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Aktuelles zur Prozessbeobachtung in der Türkei

FORTSETZUNG DES KCK-ANWALTSVERFAHRENS UND URTEIL IM ÇHD-VERFAHREN

Nele Kliemt

Seit Beginn des Strafverfahrens gegen 46 Anwälte und Anwältinnen im Jahr 2012 wegen angeblicher Mitgliedschaft in der KCK, der ›Union der Gemeinschaften Kurdistans‹ (Koma Civakên Kurdistan), wird der Prozess international beobachtet. Der RAV ist zusammen mit der Vereinigung Berliner Strafverteidiger und dem Deutschen Anwaltsverein Teil der deutschen Delegation.(1)

Den insgesamt 46 Angeklagten wird vorgeworfen, innerhalb der KCK ein ›Führungskomitee‹ (Önderlik Komitesi) gebildet zu haben. Die KCK ist in der Türkei als terroristische Vereinigung eingestuft und verboten, so dass der Vorwurf auf Mitgliedschaft bzw. Anführung einer terroristischen Vereinigung lautet. Das sog. KCK-Anwaltsverfahren wird von den Beteiligten selbst bevorzugt »Öcalan lawyer’s trial« genannt, oder auch »Asrın Hukuk Bürosu trial«, da allen Angeklagten gemein ist, dass sie in ihrer Funktion als Rechtsanwält*innen den seit 2009 inhaftierten Anführer der PKK/KCK, Abdullah Öcalan, auf der Gefängnisinsel Imralı besucht haben. Die Anmeldungen für diese Besuche mussten damals auf Anordnung der Staatsanwaltschaft über die Anwaltskanzlei Asrın laufen, so dass diese Kanzlei nunmehr im Mittelpunkt der Tatvorwürfe steht.

SCHLEPPENDER PROZESSVERLAUF UND BESTÄNDIGER RICHTERWECHSEL

Der Prozess läuft nur schleppend. Bereits im März 2014 sind die letzten Angeklagten – nach zweieinhalb Jahren – aus der Untersuchungshaft entlassen worden, und die Fortsetzung der Hauptverhandlung erfolgt seit geraumer Zeit nur in Abständen von vier Monaten. Am Tag vor dem nächsten Gerichtstermin weiß daher keiner der Beteiligten, mit denen ich spreche, was vom nächsten Termin zu erwarten ist. Ein erster Blick in den Verhandlungssaal der 19. Strafkammer des Istanbuler ›Gerichts für schwere Straftaten‹ verrät am Morgen des 5. März 2019 dann, dass die mit drei Richtern und Richterinnen besetzte Kammer seit der letzten mündlichen Verhandlung am 30. Oktober 2018 wieder einmal neu besetzt worden ist. Richtig überraschen tut der Wechsel auf der Richterbank jedoch niemanden. Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass in dem seit dem 16. Juni 2012 laufenden Strafverfahren Richter *innen ausgetauscht werden. Was deutsche  Strafverteidiger*innen überrascht, weil § 226 StPO die »ununterbrochene Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Personen« in der Hauptverhandlung vorschreibt, so dass bei einem Wechsel auf der Richterbank im laufenden Prozess das gesamte Verfahren neu aufgerollt werden müsste. Auch in der Türkei ist das ein rechtliches – Problem, dem aber bisher kaum Rechnung getragen wird.(2) Skepsis scheint jedoch angebracht, schaut man sich das sog. ÇHD (Çağdaş Hukukçular Derneği)-Verfahren gegen Kolleginnen und Kollegen vor der 37. Strafkammer des Istanbuler ›Gerichts für schwere Straftaten‹ in Silivri an: Dort wurden zwar die erneuten Verhaftungen noch von den alten Richtern angeordnet, dann aber wurden zwei Richter – durch bereits im Ermittlungsverfahren tätige Richter – ausgetauscht. Ein solcher Austausch bedeutet selbstredend eine ganz klare Einflussnahme auf das Verfahren und ist nach deutschem Rechtsverständnis auch ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter.(3)

INTERNATIONALE PROZESSBEOBACHTUNGS- DELEGATIONEN

Im Justizpalast Çağlayan in Istanbul treffen derweil die internationalen Delegationen ein. Da seit dem Putschversuch im Juli 2016 insgesamt 1.546 Anwältinnen und Anwälte in der Türkei strafrechtlich verfolgt, fast 600 Anwälte verhaftet und 274 davon zu langen Haftstrafen verurteilt wurden,(4) ist die Aufmerksamkeit auf das seit nunmehr bereits über sechs Jahre laufenden Verfahren nicht mehr ganz so groß. Nichtsdestotrotz sind etwa 15 Kolleginnen und Kollegen aus Frankreich, den Niederlanden und Deutschland zur Prozessbeobachtung angereist. Bei dem Justizpalast handelt es sich um einen dystopisch aussehenden runden Bau, der sich über gut zehn Stockwerke (ich habe nicht gezählt) neben Schnellstraßen in den Himmel reckt.

TEILERFOLG DER VERTEIDIGUNG

Erwartungsgemäß passiert an diesem Tag nicht viel im sog. KCK-Anwaltsverfahren. Der zur erneuten Anhörung geladene Zeuge der Anklage, Rechtsanwalt Irfan Dündar, der 2012 zusammen mit zahlreichen anderen festgenommen worden war und in Untersuchungshaft umfassend gegen seine Kollegen ausgesagt hatte, seine Aussage zwischenzeitlich allerdings widerrufen haben soll, ist nicht erschienen. Das Gericht entscheidet, dass Dündar zum nächsten Termin am 16. Juli 2019 zwangsweise vorgeführt werden soll. Die Verteidigung argumentiert, der Anklageschrift ließen sich keine strafbaren Handlungen der Angeklagten entnehmen, ihnen werde vorgeworfen, ihren Beruf engagiert ausgeübt zu haben. Die Anschuldigungen seien konstruiert, die Beweise unbrauchbar. Die Verteidigung geht davon aus, dass das Verfahren dazu dienen sollte, die damaligen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der PKK/KCK zu sabotieren. Die Verteidigung hat Übersichten vorbereitet aus denen sich ergibt, dass Polizisten, Staatsanwälte und Richter, die an den Ermittlungsverfahren beteiligt waren, zwischenzeitlich im Rahmen der Strafverfolgung gegen Anhänger der Gülen-Bewegung (in der Türkei FETÖ genannt) ihrerseits angeklagt sind.(5) Die Stimmung ist entsprechend gut, als das Gericht nach kurzer Beratungspause verkündet, dass weitere Akten beigezogen werden sollen, sobald die Verteidigung ihren Antrag vervollständigt hat.

MASSIVE URTEILE IM ÇHD-VERFAHREN

Am 20. März 2019 erreicht uns in Deutschland dann die erschütternde Nachricht, dass in dem bereits erwähnten ÇHD-Verfahren nach wenigen Verhandlungstagen gegen 18 Anwälte und Anwältinnen das Urteil gefällt und Haftstrafen zwischen zwei und knapp unter 19 Jahren verhängt wurden. Der ÇHD, ein Anwaltsverein, der sich der Verteidigung der Menschenrechte in der Türkei verpflichtet hat und zusammen mit dem RAV Mitglied in der Vereinigung Europäischer Anwälte (EDA) ist, wurde bereits im November 2016 verboten.(6) Den Angeklagten wird Mitgliedschaft in der DHKP-C, der sozialistischen ›Revolutionären Volksbefreiungspartei-Front‹ vorgeworfen. Der Präsident des ÇHD, Rechtsanwalt Selçuk Kozağaçlı, erhielt 11 Jahre und drei Monate Haft.(7) Der RAV war selbst nicht an der Beobachtung des Verfahrens beteiligt, doch berichteten internationale Beobachter*innen übereinstimmend, das Gericht habe die Anträge und Erklärungen der Verteidigung ignoriert und auch sonst in eklatanter Weise gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstoßen:(8) Amnesty International erklärte dazu: »Today’s convictions are a travesty of justice and demonstrate yet again the inability of courts crippled under political pressure to deliver a fair trial«.
Der RAV plant zum nächsten Gerichtstermin im KCK/Öcalan-Anwaltsverfahren am 16. Juli 2019 wieder mit einer Delegation vertreten zu sein. Es ist geplant, den Prozess weiter zu beobachten. Wer Interesse hat mitzufahren, wende sich bitte an die Geschäftsstelle des RAV.

Nele Kliemt ist Rechtsanwältin in Berlin und Mitglied im erweiterten Vorstand des RAV. Zwischenüberschriften wurden von der Redaktion eingefügt.

(1) Vgl. auch Anne-Kathrin Krug (2015): Prozessbeobachtung des KCK-Verfahrens in Istanbul‹, in: RAV InfoBrief 35(110); Franziska Nedelmann (2017): ›Hayir Diyor‹, in: RAV Info- Brief 37(113).
(2) So wird es in der Türkei in der juristischen Wissenschaft und Literatur als ein Problem angesehen, wenn Richter nicht die gesamte Hauptverhandlung (HV) über anwesend waren, aber bisher hatten Revisionen mit diesem Argument kaum Erfolg, da vom Kassationshof (Yargıtay) stets argumentiert wurde, dass die Richter durch die Protokolle von dem gesamten Inhalt der HV Kenntnis hätten und dies dem Yargıtay bisher ausreicht.
(3) Summary of Trial against 20 Lawyers, https:/https://eldh.eu/wp-content/uploads/2019/03/SUMMARY-OF-TRIAL-AGAI%CC%87NST-20-LAWYERS.pdf [19.04.2019].
(4) Human Rights Watch, Lawyers on Trial, Abusive Prosecutions and Erosions of Fair Trial Rights in Turkey, 2019.
(5) Vgl. auch RAV InfoBrief 37(113).
(6) Vgl. Ceren Uysal (2017): Türkische Rechtsanwält*innen weiterhin inhaftiert, in: RAV Info-Brief 37(114).
(7) Vgl. die deutsche Fassung der EDA-Erklärung in diesem Heft sowie die englische Version unter: https://eldh. eu/2019/03/21/18-turkish-lawyers-sentenced-to-long- prison-terms/ [19.04.2019].
(8) Vgl. u.a. Pressemitteilung des DAV 03/19 v. 5. April 2019.