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#unteilbar_9 | »Ein Schiff, mit dem über 14.000 Menschenleben gerettet wurden«

Philipp Külker

WOW, der absolute Wahnsinn, wie viele Leute sich heute zusammengefunden haben, um für eine solidarische und gemeinschaftliche Gesellschaft auf die Straße zu gehen.

Es scheint so, als wären hier sehr viele Menschen bereit, der derzeitigen Politik der Spaltung entgegenzutreten. Wie auch Ihr, sind wir seit langem bereit!

Jugend Rettet und die übrigen zivilen Seenotrettungsorganisationen sind bereit, wieder auf das Mittelmeer rauszufahren, um das Sterben vieler Menschen zu verhindern. Doch die EU hat im Sinne ihrer Abschottungspolitik andere Pläne – und so wird wissentlich und willentlich das Sterben an den europäischen Außengrenzen für eine rechtspopulistische Symbolpolitik in Kauf genommen.

In Folge dieser Symbolpolitik – Ihr habt es in den letzten Tagen und Wochen mitbekommen – ist mittlerweile fast die gesamte zivile Seenotrettungs-Flotte aus dem Einsatzgebiet verbannt worden.

Mit unterschiedlichsten Methoden – aber immer einer perfiden und geschickt angewendeten protektionistischen und nationalistisch geprägten Politik folgend – werden Schritt für Schritt die unabhängig beobachtenden NGOs aus dem Geschehen gedrängt. Alle arbeiten mit der Hilfe von unermüdlichen Freiwilligen.

Bereits im letzten Jahr wurde unser Schiff, die IUVENTA, beschlagnahmt und liegt seitdem unter fadenscheinigen Vorwürfen und unnötig in die Länge gezogenen haltlosen Ermittlungen im Hafen – und rostet vor sich hin. Ein mit Spendengeldern finanziertes Schiff, mit dem in den letzten drei Jahren über 14.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet wurden, wurde von italienischen Behörden im Auftrag der EU an die Kette gelegt. Um unsere IUVENTA festzusetzen, wurde ein Apparat in Bewegung gesetzt, der an einen schlechten Krimi erinnert:

• Telefone von Freiwilligen wurden abgehört.
• Die Brücke unserer IUVETNA wurde verwanzt.
• Es wurden verdeckte Ermittler auf einem anderen NGO-Schiff eingeschleust, um uns zu überwachen.

What the Fuck! Geht‘s noch!? Die italienischen Behörden haben schon 2016 tief in die Kiste repressiver Ermittlungsmaßnahmen gegriffen, um Seenotretter*innen loszuwerden. Nur um das klarzustellen: Es gibt bis heute keine Nachweise einer vermeintlichen Straftat. Der gesamte Apparat ist in vollem Gange, und nach über einem Jahr hat die Justiz keine Belege für ihre Vorwürfe vorbringen können oder wollen. Und die Methode setzt sich fort.

Denn war es bisher vor allem Jugend Rettet und die IUVENTA, die von solchen Repressionen betroffen war, betrifft es seit Juli 2018 auch die anderen Organisationen. Zuletzt war es die Aquarius, der die Flagge entzogen wurde. De facto sind hier gerade einsatzbereite Schiffe vor Ort, die nicht rausfahren dürfen, während im Mittelmeer weiterhin Menschen sterben. Es werden europäische Häfen verschlossen für Menschen, die nach Schutz und einem sicheren Ort zum Leben oder Überleben suchen. Gleichzeitig wird in Italien der nächste Schritt gegen Seenotretter*innen eingeleitet. In Trapani eröffnete die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren gegen 22 Aktivist*innen von Seenotrettungs-NGOs – unter denen auch zehn Crewmitglieder der IUVENTA sind – wegen angeblicher »Beihilfe zur illegalen Einreise«.

Blockiert werden jetzt nicht ›nur‹ die Organisationen, sondern es wird ganz gezielt gegen Einzelpersonen vorgegangen. Sinn dieser Maßnahmen? Abschreckung, sich politisch und praktisch für seine Überzeugungen einzusetzen. Wir sollen nicht mehr sehen und hören, was geschieht. Wir sollen uns fernhalten. Sonst droht Strafe. Doch wir werden uns diesen Einschüchterungen nicht beugen und werden weitermachen! Wir fordern weiterhin die sofortige Freilassung unserer IUVENTA und die sofortige Einstellung der Ermittlungen gegen unsere Crew!

Die genannten Beispiele sind nur einige Aspekte einer vollkommen entmenschlichten Migrationspolitik, die die EU und ihre Mitgliedstaaten vorantreiben. Die Kriminalisierung trifft nicht nur uns Seenotretter*innen, sie trifft alle Menschen, die Widerstand gegen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus formen und Solidaritätsstrukturen aufbauen – die Seenotrettung betreiben, Abschiebungen verhindern und sich für fundamentale Menschenrechte einsetzen.

Die Situation der Seenotrettungsorganisationen ist auch ein Angriff auf uns alle, die für eine solidarische Gesellschaft kämpfen. Vor allem aber trifft es Menschen, die auf Grund ihrer Migration oder Flucht kriminalisiert werden. So lange keine regulären Einreisewege geschaffen sind, werden sich wohl noch viele in ein kleines, überfülltes Boot an der tödlichsten Grenze der Welt setzen. Und das hat etwas mit Herkunft und den ›Konstrukten‹ zur Hautfarbe zu tun.

Europa macht immer weiter in kolonial-rassistischer Kontinuität. Wären es weiße Menschen, die in den Booten säßen, wäre der Aufschrei groß. Aber weil es schwarze Personen und People of Color sind, wird die Frage nach der Berechtigung von Rettung aus Not gestellt. Das muss ein Ende haben!

Umso toller ist es heute – und in den vergangenen Wochen –, eine Bewegung zu sehen, die genau gegen diese Missstände auf die Straße geht. Die heute und hoffentlich noch ganz lange ein positives Zeichen des Widerstands dagegensetzt.

• Hier finden sich Menschen, die keine Lust auf eine Festung Europa haben.
• Hier finden sich Menschen, die an genau diese praktische Solidarität glauben und ein Zeichen gegen die Politik der geistigen und räumlichen Abschottung setzen wollen.

Wir wehren uns kategorisch dagegen, dass überhaupt zu Debatte steht, ob Menschenleben gerettet werden dürfen. Wir haben uns heute hier versammelt, um gegen die offensichtlich gescheiterte Migrationspolitik der EU und gegen Rassismus, Antisemitismus, Sexismus und Fremdenfeindlichkeit zu demonstrieren.

Wir gehen für die Rechte von Geflüchteten, für die Seenotrettungs-NGOs und für ein offenes Europa auf die Straße. Wir wollen zeigen, dass wir, die hier heute auf der Straße stehen, wir, die wir uns für die Einhaltung und Umsetzung grundlegender Menschenrechte einsetzen, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Deswegen sagen wir, als Jugend Rettet:

Seid weiterhin laut! Seht hin! Seid aktiv und werdet aktiv für jene, die keine Lobby haben! Setzt Euch dafür ein, dass das Sterben vor den Toren Europas ein Ende hat! Aktiviert Eure Mitmenschen! Streitet mit den BESSEREN Argumenten! Spendet für die Seenotrettungsorganisationen und jene Individuen, die sich juristischen Repressalien ausgesetzt sehen! Schließt Euch zusammen und fordert weiterhin: Berlin: Öffne Deinen Hafen!

Gemeinsam werden wir weiter dafür kämpfen, dass das fundamentale Recht auf Leben und Sicherheit praktische Geltung hat – egal ob auf dem Festland oder auf dem Meer. Denn: Seenotrettung ist kein Verbrechen! Free IUVENTA!

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Philipp Külker ist Sprecher von Jugend Rettet.