mitglieder grundsätzlich eine Rückkehr in den Justizdienst möglich geworden. 1948 bereits waren die leitenden Posten in der Justiz wieder zu 30 Prozent mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern besetzt. Bei den Landgerichtsräten und den Landgerichtsdirektoren lag der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder zwischen 80 Prozent und 90 Prozent.

Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen noch an den 20. Strafverteidigertag in Essen 1996. Dort trat, wenn ich es richtig erinnere, der damalige Landgerichtspräsident auf und schilderte in bewegenden Worten, wie er als sehr junger Referendar Anfang der 50er-Jahre eine Besprechung des Landgerichtspräsidiums, zumeist alte NSDAP-Mitglieder, miterlebte. Der Präsident erklärte in knappem militärischen Ton, so wie er dies schon viele Jahre lang zuvor getan hatte, um die Befehle des Führers bekannt zu geben: So meine Herren, jetzt machen wir Demokratie! Er, der Landgerichtspräsident, habe dabei einmal in die Hände geklatscht, und damit war der Systemwechsel vollzogen. Alle amüsierten sich. Jeder ging wieder an seine Arbeit wie zuvor. Diese Episode lässt mich heute noch schaudern. Was den ehemaligen NS-Juristen, jetzt wieder auf Posten, noch fehlte, waren zwei elementare Aspekte für ihre weitere Arbeit und für ihre weitere Dienststellung: Erstens ein ideologischer Überbau, der sie von moralischer Schuld für ihre frühere Tätigkeit bis Mai 1945 freisprechen sollte und zweitens die Gewissheit, für eben jene Tätigkeiten juristisch nicht mehr belangt zu werden. Letzteres sollte sich als relativ einfach herausstellen. Waren die Mehrzahl der verantwortlichen justiziellen Strafverfolger ab 1949 doch alte NS-Kameraden und Parteigenossen. Fleisch vom eigenen Fleische. Mit der Freisprechung von moralischer Schuld schien es nicht ganz so einfach, nachdem mehr und mehr bekannt geworden war, dass die jetzt wieder amtierenden Richter und Staatsanwälte vor 1945 zehntausende Menschen zum Tode verurteilt und hatten umbringen lassen. Wissenschaft und Politik sprangen ein und sorgten für Entlastung. Eberhard Schmidt argumentierte: Nicht die Justiz, sondern ganz allein der Gesetzgeber hat die Fahne des Rechts verletzt. Das stimmte zwar nicht, aber es war die passende Vorlage für die moralische Freisprechung. Im Grunde war es ein einfacher ideologischer Trick. Es war nur die Justiz vom NS-Staat zu trennen, die Juristen vom Unrecht. Thomas Dehler, FDP-Mitglied und damals Justizminister unter Konrad Adenauer, bemerkte hierzu: Der deutsche Richter hat sich im Nationalsozialismus heroisch im Rahmen des Möglichen für das ewige Recht eingesetzt. Es ist fragwürdig, wenn man der Justiz aus der Vergangenheit mit Misstrauen gegenübertritt.
Das war Regierungsmeinung und schnell waren nicht die wiederbeschäftigten NS-Juristen die fragwürdigen Personen, sondern ihre Kritiker.
Ende 1948 gab es noch einen letzten Versuch, die NS-Richter und Beamten aus dem neuen Justizapparat der zukünftigen Bundesrepublik Deutschland fernzuhalten. Es war der letzte Versuch, den Rechtsstaat einzuführen und die NS-Juristen rauszuhalten. Der Redaktionsausschuss des Parlamentarischen Rates schlug im Dezember 1948, maßgeblich auf Initiative der SPD, vor, in das Grundgesetz eine Bestimmung aufzunehmen, die einen Wiedereinstellungsanspruch zumindest der von den Alliierten entlassenen Beamten, zu denen auch die höheren Richter und Staatsanwälte des NS-Staates gehörten, definitiv ausschloss. Dies hätte 53.000 Beamte getroffen und maßgeblich eine andere Entwicklung des Rechtsstaates und des bundesdeutschen Rechtssystems bewirken können. Die Ausschlussbestimmung wurde jedoch auf Intervention Konrad Adenauers, des damaligen Vorsitzenden des Parlamentarischen Rates, und nach entsprechender Intervention der Beamtenverbände und der NS-Juristen selbst nicht in das Grundgesetz aufgenommen. Der damalige Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Sträter, stellte die These auf, es habe eine grundlegende Differenz zwischen der Justiz und der NS-Führung gegeben. Der Justizminister formulierte das so: Der deutsche Richter im Dritten Reich ist intakt geblieben und hat nicht vor Hitler kapituliert. Das stimmte zwar auch nicht, aber es half natürlich den belasteten Richter sehr. Tatsächlich wurde nicht der Ausschluss der NS-Beamten, sondern ihr Einschluss durch das GG bestimmt. Am Ende des Konfliktes zwischen Rechtsstaat und Justiz stand Art. 131 GG: die Übernahme des Beamtenapparates des Hitlerregimes in den neuen Staats- und Justizapparat. Mit dieser Bestimmung gelang es, Dreiviertel des Personals aus der NS-Diktatur im bundesdeutschen Justizdienst zu beschäftigen. 40 Prozent der Richter des Volksgerichtshofes waren wieder in Stellung und sprachen Recht. Die wenigen NS-Juristen, die nicht wieder eingestellt wurden, waren entweder gestorben, pensioniert oder Anwälte geworden. Wir, unser Berufsstand, hat insoweit auch noch einiges aufzubereiten. Es waren ja nicht nur Richter und Staatsanwälte am NS-Unrecht beteiligt, sondern auch viele dienstbare Anwälte. Die Entnazifizierung, soweit sie überhaupt stattgefunden hatte, fand ihr schnelles Ende. Die Karrieren und Kontinuitäten setzten sich fort. Insbesondere im Justizwesen. Im Wirtschaftswunderland der 50er-Jahre und zu Wiederaufbauzeiten der Bundesrepublik Deutschland verbreitete sich die Ansicht, dass die Erblast der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht hinderlich sein sollte. Der Ost- West-Konflikt und das neue Bündnis mit den Westalliierten taten ihr Übriges.
Der Rechtsstaat und seine Unterstützer in der jungen Bundesrepublik hatten die erste und für viele Jahre entscheidende Schlacht gegen die Justiz verloren.

Es kamen die 50er- und 60er-Jahre, und die herrschende Justizpraxis ließ sich von Befürwortern rechtsstaatlicher Prinzipien wie Generalstaatsanwalt Fritz Bauer oder dem damals noch jungen Bundesverfassungsgericht nicht einschränken. Die alten Kameraden, die bis in die Senate des BGH hinein die Mehrheit in den Gerichten und kollegialen Spruchkörpern hatten, beeilten sich, ihre, wie sie es nannten, Pflicht am Recht zu tun.
In den 50er- und 60er-Jahren führten die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zur Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts sehr selten zu einer Anklage. Die Rechtsprechung sorgte dafür, dass die Sanktionen der Mordpraxis des NS-Staates und seines Personals systematisch minimiert wurden. Außer Hitler und den toten Mitgliedern des engsten NS-Führungszirkels gab es praktisch keine Täter, allenfalls Helfer, die aber jedenfalls keinen vorwerfbaren subjektiven Vorsatz hatten. Euthanasie-Mediziner, Führungsoffiziere der Einsatzgruppen, höhere SS-Führer, Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes und der Gestapo, Verwaltungschefs und Wehrmachtsjuristen – in den Augen der Mehrheit der bundesdeutschen Justiz in den 50er- und 60er-Jahren hatten diese Personen kein oder allenfalls geringstes Unrecht begangen und mussten nicht mehr verfolgt werden. Besonders erfolgreich war die Nichtverurteilungsquote der bundesdeutschen Justiz bei den eigenen Berufskollegen. Kein Richter wurde wegen eines von ihm bis 1945 gefällten Terrorurteils bestraft. Kein einziger Nazirichter wurde für seine Tat zur Rechenschaft gezogen. Hans Filbinger, der als NS-Marinerichter Todesurteile aussprach und das Hinrichtungskommando selbst beaufsichtigte, brachte es bis zum Ministerpräsidenten des Bundeslandes Baden-Württemberg. Sein berühmter Satz, was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein, führte erst 1978, also mehr als 30 Jahre nach den von ihm verkündeten Todesurteilen und beaufsichtigen Hinrichtungen zu seinem Rücktritt.
Die bundesdeutsche Justiz ihrerseits brauchte bis 1995, also 50 Jahre, um wenigstens die nationalsozialistischen Unrechtsurteile auch formal aufzuheben. Die personellen und ideologischen Kontinuitäten der NS-Juristen in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Rechtsprechung waren natürlich für politisch denkende Menschen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren nur schwer erträglich und führten zu durchaus heftigen Gegenreaktionen. Die personellen und ideologischen Kontinuitäten der NS-Justiz waren nicht nur konstitutiv für das Justizwesen in der Bundesrepublik Deutschland mit Auswirkungen bis in die jüngste Vergangenheit, sondern diese Kontinuitäten waren ein entscheidendes Element der Gegenbewegung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Studentenproteste, die Überwindung verknöcherter Lebens- und Moralvorstellungen, die Absage an Autoritäten und für manche der Gang in den Untergrund mit Ausübung von Anschlägen und Attentaten legitimierte sich mit eben jener Kontinuität nationalsozialistischer Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland auch im Bereich der Justiz.

Wie nah all dieses beieinanderliegt, zeigt die folgende Episode:
In dem Verfahren vor dem Oberlandesgericht Stuttgart gegen Verena Becker wegen Beihilfe zum Mord an Generalbundesanwalt Buback appellierte der Vorsitzende Richter mehrfach an die Mitglieder der RAF. Diese sollten, obwohl sie sich alle auf § 55 StPO berufen konnten, aussagen, um der, wie es der Vorsitzende nannte, historischen Wahrheit willen. Ganz so, als sei ein Strafprozess vor einer Staatschutzkammer am Oberlandesgericht ein Diskurs im geschichtswissenschaftlichen Seminar. Die Zeugen und Mitbeschuldigten der RAF schwiegen. Der für März 2011 vorgeladene Zeuge Stefan Wisniewski schwieg ebenfalls, trug jedoch einen Pullover mit dem Aufdruck: Verfolgt die Spur 8179469. 8179469 war die Mitgliedsnummer der NSDAP von Siegfried Buback. Generalbundesanwalt Buback war freilich weder das erste, noch das letzte NSDAP-Mitglied auf diesem Posten. Begonnen hatte es 1950 mit Bundesanwalt Carl Wichmann, der von 1933 bis 1945 als Senatspräsident des Kammergerichts Berlin NS-Recht gesprochen hatte. 1956 bis 1961 folgte der zweite Generalbundesanwalt, Max Güde, NSDAP-Mitglied. Der dritte Generalbundesanwalt war 1962 Wolfgang Fränkel. Er war NSDAP-Mitglied seit 1933 und als Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft an der Verhängung von Todesurteilen beteiligt. Er hatte beispielsweise für den Diebstahl eines Mantels bei dem Reichsgericht erfolgreich die Todesstrafe beantragt. Der vierte Generalbundesanwalt war von 1963 bis 1974 Ludwig Martin, der früher Mitarbeiter der Reichsanwaltschaft gewesen war und als BGH-Richter für Freisprüche in NS-Verfahren gegen Kriegsverbrecher gesorgt hatte. Er blieb immer ein Anhänger der Todesstrafe. Der fünfte war, wie bereits erwähnt, Siegfried Buback von 1974 bis 1977. Der sechste Generalbundesanwalt von 1977 bis 1990 war schließlich Kurt Rebmann, NSDAP-Mitglied. Kurt Rebmann bezeichnete sich in Diskussionen um rechtspolitische Themen selbst als Hardliner. Es sprach sich massiv für eine Verschärfung des Strafrechts aus. Während seiner Amtszeit verlangte er, härter gegen Demonstranten in Wackersdorf oder an der Startbahn-West in Frankfurt vorzugehen. Als an Recht und Gesetz gebundener Beamter forderte er die Wiedereinführung der Todesstrafe durch nachträgliches Urteil und die Erschießung von inhaftierten Gefangenen der RAF, welche freigepresst werden sollten. Er ordnete ohne gesetzliche Grundlage die totale Kontaktsperre an. Das Gesetz hierfür wurde dann nachgereicht. Zum Abschied aus dem Dienst erhielt Kurt Rebmann das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Die objektivste Behörde der Welt war auf ihrem Chefposten 40 Jahre lang mit ehemaligen NSDAP-Mitgliedern, Reichsjuristen, NS-Richtern und Todesstrafenbefürwortern besetzt. Kommen wir zum zweiten Teil:

DIE CHRONOLOGIE DER JAHRZEHNTE

Verfolgen wir die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und die Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz in den 60er- und 70er-Jahren.
Nach dem KPD-Verbot 1956 wurden von den Staatsschutzabteilungen der Staatsanwaltschaften und Gerichte tausende Verfahren gegen Beschuldigte geführt, die wegen des Verstoßes gegen das KPD-Verbot in Tateinheit mit Geheimbündelei in verfassungsfeindlicher Absicht angeklagt wurden. Unser hervorragender Kollege Heinrich Hannover aus Bremen hat ein solches Verfahren beschrieben.
Der Journalist Paul Beu war vor dem 3. Strafsenat des BGH 1965 angeklagt worden. Er solle die »Wühlarbeit« der verbotenen KPD unterstützt haben, in dem er Artikel geschrieben hatte. Diese Artikel hatten sich mit den Arbeits- und Lebensbedingungen von Hafenarbeitern und Seeleuten beschäftigt. Rechtsstaatlich betrachtet, würde man die Beschreibung einer konkreten, strafbaren Handlung erwarten dürfen. Die Anklage gegen Paul Beu las sich demgegenüber allerdings so:
Der Angeschuldigte beschäftigt sich in seinen Artikeln fast ausschließlich mit der sozialen Lage der Arbeiter und Seeleute. Hierbei kommt ihm zugute, dass er durch seine Herkunft und seinen erlernten Beruf, er war selbst einige Jahre aktiver Seemann, und durch seine Tätigkeit als Funktionär der KPD mit den örtlichen Verhältnissen vertraut ist. Außerdem verfügt er über die Fähigkeit, durch geschickte Auswertung der Presse und der Fachliteratur den Anschein der Sachkunde zu erwecken. Er knüpft in seinen Artikeln immer an bestimmte tagespolitische Ereignisse an und setzt sich vorwiegend mit den Forderungen und Aktionen der Gewerkschaften auseinander. Dabei bemüht er sich, den Eindruck zu erwecken, als ginge es ihm nur darum, die Arbeit der Gewerkschaften zu unterstützen und das Los der Werktätigen zu verbessern. Tatsächlich verfolgt er jedoch das Ziel, Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft zu schüren, sie zu immer neuen Forderungen anzustacheln und die Spannung zwischen den Sozialpartnern zu vertiefen. Soweit die Vorwürfe der Anklage.
Eine Tathandlung wird damit nicht beschrieben. Heute würde man sagen, der Anklageinhalt belegt, dass der Journalist Paul Beu etwas von seinem Beruf versteht. Damals war es anders. Nach 17 Verhandlungstagen verurteilt ihn der Bundesgerichtshof im Dezember 1965 wegen Verstoßes gegen das KPD-Verbot und Geheimbündelei zu zwei Jahren Gefängnis. Im Urteil des BGH heißt es dazu:
Die Artikel des Angeklagten erfüllen als solche weder einen strafrechtlichen Tatbestand des Staatsgefährdungsrechtes noch des allgemeinen Strafrechtes, auch wenn der Angeklagte eine scharfe Sprache führt und harte Kritik übt. Die Artikel könnte auch ein nicht der verbotenen Partei angehörender Kommunist geschrieben haben, ohne sich dadurch einer Strafverfolgung auszusetzen. Der Angeklagte hat sie als Funktionär der verbotenen KPD geschrieben und sich dadurch strafbar gemacht. Seine Artikel lagen im Interesse der verbotenen Partei, deren vordergründige Nahziele durch sie gefördert wurden. Der Angeklagte ist kein blind ergebener und sturer Parteifunktionär, sondern besitzt Charme, Humor und Selbständigkeit. Er ist ein geschulter Kommunist, der von der Richtigkeit seiner politischen Anschauung überzeugt ist und dadurch als politischer Agitator besonders überzeugend wirkt. Er ist als Propagandist gefährlich.
Die von dem Kollegen Heinrich Hannover erhobene Verfassungsbeschwerde rügte die Verletzung des Grundrechts auf freie Meinungsäußerung. Der Angeklagte könne nicht deshalb bestraft werden, weil er sich im Auftrage einer illegalen Partei legal verhalte. Der 1. Senat des Bundesverfassungsgerichtes hat die Verfassungsbeschwerde 1969 zurückgewiesen. Die legale Arbeit von organisierten Kommunisten dürfe bestraft werden, weil die freiheitlich demokratische Grundordnung nicht durch die Einzelhandlung als solche, sondern dadurch gefährdet werde, dass mit ihr die Ziele der verbotenen Partei in organisierter Form weiterverfolgt werden.
Die Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien hätte einen konkreten Tatvorwurf vorausgesetzt und hätte es nicht ermöglicht, das legale Verhalten aufgrund der Nähe zu einer verbotenen Partei mit zwei Jahren Gefängnis zu bestrafen.
Die freiheitlich demokratische Grundordnung wurde durch die Justiz gegen die rechtsstaatlichen Prinzipien in Stellung gebracht. Wenn, und das wird uns noch häufiger begegnen, die Justiz gefordert ist, sich entscheiden zu müssen zwischen rechtsstaatlichen Prinzipien einerseits und dem staatlichen Geltungsanspruch andererseits, also zwischen Rechtsstaat und Staatsräson, fällt die Entscheidung zugunsten der Staatsräson und damit im Zweifel gegen den Rechtsstaat. Die Justiz dient zuerst dem Staat und dann erst dem Rechtsstaat. Das war in den 60er- und 70er-Jahren so und dass hat sich bis heute, wie wir noch sehen werden, nicht geändert. Dieser Grundsatz: Staatsräson vor Rechtsstaat gilt insbesondere dort, wo es in der Justiz ideologisch wird oder wo unbestimmte Rechtsgriffe im Spiel sind.
Ein Beispiel: Der BGH sagt, dass die Verteidigung der Rechtsordnung und die Funktionsfähigkeit einer effizienten Strafrechtspflege notwendigerweise die Beschneidung von Beschuldigtenrechten mit sich bringen, notwendigerweise eine Minimierung von Beweisverwertungsverboten und den Abbau von Beweisantragsrechten zur Folge haben muss. Auf die umgekehrte Idee, die Rechtsordnung mit mehr rechtsstaatlichen Elementen zu verteidigen, also mit mehr Beschuldigtenrechten, mit strengeren Beweisverwertungsverboten und mit mehr Beweisantragsrechten, auf diese an sich naheliegende Idee kommt der mit juristischem Sachverstand ausgestattete BGH viel zu selten. Nach meinem Verständnis lässt sich eine demokratisch-rechtsstaatliche Rechtsordnung, welche dem Recht und nicht dem Staat den Vorzug gibt, besser verteidigen und kommt auch so besser zur Geltung.

Der Strafrechtspflege und ihrer Funktionsfähigkeit ginge es übrigens sicher auch besser, wenn Angeklagte und Verteidiger den Eindruck hätten, zur Ausschöpfung aller Rechte von der Justiz ermuntert zu werden auf dem Weg, ein rechtsstaatliches und am besten noch gerechtes Urteil zu finden. Stattdessen müssen wir Verteidiger ständig in den Kategorien von Widerspruch, Rügeverlust, Rechtsmitteln, Ausschlussfristen und dergleichen denken und verteidigen.
Der Satz ›als Verteidiger von der Justiz zur Ausschöpfung aller Rechte ermuntert zu werden‹ klingt angesichts der herrschenden Verhältnisse in meinem Alltag und vermutlich auch in Ihrem Berufsalltag mit der Justiz geradezu fantastisch, um nicht zu sagen: verrückt. Man muss als BGH-Richter schon sehr der Staatsräson folgen und die rechtstaatlichen Grundsätze hintenanstellen, um auf solche abgefeimten Instrumente zu kommen, wie es beispielsweise die qualifizierte Rügepräklusion ist. Qualifizierte Rügepräklusion. Erklären Sie das mal dem Mandanten.
Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht dürfen in ihrer Strafsache Fehler machen und sich rechtswidrig verhalten. Sie lieber Mandant, nicht die Verursacher dieser Rechtswidrigkeit, müssen das dann beweisen. Sie müssen es auch rechtzeitig vorbringen lassen und das auch noch jenen gegenüber, die den Verfahrensverstoß begangen oder ihn jedenfalls geduldet haben, die über sein Vorliegen und seine Erheblichkeit entscheiden und dabei allzu gerne die Früchte des Verfahrensverstoßes nutzen, um Sie, lieber Mandant, zu überführen und zu verurteilen. Da fragt der Mandant Sie zurück, wenn er es überhaupt verstanden hat, und er fragt zu Recht und nachvollziehbar: Wo bleibt denn da der Rechtsstaat? Ich jedenfalls habe es schon oft erlebt, dass nach Vernehmung des ersten polizeilichen Vernehmungsbeamten in der Hauptverhandlung und meinem Widerspruch als Verteidiger zu verbotenen Vernehmungsmethoden dann einfach der zweite Vernehmungsbeamte erscheint und durch seine Aussage alle Verfahrensverstöße heilen will. Mit einem fairen Verfahren hat das aus meiner Sicht nichts zu tun, aber der BGH gibt dem Strafanspruch den Vorzug und nicht den Beschuldigtenrechten.
Unser Thema: »Die Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz« führt uns nun in die 70er- und in die 80er-Jahre der Bundesrepublik Deutschland. In Stuttgart-Stammheim und anderswo beherrschen die Staatsschutzkammern die Szene. Angeklagten und Verteidigern wird das Leben schwergemacht. Der verstorbene Kollege Sebastian Cobler in seinem Buch Die Gefahr geht vom Menschen aus und der bereits erwähnte Kollege Heinrich Hannover in seinem Buch Die Republik vor Gericht berichten beide übereinstimmend aus den Gerichtssälen der Republik aus den 70er- und 80er-Jahren Folgendes: Angeklagten in Staatsschutzverfahren wird ihre vom Gericht so bewertete Uneinsichtigkeit, ihre Hartnäckigkeit, ihre Rechtsfeindschaft und ihr Prozessverhalten zum Vorwurf gemacht. Uneinsichtigkeit, Hartnäckigkeit und Rechtsfeindschaft zum Vorwurf gemacht, das klingt nicht nur nach Gesinnungsjustiz, das ist Gesinnungsjustiz. Dieses und die Art der den damaligen Angeklagten vorgeworfenen Handlungen begründen für die Staatsschutzkammern der Oberlandesgerichte besondere Beschränkungen während der Untersuchungshaft, eine Straferhöhung bei der Verurteilung und deren sofortige Vollstreckung. Beide Kollegen, Sebastian Cobler und Heinrich Hannover, berichten für diese Zeit der von ihnen so beschriebenen Gesinnungsjustiz exemplarisch über den Fall des Schriftstellers Peter Paul Zahl:

Dem Autor Peter Paul Zahl wurde 1974 der Prozess gemacht. Er hatte während einer Personenkontrolle der Polizei versucht, zu fliehen. Zwei Polizisten verfolgten ihn und gaben zwölf Schüsse ab. Zahl wurde an beiden Armen verletzt. Im Laufen schoss er viermal zurück und verletzte  einen  Polizisten.  Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen versuchten Mordes und beantragte 12 Jahre Freiheitsstrafe. Das Gericht folgte dem nicht. Es verurteilte Zahl wegen fortgesetzten Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu vier Jahren Freiheitsstrafe. Zahl, so begründete es das Gericht, habe auf die verfolgenden Beamten ohne Tötungsabsicht geschossen. Ein Mordversuch liege nicht vor. Das Gericht führte dann weiter aus: Der Angeklagte kann ungeachtet seiner erstrebten politischen Ziele nicht als harter Gewalttäter eingestuft werden, dem zu Erreichung seiner Zwecke alle Mittel recht sind – auch die Vernichtung des Lebens von Beamten, die in Ausübung ihrer dienstlichen Tätigkeit handeln. Die Tötung menschlichen Lebens ist bei Zahl nicht persönlichkeitsadäquat. Auch aus der von ihm bekundeten politischen Überzeugung und der von ihm propagierten Gewaltanwendung zur Herbeiführung des Umsturzes der gegenwärtigen staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Die Einlassung Zahls, er betrachte den einfachen Polizisten nicht als seinen Feind, gegen den er mit allen Mitteln vorgehe, konnte nicht widerlegt werden. Maßgebend war hier für die Kammer vielmehr, dass die von Zahl gegebene Einlassung nicht unwahrhaft erscheint; er zeige geradezu die Züge eines Menschen, der einer übertriebenen moralischen Strenge – auch gegen sich selbst – anhängt.
Gegen diese Entscheidung legte die Staatsanwaltschaft Revision beim BGH ein – mit Erfolg: Der BGH hob das Urteil auf und verfügte ein neues Verfahren vor einer anderen Strafkammer und stimmte der Staatsanwaltschaft zu, dass Zahl nicht nur wegen Widerstandes, sondern wegen versuchten Mordes zu verurteilen sei. Im März 1976 wurde der Fall dann erneut verhandelt – Zahl erhielt diesmal wegen versuchten Mordes in zwei Fällen – jeweils tateinheitlich mit  Widerstand  gegen Vollstreckungsbeamte in einem besonders schweren Fall – eine Ge- fängnisstrafe von 15 Jahren. Der Tathergang, um den es ging, hatte sich in der Zwischenzeit nicht geändert. Geändert hatte sich die Wertung der politischen Überzeugung Zahls durch das Gericht. Das Urteil ist ein Gesinnungsurteil par excellence: Die gesetzmäßig geforderten niedrigen Beweggründe, die nachgewiesen werden müssen, um einen Angriff auf einen Menschen als Mord oder Mordversuch qualifizieren zu können, wurden aus eben der Täterpersönlichkeit Zahls konstruiert, aus deren Analyse das erste Gericht den zitierten entlastenden Schluss gezogen hatte. Das neue Urteil drehte diese Argumentation einfach um. Gewichtige Gründe sprechen gegen Zahl. Er sei, so das Gericht, von einem tiefgreifenden Hass auf unser Staatswesen ergriffen und setzt sich äußerst intolerant über ein gesellschaftliches und politisches Zusammenleben hinweg. Er hat im Übrigen auch heute noch kein Verhältnis zu seiner Tat. Auch die hier über drei Jahre andauernde Untersuchungshaft hat auf den Angeklagten bisher keinen Eindruck gemacht. Die Schwere der Tat und die Persönlichkeit erfordern daher die Verhängung einer langen Freiheitsstrafe, wobei im Vordergrund die spezielle Abschreckung des Angeklagten und die Sicherung der Allgemeinheit vor diesem Ange- klagten standen.
Unverblümt wird also die Untersuchungshaft zum Mittel der Repression, der vorgezogenen Bestrafung erklärt und die Zahl unterstellte Mordabsicht aus seiner staatsfeindlichen Gesinnung konstruiert. Die Mindeststrafe für Mordversuch beträgt drei Jahre. Mit dem Urteil von 15 Jahren – einem Gesinnungszuschlag von 400 Prozent, wie Zahl selbst es nannte – schöpfte das Gericht den Strafrahmen bis an die äußerste Grenze aus, nicht ohne zu bedauern, dass eine noch härtere Strafe gesetzlich ausgeschlossen sei. Der verurteilte Schriftsteller Peter Paul Zahl schrieb zu diesen Vorgängen ein Gedicht, das ich hier zitieren möchte:

im namen des volkes
am 24.05.1974
verurteilte mich
das volk – drei richter und sechs geschworene –
zu vier jahren
freiheitsentzug
am 12.03.1976
verurteilte mich
in gleicher sache
das volk – drei richter und zwei geschworene –
zu fünfzehn jahren
freiheitsentzug
ich meine
das sollen die völker
unter sich ausmachen
und mich
da
rauslassen

Der Kollege Sebastian Cobler hat die symptomatische Gesetzgebungspraxis und das Verhalten der Strafjustiz, welches uns bis heute begleitet, in solchen Fällen beschrieben und ist zu der Schlussfolgerung gekommen: Es zeichnet sich ein Prozess der Auflösung jener verfassungsmäßigen Grenzen staatlicher Gewaltausübung ab, die den Rechtsstaat vom Polizeistaat unterscheidet. Die klassische Rechtsstaatsidee wird in ihr Gegenteil verkehrt. Von einem Schutz des Bürgers gegen staatliche Willkür in eine immer umfangreichere Eingriffsermächtigung des Staates gegen den Bürger. Dies läuft nach legalistisch abgestützten Regeln ab, wie dies der Tradition in diesem Land entspricht. Diese Rechtsförmigkeit verleiht den jeweils ergriffenen Maßnahmen den legitimatorischen Schein, der ihre Durchsetzbarkeit und Anwendung gegenüber der Öffentlichkeit erleichtert. Die Entrechtung wird verrechtlicht. In diesem Zusammenhang stehen auch die gesetzlichen Bestimmungen aus der Zeit Mitte der 70er-Jahre zum Verteidigerausschluss, § 138a StPO, dem Verbot der Mehrfachverteidigung, § 146 StPO und die Beschränkung auf drei Verteidiger, § 137 StPO. Es wurden Trennscheiben eingeführt und das Kontaktsperregesetz. Verteidiger wurden überwacht oder aus Verfahren rausgeworfen. Es handelt sich um gesetzliche Bestimmungen, welche bis heute gelten und die inzwischen als selbstverständlich erscheinen, weil sie kaum noch hinterfragt werden und die Gründe für ihre Einführung zunehmend in Vergessenheit geraten.
Diese Zusammenschau und der Blick auf den Rechtsstaat und die Justiz könnte, zumal bei jüngeren Kolleginnen und Kollegen, den Eindruck erwecken, die Justiz sei übermächtig, der Rechtsstaat schwach und der Verteidiger womöglich als Organ der Rechtspflege nur als Verurteilungsbegleiter des Mandanten erwünscht. Dieser Eindruck kann sich auch deshalb verstärken, weil wir hier auf den Strafverteidigertagen in den letzten 20 Jahren bis heute diese Entwicklung der verrechtlichten Entrechtung immer wieder konstatieren mussten und kritisiert haben.
Tatsächlich ist die Justiz mächtig und der Rechtsstaat schwach, aber die Verteidigung ist es zum Glück nicht. Die Verteidigung ist nicht schwach, trotz aller Erschwernisse. Auf diesen Widerspruch weist Ingo Müller zutreffend hin, wenn er schreibt, je mehr Verteidigungsrechte gestrichen worden sind, desto größere Handlungsmöglichkeiten eröffneten sich den Verteidigern.
Die Verteidiger haben nämlich die ihnen verliehenen Rechte selbstbewusst und immer routinierter ausgeübt und arbeiten professioneller. Eine Reihe politischer Prozesse, von allem der von Stuttgart-Stammheim, hat den Verteidigerinnen und Verteidigern die Augen geöffnet und ihren Blick für das prozessuale Detail geschärft, ja überhaupt erst die Erkenntnis von der Wichtigkeit prozessualer Form für die Freiheitlichkeit der Gesellschaft eröffnet. Der Protest gegen die ständig sich verschlechternden Rahmenbedingungen hat die Zunft der Strafverteidiger geeint, eine Bewegung entstand, der es gelang, die Verteidigung zu professionalisieren und auch unter manchen Richtern, Staatsanwälten und Hochschullehrern die Einsicht an Wert gewinnen zu lassen, das formal prozessuale Denken für die Freiheitlichkeit der Gesellschaft zu verbreitern. Diese Entwicklung hat sich in den letzten 30 Jahren kontinuierlich vollzogen.
Über die Möglichkeit der Strafverteidigung im Gerichtssaal entscheiden also nicht ausschließlich die Prozessgesetze, sondern ganz wesentlich auch das Selbstbewusstsein der Verteidigerinnen und Verteidiger und das demokratische Bewusstsein von allen am Strafverfahren Beteiligten. Die Schlussfolgerung, die sich aus Ingo Müllers Beitrag ziehen lässt, ist also, dass es dem Rechtsstaat und den demokratischen Rechten in dieser Gesellschaft guttut, wenn Verteidigerinnen und Verteidiger im Strafprozess selbstbewusst und offensiv auftreten und in der Hauptverhandlung professionell agieren. Die Verteidigung sollte alle Möglichkeiten nutzen. Wir sind, das wissen Sie und ich, liebe Kolleginnen und Kollegen, in der Hauptverhandlung oft allein mit unseren Positionen, aber hier auf den Strafverteidigertagen sitzen Jahr für Jahr 500 bis 600 Kolleginnen und Kollegen, denen es ähnlich geht. Lassen Sie sich also nicht in Ihrer Arbeit vom Alltagstrott oder einem autoritären Vorsitzenden in der Hauptverhandlung einschüchtern. Vernetzen Sie sich weiter und schreiben Sie lieber einen Beweisantrag zu viel als zu wenig. Die Entwicklung der Strafverteidigung in den letzten 30 Jahren zeigt uns, dass sich Einmischung und das Beharren auf den formalen Rechten lohnt und dass es für uns Verteidigerinnen und Verteidiger keinen Grund zur Zurückhaltung gibt. Die Hauptverhandlung lebt vom Widerspruch. Ohne uns, ohne die Verteidigung, gäbe es keinen akkusatorischen Prozess, sondern nur einen inquisitorischen. Den Kampf um das Recht gewinnt man nicht mit Anpassung. Lassen wir uns also nicht entmutigen. Kommen wir zum letzten Teil des Vortrages:

ZUR AKZEPTANZ DES  RECHTSSTAATES IN DER JUSTIZ IN DEN LETZTEN JAHREN UND HEUTE

Ich möchte Ihnen dies anhand von drei Beispielen nahebringen und die Akzeptanz des Rechtsstaats in der Justiz oder eben besser die fehlende Akzeptanz des Rechtsstaates in der Justiz beleuchten. Da ist zum einen der Umgang der Justiz mit den Betäubungsmitteln. Da ist zum zweiten die mangelhafte Bearbeitung des rechten Terrors und der Ausübung rechtsextremer Gewalt in diesem Land durch die Justiz. Da ist zum dritten die praktisch völlige Straflosigkeit von Polizeibeamten, die in Ausübung ihres Dienstes Körperverletzungen begangen haben oder begangen haben sollen.
Zunächst: Rechtsstaat, Justiz und Betäubungsmittel.
Aus meiner Sicht ein unerfreuliches Thema. Das Betäubungsmittelgesetz gilt seit 40 Jahren und hat in Bezug auf das geschützte Rechtsgut, die Gesundheit, seine Wirkungslosigkeit erwiesen. Die Menschen konsumieren Rauschmittel völlig unabhängig von gesetzlichen Vorgaben, gesellschaftlichen Verhältnissen, überbordenden Ermittlungsmethoden und hohen Strafandrohungen. Heute konsumieren mehr Menschen Rauschmittel als jemals zuvor. Man muss das nicht begrüßen, aber man muss es feststellen und als Realität anerkennen. Zu Zeiten der Vorgängerregelung, des Opiumgesetzes, mit einer Höchststrafe von drei Jahren, gab es zu Beginn der 60er-Jahre drei Verurteilungen pro Woche in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Drei Verurteilungen pro Woche im ganzen Land also. Heute, nach 40 Jahren Geltung des Betäubungsmittelgesetzes und 15 Jahren Höchststrafe, ist rund die Hälfte aller Untersuchungshäftlinge wegen Drogenvorwürfen in Haft. Betäubungsmittelvorwürfe beanspruchen heute, wie Herr Basdorf sagen würde, die meisten der knappen Ressourcen der Justiz. Ein wirksamer Effekt durch die Strafverfolgung, etwa in Form einer geringeren Nachfrage nach illegalen Betäubungsmitteln, ist nicht zu erkennen. Das Angebot an Betäubungsmitteln ist unverändert groß und die Nachfrage ebenso. Die Prohibition ist seit 40 Jahren unwirksam. Rechtstaatlich wäre es, ein solchermaßen nutzloses Gesetz abzuschaffen oder jedenfalls entscheidend zu liberalisieren und sich darüber zu streiten. Nichts davon geschieht. Stattdessen erlauben der Gesetzgeber und die Rechtsprechung immer neue Möglichkeiten und grundrechtseinschränkende Fahndungsmethoden für die Drogenfahnder und Strafverfolger. Inzwischen gibt es Handyüberwachungen, Bewegungsbilder, Funkzellenauswertungen, GPS, Wanzen, IMSI-Catcher, Innenraumüberwachungen, heimliche Durchsuchungen, elektronische Auswertung der Datenströme, Observationen, Strukturermittlungsverfahren, Videoüberwachungen, Finanzermittlungen, ausufernde Verfallsanordnungen, Trojaner, ein weit verzweigtes V-Mann Unwesen, den Zugriff auf ausländische Server ohne Rechtshilfeersuchen und vorgefertigte Sperrerklärungen zur Aktenunterdrückung. Diese früher unbekannten und heute sämtlich erlaubten oder, wenn auch nicht erlaubt, so jedenfalls angewendeten Mittel der Drogenfahndung machen die Polizei zum Herren des Verfahrens. Staatsanwälte und Gerichte begeben sich in die Hand der Drogenfahnder des Zolls und der Polizei. Diese Sondereinheiten verhalten sich selbst äußerst konspirativ und abgeschottet, werden nicht mehr wirksam kontrolliert und erkennen nur ihre eigene Autorität an und nichts sonst. Die immer neuen und immer wirksameren Grundrechtseinschränkungen und Überwachungsmaßnahmen greifen seit Jahren erkennbar aus dem Betäubungsmittelbereich in andere Deliktgruppen über. Die Methodik und Konspiration der Drogenfahndung ist inzwischen Vorbild für die kriminalistische Arbeit auch in gewöhnlichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Auch dort wird die staatsanwaltschaftliche und gerichtliche Kontrollfunktion zunehmend eingeschränkt. Der polizeiliche Sachbearbeiter bestimmt das Geschehen und oft auch den Strafprozess und nicht mehr die Staatsanwaltschaft oder das Gericht.
Wir warten zudem seit 20 Jahren auf die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtes zur Straflosigkeit des Besitzes geringer Mengen Cannabis. Stattdessen wurde die materielle Strafbarkeit im Betäubungsmittelrecht immer weiter vorverlagert. Nach der Rechtsprechung des BGH reicht das ernsthafte Gespräch über ein Drogengeschäft zur Verwirklichung des Tatbestandes des vollendeten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. Solche ansonsten geltenden rechtsdogmatischen Institute wie Rücktritt oder Versuch sucht man in der Rechtsprechung zum Betäubungsmittelgesetz ebenso vergeblich, wie die Notwendigkeit der tatsächlichen Existenz von Betäubungsmitteln als Bedingung einer Verurteilung.
Die Drogenprohibition minimiert strukturell rechtsstaatliche Prinzipien und gefährdet damit den Rechtsstaat. Die Justiz und der Gesetzgeber verweigern eine kritische Bestandsaufnahme. Die Gerichte lassen zudem im Regelfall grenzwertige oder rechtswidrige Ermittlungsmethoden der Polizei sanktionslos durchlaufen und werden ihrer Kontrollfunktion nicht mehr gerecht mit dem Abwägungsargument: je größer der Verdacht auf eine gehandelte Drogenmenge, desto geringer die Voraussetzung zur Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und Beschuldigtenrechte. Die Gesetzgebung ist ebenfalls kein Korrektiv für diese Entwicklung. Im Betäubungsmittelbereich folgt das Gesetz der polizeilichen Praxis, nicht die polizeiliche Praxis dem Gesetz. Eine wirksame gerichtliche oder staatsanwaltschaftliche Kontrolle der vielfältigen polizeilichen Ermittlungsmethoden findet nicht statt.

Kommen wir zum Thema des rechten Terrors und der mangelhaften justiziellen Bearbeitung rechtsextremer Gewaltausübung. Am 17. April 2013, in sechs Wochen also, beginnt vor dem Münchener Oberlandesgericht der Prozess um die mutmaßlichen Verbrechen des Nationalsozialistischen Untergrundes. Mehrere Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Ländern sind aktuell damit befasst, das strukturelle Versagen der Sicherheitsbehörden und der Justiz zu beleuchten. Es wird, so steht zu befürchten, nicht viel dabei herauskommen. Der Skandal wird keine angemessenen Folgen haben. Der rechte Terror des NSU konnte sich aufgrund der Blindheit, des reaktionären Weltbildes und der Gesinnung von Ruhe und Ordnung in den Diensten und den Justizbehörden zehn Jahre lang ungehindert ausbreiten. Der NSU und seine mutmaßlichen Taten waren aber nicht alles. Tatsächlich sind seit der Wiedervereinigung im Jahre 1990 bis 2011 in der Bundesrepublik Deutschland 182 Menschen Opfer rassistischer Gewalt und von Rechtsextremisten und Neonazis getötet worden. Betroffen waren Migranten, Asylsuchende, Obdachlose, Homosexuelle, Linke, couragierte Bürger, Antifas, Punker, Kneipenbesucher, Kinder, Gelegenheitsbekanntschaften und abtrünnige Skins. Die Justiz, und hier insbesondere die Staatsanwaltschaften, bestritten und bestreiten in der Mehrzahl der Fälle einen rechtsextremen oder nazistischen Hintergrund oder solche Motive für diese Taten. Alkohol, jugendlicher Übermut, allgemeine Gewaltbereitschaft werden stattdessen als Ursachen von den Strafverfolgern bemüht. Bei manchen Fällen hat die Polizei vor Ort sogar zugeschaut und spät oder überhaupt nicht eingegriffen.
Die  bundesdeutschen Strafverfolgungsbehörden haben hierzu eine strukturelle und tief verwurzelte Bereitschaft offenbart, die tödliche rechtsextreme Gewalt in diesem Lande zu bestreiten, zu ignorieren oder mindestens klein zu reden und machen damit deutlich, dass sich auf diesem Gebiet in der Justiz nichts geändert hat. Schon zu Zeiten der Weimarer Republik zeichneten sich Richter und Staatsanwälte durch Nähe und Nachsicht gegenüber rechten Gewalttätern, Nazis und Mördern aus. Die bundesdeutsche Justiz scheint diese Lektion der Geschichte in ihrer Gesamtheit keineswegs gelernt zu haben. Mit rechtsstaatlichen Verhältnissen im Umgang mit rechtsextremer Gewalt hat es jedenfalls nichts zu tun, wenn angesichts von 182 Toten in den letzten 20 Jahren polizeiliche Ermittler und zuständige Staatsanwälte in den aktuellen Untersuchungsausschüssen forsch behaupten, sie hätten sich im Nachhinein nichts vorzuwerfen und sie hätten auch nicht unprofessionell gearbeitet. Diese Äußerungen sind angesichts all der Toten und der justiziellen Struktur, rechtsextreme Gewalt nicht als Problem zu begreifen, schlicht unerträglich. So lange Nachdenklichkeit und Scham in den beteiligten Diensten und Behörden, bei der Polizei und der Justiz offenbar minoritär sind und der Vertuschung der Vorzug geben wird, bleibt jedenfalls nur die Abschaffung der Geheimdienste und des Verfassungsschutzes. Die Vernichtung von Akten, das Unwesen im Umgang mit V-Leuten und die strukturell bedingte Unfähigkeit und Unwilligkeit lassen von diesen Diensten keine Aufarbeitung erwarten. Was die Justiz aus den kommenden Verfahren lernt, wird sich noch zeigen müssen.

Das dritte Beispiel aus aktueller Zeit für das Prinzip Staatsräson vor Rechtsstaat ist der faktische Ausfall der Strafverfolgung gegenüber Polizeibeamten. Die Justiz ist nicht in der Lage und weigert sich, Verfahren gegen beschuldigte Polizeibeamte in gesetzmäßiger Weise durchzuführen. Strafverfahren gegen Polizeibeamte wegen Körperverletzung im Amt enden so gut wie nie mit einer Verurteilung. Tobias Singelnstein von der Freien Universität Berlin hat diese Praxis untersucht. Im Jahre 2008 gab es ausweislich der polizeilichen Kriminalstatistik in der Bundesrepublik Deutschland 2.314 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt. Dem standen 2008 94 Anklagen mit 32 Verurteilungen gegenüber. 4 Prozent der angezeigten Fälle wurden also angeklagt, knapp 1,4 Prozent der Fälle führten schließlich zu Verurteilungen. Es wurden daher sage und schreibe 98,6 Prozent aller Verfahren eingestellt. Effiziente Strafrechtspflege wird man das nicht nennen können. In einem Drittel der Fälle der angezeigten Polizeigewalt konnte ein beschuldigter Beamter nicht einmal ermittelt werden. Die verletzten Opfer polizeilicher Gewalt, also die Anzeigeerstatter, haben oft nur wenige oder keine Anhaltspunkte für die Identität des Polizeibeamten. Häufig werden mehrere Beamte gleichzeitig eingesetzt oder es treten gleich Hundertschaften auf, wie bei Demonstrationen, die Bereitschaftspolizeiabteilung und die sog. BEFA-Trupps, Beweis- und Festnahmeeinheiten der Polizei. Aufgrund ihrer Vermummung und ihrer einheitlichen Schutzkleidung und mangels Kennzeichnung sind diese Beamten praktisch nicht zu identifizieren. Eine nachträgliche Feststellung ihrer Person ist oft nicht möglich. Ein weiteres Strukturproblem der Verfolgung polizeilicher Gewalt gegen Bürger ist die Tatsache, dass die Ermittlungen in diesen Verfahren von der Polizei selbst durchgeführt werden. Im Verfahren gegen Kollegen entwickelt die Polizei keinerlei Eifer, sondern begnügt sich mit dem lapidaren Hinweis der Vorgesetzten der beschuldigten Beamten und der betroffenen Einheiten, dass konkrete Beschuldigte nicht ermittelt werden konnten. Falls die Hürde der Identifizierung doch genommen werden konnte, ergibt sich dann eine zumeist schwierige Beweislage. Sachbeweise werden nicht erhoben und mangels sonstiger Beweismittel steht meist Aussage gegen Aussage. Es geschieht nie, dass sich Polizisten finden, die, obwohl sie Tatzeugen sind, gegen die eigenen Kollegen aussagen. Dieses Kartell des Schweigens bei der Polizei funktioniert perfekt. Corpsgeist, innerpolizeilicher Druck und die Angst, als Kameradenschwein zu gelten, tun ihre Wirkung. Wenn überhaupt ausgesagt wird, geschieht dies nur, um beschuldigten Kollegen zu helfen, sie zu decken oder sie zu entlasten.
Dieses findet, nach meiner Erfahrung, immer die Billigung der Vorgesetzten, und es finden insoweit häufig gemeinsame Dienstbesprechungen statt, um Angaben und Aussagen aufeinander abzustimmen.
Ein beschuldigter Polizist, der identifiziert ist und dem konkrete Handlungen zugeordnet und nachgewiesen werden können, ist also eine ausgesprochene Seltenheit. Die beschuldigten Beamten befinden sich im Übrigen in einem institutionellen und häufig auch persönlichen Näheverhältnis zu den ermittelnden Staatsanwälten. Man kennt sich, man arbeitet zusammen, man hilft sich. Man hat die gleichen Gegner und oft gemeinsame Überzeugungen. Zudem gelten Aussagen von Polizeibeamten bei den Staatsanwaltschaften und den Gerichten als besonders glaubwürdig. Angeblich sind Polizisten als Berufszeugen ja allen anderen überlegen. Wir als Verteidiger wissen, dass das nicht stimmt und auch empirisch nicht belegt ist. Im Ergebnis steht auf der einen Seite die geradezu geadelte Aussage des beschuldigten Beamten, und um diese zu erschüttern, werden nun andererseits von den Staatsanwälten und Gerichten erhöhte Anforderungen an die Beweismittel des geschädigten Bürgers zur Überführung des beschuldigten Polizisten gestellt. Zudem gehen Staatsanwälte und Richter unabhängig vom Geschehen von der Rechtmäßigkeit des polizeilichen Handelns aus. Die Verurteilungsquote, ich sagte es schon, liegt bei unter 1,5 Prozent. Der prügelnde Polizist muss nicht mit ernsthaften Konsequenzen rechnen, sondern kann sich auf die Justiz, auf seine Justiz verlassen. Für die Anzeigeerstatter endet die Angelegenheit jedoch häufig fatal. Regelmäßig werden die Opfer polizeilicher Gewalt mit Gegenanzeigen von der Polizei wegen Widerstandes und angeblicher Körperverletzung überzogen. Es kommt deshalb häufig zu Gerichtsverfahren und zu Verurteilungen. Eine weitere Besonderheit ist noch erwähnenswert. Wenn nämlich das Verfahren gegen die Polizisten eingestellt worden ist, erhebt die Staatsanwaltschaft, so erleben wir es regelmäßig in Hamburg, Anklage gegen die Anzeigeerstatter, weil ja nunmehr feststehe, dass keine Straftat vorliege und es sich somit um eine falsche Verdächtigung handle. Es finden sich leider immer auch noch Richter, die solche Anklagen zulassen und die Geschädigten der Polizeigewalt wegen falscher Verdächtigung verurteilen. In Hamburg werden mehr Geschädigte von Polizeigewalt wegen falscher Verdächtigung verurteilt als umgekehrt Polizisten wegen Körperverletzung im Amt. Nirgends ist die Justiz erfolgreicher und der Rechtsstaat schwächer als bei Verfahren gegen die eigenen Leute, seien es Polizisten, Staatsanwälte oder Richter. Staatsräson vor Rechtsstaat eben.
Ich möchte schließen mit einer Sequenz aus dem wunderbaren Billy Wilder Film: Zeugin der Anklage. Sie alle kennen den Film mit Marlene Dietrich und Charles Laughton als Anwalt Sir Wilfrid.
Charles Laughton sagt am Ende eines langen und streitbaren Lebens als Verteidiger den bemerkenswerten Satz:
»In einem Gerichtssaal gibt es nur zwei Ehrenplätze – auf einem sitzt schon der Angeklagte«.
Bemühen wir uns also, den zweiten Ehrenplatz im Gerichtssaal angemessen auszufüllen.

Martin Lemke war Rechtsanwalt in Hamburg und langjähriges RAV-Vorstandsmitglied sowie Kassenwart.